Perlen und schwarze Tränen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Warten

Die vergoldete Biedermeieruhr an der Wand wies mit schwarzen Zeigern halb sechs. Wir sollten uns um halb sechs treffen. Ich wußte, Jane würde nicht vor dreiviertel sechs kommen, bei diesem Nebel! Ich machte es mir bequem. Es würde ja nicht auf lange sein, da wir für heute abend Theaterkarten hatten, und Jane kam gewöhnlich nie mehr als eine Viertelstunde zu spät, wenn es ins Theater ging. Ich habe auf sie schon sehr oft und sehr lange gewartet. Neben mir ein Offizier der Handelsmarine. Neben ihm ein junger Mann mit Schnurrbart, ein recht unangenehmer Mensch, hübsch und eingebildet. Neben ihm eine Dame in mittleren Jahren, einen Turban um den Kopf, die aussah wie eine Ausländerin.

Sonderbar, sich vorzustellen, daß Männer in Uniform heutzutage Vorteile hatten vor unsereinem. Wie anders doch in meiner Jugend! Ich konnte diesen Offizier der Handelsmarine gut leiden. Ich hätte es mir nicht einfallen lassen, seinen vergangenen Wartestunden prüfend nachzugehen. Ich war so gut wie sicher, daß er auf ehrenhafte Weise beigetragen hatte zur Endsumme der verwarteten Zeit auf Erden.

Er hieß höchstwahrscheinlich Charley, jeder zweite Mensch in London hieß Charley. So hatte auch der Mann geheißen, dessen Blumen zu Weihnachten im vergangenen Jahr vor meinen Blumen gekommen waren. Mach dir nichts draus. Dieser Charley hier hatte auf seinen Geleitzug gewartet. Die Schiffe sammelten sich, sein Schiff war als letztes eingetroffen. Trotzdem mußten sie noch drei Tage länger kreuzen, bevor die Zerstörer kamen. Das Wetter war schuld. Er hatte fast vierundzwanzig Stunden lang Deck und Logis inspiziert; und dann begann er zu saufen, mit dem ersten Maat und dann mit dem zweiten Maat. Sie soffen, und die Leute unter Deck sangen ihre Seemannsliedchen. Der Nebel hatte das ganze Geschwader in der Tasche, der Nebel war schuld. Mein Freund dachte an sein Haus in den Midlands, in der Seitengasse einer Kleinstadt, und an seine Schwestern, die er liebte mit mehr als brüderlicher Liebe. Schließlich kamen natürlich die Zerstörer; kein einziger Schuß wurde gefeuert, keine Wasserbombe geworfen. Und da war er auch schon, sein Freund, auch ein Offizier, von der Panzerwaffe, ein Draufgänger; größer und stärker als mein Kamerad aus der Handelsmarine. Sie gingen die Treppe hinauf, zur Bar.

Ich wartete noch immer. Auch der hübsche junge Mann wartete noch. Er sah mehrmals auf seine Taschenuhr und verglich die Zeit seiner Taschenuhr mit der Zeit der Biedermeieruhr an der Wand. Die Zeit ist ein relatives Ding, sagt Professor Einstein. Und Dunne. Und J. B. Priestley schreibt dann gute kleine Theaterstücke darüber. Das Unglück ist: ich weiß. Ich weiß fast alles. Falsch – ich weiß nichts von Physik und Biologie und Chemie. Ich bin ein wenig hinter der Zeit zurück. Jane aber auch.

Der hübsche junge Mann stand auf und ging auf und ab. So hatte er auf die Prüfungskommission gewartet; in seiner Heimat auf dem Kontinent, dort hatte man noch mündliche Prüfungen. Die Herren hatten ihn nach der Prüfung allein gelassen; draußen, in einem kleinen, halbleeren Zimmer sprachen sie dann über das Wetter und ließen die Kandidaten warten. In Zivilrecht war er ganz gut gewesen; was half das aber, wenn er in Strafrecht schwach war? Was half das alles, wenn man doch nicht wußte, ob die Faschisten dich überhaupt haben wollten, trotz guter Resultate und aller möglichen Verdienste? Dieser junge Mann war damals sogar hübscher gewesen, als er jetzt nach sechs Jahren Verbannung ist. Und er war damals kein solcher Zyniker, obzwar er noch hübscher war. Fräulein Eitelberg, Vorname Else, Fräulein Else Eitelberg, hatte damals zu ihm gesagt: Zuerst mach deine Prüfungen – dann werden wir sehen. Jetzt kam das Corpus Professorum zurück, und der jüngste von ihnen lächelte. Der junge Mann war durchgekommen, und Fräulein Eitelberg zuckte die Achseln und sagte: Zuerst such dir Arbeit – dann werden wir sehen. Er konnte keine Arbeit kriegen, und plötzlich machte er sich auf eine lange Reise. Er setzte sich, eine Sekunde lang, und stand wieder auf und ging in die Telephonzelle. Wahrscheinlich wünschte er sich zu vergewissern, ob sie schon von zu Hause fortgegangen war. lch wartete noch immer. Sollte ich versuchen, sie anzurufen? Sie mußte schon gegangen sein. Sinnlos. Ich fragte mich, ob ich das Wechselgeld fürs Telephon bei mir hatte. Ich werde meine Zeitung weiterlesen. Es war ja Krieg. Rundstedt hatte einen Durchbruch gemacht, die Nachrichten waren scheußlich. Die Dame mittleren Alters starrte in die leere Luft. Wien? Prag? Was für ein Krieg das nur war! Wir alle waren Abenteurer gegen unsern Willen, ohne jegliche Begabung für Abenteuer. Drake und Raleigh waren nicht Frauen von Geschäftsleuten mittleren Alters. Sie hatte endlose Tage auf ihr Visum gewartet, sie hatte wochenlang auf dem Konsulat herumgesessen, ihr Kind war schon in England, und in ein paar Tagen würde man die Grenzen sperren, ein Krieg würde ausbrechen – wer spricht wieder von Krieg? Sie bekam schließlich ihr Visum, und sie kam auch nicht zu spät, es gab sogar noch einen Zug, nachdem ihr Zug abgegangen war. Doch welche Angst! Wie ihr Herz klopfte, als der Beamte an der Grenze mit dem Paß in ein anderes Zimmer verschwunden war! Sie starrte in die leere Luft.

Ich wartete noch immer. Ich vermochte nicht zu lesen, die Buchstaben tanzten mir vor den Augen. Sie ist eine gute Tänzerin. Ich sollte mit ihr öfter tanzen gehn. Ich aber denke nur immer an den großen Tanz, der da heißt: »Der Tanz der Liebe und des Todes«, im Bett und unter der Erde.

Ich hatte gewartet: Nummer 2 am Geschütz, Weltkrieg Nummer 1. Der diensttuende Offizier ließ uns »Habt-Acht!« stehen, es war ein heißer Tag. Da standen wir; Nummer 2 durfte sich nicht niedersetzen, niemals. In der alten Armee herrschte Disziplin.

Ich hatte gewartet; ich hockte in dem seichten Graben und wartete auf Ablösung. Die Russen hielten gewöhnlich um diese Zeit gerade unsern Teil des Waldes unter Schrapnellfeuer. Ich ging auf und ab und wartete, daß das Schrapnellfeuer beginne. Die Dämmerung kam herab, auf die Schneisen und Wälder und Bäche und Wiesen von Wolhynien. Ich wartete auf die Ablösung; vielleicht war der Mann auf dem Weg zu mir verwundet oder getötet worden und ich müßte noch eine weitere Nacht in dieser Hölle warten.

Ich hatte an der Bar gewartet. Ich trank einen Schnaps nach dem andern. Ich war völlig betrunken. Ich wußte nicht, ob sie überhaupt kommen würde. Ihr Mann war eifersüchtig, ihr Mann war mein bester Freund. Ich hatte nur wenige Freunde in dieser fremden Stadt. Wenn sie nicht kam, dann hieß das, daß sie mich aufgegeben hatte. Ich trank noch einen Schnaps, der Kellner grinste. »Da kommt sie«, sagte der Kellner. Sie hatte an diesem Nachmittag einen großen runden Hut getragen. Sie wird ihre Scheidung schon durchsetzen, und dann werden wir zusammenleben in alle Ewigkeit, amen, und ich werde nie mehr warten müssen.

Ich hatte auf die Rückkehr meiner Manuskripte gewartet. Das waren die Tauben des Friedens, die Boten des Wohlwollens; das waren die Raketen, die ich in den Himmel gefeuert hatte: meine Werbung und mein Werk. Die Manuskripte lagen wochenlang auf den Schreibtischen der Lektoren in den Verlagen, und dann nahmen die Lektoren sie zu sich nach Hause und lehnten sie ab. Ich wartete jeden Morgen auf die Klingel, und im Nebenzimmer jammerte und klagte Maria, weil sie nicht rechtzeitig ihr Frühstück bekam. Dreimal öffnete ich die Türe und sah ins Treppenhaus hinaus; und beim viertenmal lag das Paket mit dem Manuskript quer über der Türmatte wie ein Hinrichtungsbefehl.

Ich hatte gewartet, als ich ein Kind war, daß etwas komme und meine Einsamkeit breche. Ich hatte keine Schwestern, ich hatte keine Brüder, ich hatte keinen Vater. Meine Mutter war mit ihren Freunden ausgegangen. Ich wartete auf die Klingel, sonst nichts. Irgendwas Aufregendes, irgendwas Menschliches würde läuten und unsre vier Zimmer mit Farbe und Duft füllen. Und endlich ging die Klingel. Der Milchmann hatte die Milchflaschen ein wenig abseits hingestellt; als ich die Türe öffnete, konnte ich sie nicht gleich sehn. Sie wurden früh genug sichtbar.

So hatte ich auf alle möglichen Dinge und Menschen und Entscheidungen gewartet – daß das Leben beginne und der Tod ende. Ich hatte auf diese junge Dame gewartet, auf Miß Jane Smith, Fräulein Johanna Schmidt. Im Dunkel und im Freien, im Sonnenschein und im Regen; und es tat mir gut, hier zu sitzen, in Helligkeit und Wärme. Ich hatte vor Swan & Edgar gestanden; und als sie kam – es war das erstemal – hatte ich fast vergessen, wie sie aussah. Sie trug einen schwarzen Turban und sie blickte mir ins Gesicht, als ob auch sie nicht wüßte, wer ich war. Ich war stolz auf sie, stolz, die andern weiterwarten zu lassen, auf andre, die nicht so hübsch, so anziehend, so berückend, so verführerisch waren. Ich hatte auf sie vor dem »Empire« gewartet. Ich wurde nervös, weil die Verdunkelung kam und ich im Zweifel war, ob ich sie mitten in dieser Nacht auch finden würde. Sie ließ mich damals dreiviertel Stunden warten. Als sie dann kam, war sie in großer Eile. Sie trug ihr grünes Kleid, und ihr Pelzmantel war nicht ganz zugeknöpft. Ich stürzte zur Kasse und nahm die Karten, der Film hatte bereits begonnen. Wir setzten uns, und sie sagte leise: »Sie sind ja sehr vorsichtig.« Ich erinnere mich an jedes Wort, das sie mir sagt, wenn die Worte aus ihrem Unbewußten aufsteigen, oder was immer sie dort haben mag, wo andre Menschen ihre Seelen und Herzen tragen. Sie kam nicht zu unsrer Mittagsverabredung im »Strand«, aber zwei andre Mädchen, die ich kannte, gingen vorbei und lachten mir ins Gesicht. Schließlich sah ich sie von weitem; ich sah ihr Gesicht, wie es im Strom der gleichgültigen Gesichter auf und ab tanzte, und ich wußte auf einmal, wie ich sie liebte, und wie ein Leben ohne sie, ohne dieses Warten auf sie einfach unmöglich sein würde. Und ich dachte zum erstenmal: »Eines Tages werde ich sie umbringen –« Ich wartete in verschiedenen Kneipen auf eine Antwort von ihr am Telephon; den ganzen Nachmittag hatte ich sie angerufen, es war sehr heiß auf der Straße, und das Bier in diesen Kneipen mochte ich nicht. Ich trank also Schnaps und dann versuchte ich, sie wieder anzurufen. Sie hatte schon vorher gesagt, sie würde wahrscheinlich gar nicht zu Hause sein; aber versuchen muß man, ob man eine Chance hat. Keine Antwort am Telephon, diesen ganzen Nachmittag. Ich war von einem kurzen Urlaub zurückgekommen, den ich mit meinen Freunden, den Cooks, an der Küste verbracht hatte, und ich rief sie von Waterloo an und ich wollte sie sofort sehen, aber sie sagte: »Aber nein, nein – nicht vor sieben oder sagen wir halb acht.« Ich ging also in den »Green Man«, und die Kneipe war voll von billigen Soldaten und billigen Huren, und ich trank eine ganze Menge und das machte mich glücklicher aussehen, und ich war ganz rot und sonnverbrannt und heiß im Gesicht, als ich zu ihr in die Wohnung kam. Ich erzählte ihr eine Geschichte, ich sei eine Klippe hinuntergefallen; es war nicht ganz wahr, doch wahr genug, nur etwas weniger romantisch. Vielleicht hatte ich wirklich eine Gehirnerschütterung, wie ich es erzählte, mein Kopf drehte sich auf ganz seltsame Weise.

 

Ich wartete drinnen und draußen vor »Strickland House«, das ist das Büro, wo sie arbeitet. Ich wartete auf dem Korridor und in der Telephonzelle im Korridor, so daß ich sie sehen konnte, wenn sie aus dem Restaurant oder aus der Bar zurückkam. Ich sah nur ihren Rücken und ihr berühmtes Hinterteil, und wieder bemerkte ich, rein durch Zufall, was für schöne Beine sie hat; ich sah auf ihre Beine, als gehörten sie zu einem andern Mädchen. Ich dachte, ich sei jetzt nahezu fünfzig, und daß sie überhaupt für mich viel zu hübsch sei.

Aber diesmal wollte ich nicht länger warten. Ich wollte gar nicht daran denken. Es war unsinnig, sie zu Hause anzurufen; die alte Dame, die mit ihr wohnte, würde sicherlich nicht wissen, wo sie war. Außerdem waren beide Telephonzellen besetzt. Amerikanische Unteroffiziere sprachen mit ihren Mädchen, um festzustellen, ob sie sich bei diesem Nebel hinauswagten. Ich begann die Zeitung zu lesen. Ich hielt das Blatt vors Gesicht und drehte mich um, um besser zu sehen.

Wasser

Und ich wartete. Ich wartete weiter.

Ich konnte an der Bewegung des Vorhangs vor der Drehtür sehen, wenn jemand hereinkommen würde. Der rote Stoff wurde hin und her bewegt, hereingeblasen und fiel dann wieder traurig zurück, nachdem die Person in die Vorhalle getreten war. Wenn die Türe einen starken Stoß erhalten hatte, drehte sie sich noch weiter, doch es waren nur Nebel und Geister, die hereinschwebten und vorüberwehten – niemand trat hervor. Ich spielte raten, wie der nächste aussehen würde, der hereinkam; ob ein Zivilist oder ein Soldat, und von welcher Armee, ob ein Engländer oder ein Amerikaner. Einige waren vom Licht geblendet, und alle hatten Kleider und Gesichter und Hände voll mit Nebel. Doch vorwärts, mein kleiner Verstand, lies Zeitung!

Die Buchstaben begannen ihren Tanz in den Unsinn. Die Zeilen explodierten und zeigten die jenseitige Bedeutung, das Innere von Zeit und Raum. Ich versuchte, mit den Augen etwas festzuhalten, doch mein Bewußtsein lief davon. Die Zeiger der Uhr liefen davon. Ich wartete noch immer.

Plötzlich platzten sieben oder acht Soldaten in den Raum. Es waren Amerikaner, mit auffallenden Rangabzeichen auf den Schultern, ihre Backen rot von Suff und Nässe. Sie stellten sich mitten in der Halle in einer Reihe auf und hielten sich an den Händen, als wollten sie ein Ballett beginnen. Ihre Füße schrieben Kreise auf den Teppich und ihre Münder standen offen wie die Mäuler von Fischen. Aber sie waren nicht stumm, diese Fische.

Sie tanzten, ohne ihre Leiber zu bewegen. Sie sprachen, der eine übernahm das Stichwort vom andern, wiederholte es und schwellte so den fürchterlichen Chor. Alle waren sie von tödlicher Munterkeit: aus ihren Rüsseln kam das Geräusch von Maschinen. Während sie sich rührten, verloren sie ihre Hosen: es tauchten Röckchen auf, als wären sie alle Mitglieder der griechischen Gebirgstruppe.

»Die Deutschen fanden die schwache Stelle. Nationale Überlegungen wurden über Bord geworfen. Man läßt den Feind nach seiner Flöte tanzen. Das Schlachtfeld war unordentlich. Es war eine der interessantesten Schlachten. Verletzbare Stellen. Bieg ihn ab, schreib ihn ab. Ich könnt ihn schön verdreschen. Je länger der Krieg dauert, desto ärger ist es für die Deutschen. Der Feind hat uns erwischt. Am Neujahrstag. Am Weihnachtstag.«

Ich war aufgesprungen. »Was schwätzt ihr denn da für Zeug zusammen?« schrie ich, so laut ich konnte. Ich scherte mich einen Dreck um die feine Umgebung. Scherten sich denn die? »Aber Junge, Junge!« brüllte ein Feldwebel. »Reg dich doch nicht auf. Da ist die Deinige, auf die du so lang gewartet hast.«

Die Soldaten entließen aus ihrer Mitte eine alte Frau, mit schäbigen Kleidern und rührendem Gehaben. Ich schaute wieder in die Zeitung hinein. Die Nebelschleier hatten sich zwischen das Blatt und meine Augen geschoben.

Die Frau hatte ein ganzes Leben lang auf Arbeit gewartet. Am vorigen Donnerstag schickte man ihr einen Zettel, auf dem stand, sie solle hinüberkommen und sich für eine herrliche Abwechslung bereit machen. Sie nahm ein Bad und ging die Straße hinunter, wo an der Ecke ein Lastwagen auf sie wartete. Ungefähr um zehn Uhr traf sie in der Kantine an der See ein. Man drängte sie in eine halbverfallene Bude und sagte ihr, sie würde eine der Empfangsdamen für die heimkehrenden Soldaten sein. Sie mußte ein paar Teller abwischen und Papierblumen auf die langen Holztische stellen. Die Sirenen gaben Fliegeralarm, doch statt der Bomber kamen Schiffe mit Truppen auf Urlaub.

Die Urlauber waren außerordentlich schmutzig und schlecht gelaunt. Sie sagten, sie seien fast erfroren. Einige Mädchen in Uniform trafen ein und warteten den Soldaten mit heißem Tee und mürbem Gebäck auf. Die Stimmung wurde gemütlicher. Die Frau bemächtigte sich eines jungen Mannes mit Korporalsstreifen, der sie irgendwie an ihren Sohn erinnerte. Man taute allgemein auf, ein paar summten und einer sang ein Seemannslied; er kam aus dem schottischen Hochland. Die Frau servierte ungefähr siebenhundert Tassen Tee, dann wurde sie ohnmächtig, ein glückseliges Lächeln auf dem Gesicht. Die Soldaten sangen immer lauter und lauter, eine neue Lokomotive wurde ihnen auf warmer Schüssel zur Verfügung gestellt. Der ganze Haufen bestieg den Zug, die Bäuche leicht geschwellt, der Tee floß ihnen aus den Nasenlöchern. Die Frau ging zu Fuß nach Hause.

Sie fand ihren Mann in der Küche, da saß er und die Tränen strömten ihm übers Gesicht. »Du mußt nicht erschrecken, es ist alles nur Freude, reine Freude! Was für ein Glück, Glück des Glasers!« »Aber du bist doch gar kein Glaser«, sagte die Frau. »Ich war’s. Von morgen an werden wir aber beide für den Bischof arbeiten!« »Was für ein Bischof?« fragte die Frau. »Für den Bischof, der aus Indien kam. Den Bischof von St. Albans«, sagte ihr Gatte.

Einen Tag später waren sie im bischöflichen Palais untergebracht. Sie fanden ihre Livree, die war von Motten zerfressen; und sie paßte ihnen auch nicht in der Länge. Die Küche war voll Küchenschaben, die um den Herd wimmelten. Die Zimmer waren eiskalt. Das Palais war so groß, daß sich die Frau am ersten Morgen verirrte und zu der Feierlichkeit im Dom um zehn Minuten zu spät kam. Doch sie bewahrten Haltung, wenn sie jemanden am Haustor zu empfangen hatten. Gäste trafen in Rudeln ein; darunter waren auch Inder, die den kalten Bischof gekannt hatten, als er noch jung und warm war. Die Frau versuchte Feuer zu machen; da mußte noch für die Gasterei eine ganze Sau gehäutet und gebraten werden.

Ich mußte noch immer warten. Immer warten.

Doch als die Festlichkeiten vorüber waren und sich des Bischofs die weibliche Feuerwehr des Ortes annahm, hatte sich die Frau um eine andre Beschäftigung umzusehen. Sie wurde mit ihrem Mann in einem Sonderautobus der anglikanischen Kirche heimgebracht, und da der Autobus leer war und sie bis in die Knochen fror, kuschelten sich Frau und Mann aneinander und begannen, das alte Spiel wieder zu spielen.

»Es ist unser Hochzeitstag«, sagte der Mann. »Feiern wir ihn zu Hause.« »Für die Feier gibts kein Feuer, und der elektrische Strom ist abgestellt.« »Dann gehen wir eben ins Bett. Ich trage dich«, sagte der liebende Gatte. Er schulterte die Gattin und trug sie über die Schwelle, eine alte und ehrwürdige Sitte.

Ach, sie hatten leider den treuen Liebhaber vergessen, aus Burma eben heimgekommen. Er hatte auf die Frau im dunkeln Vorzimmer gewartet, und als er das schreckliche Schauspiel sah, wie eine Frau von ihrem gesetzmäßigen Mann getragen wurde, sozusagen in den Armen des Gesetzes, da gedachte er der Gesänge der Ahnen und griff zum Revolver und schoß der Frau eine Kugel ins Hirn.

Die Kugel blieb drin stecken. Die Frau war schwer verletzt. Sie verlor das Bewußtsein nicht. In einem Brief voll Liebe und Verzeihen schrieb sie an den Soldaten, der eben heim aus Burma gekommen war: »Ich hoffe und bete einzig und allein, daß Du mich so liebst, wie ich Dich liebe, denn wenn Du das tust, dann können wir von neuem beginnen, Liebling, von nun an sollen es nur Du und ich und mein Mann sein.«

Als die Frau aus der Spitalbehandlung entlassen wurde, erwarteten sie draußen beide Männer. Der Gatte sagte: »Kopf hoch – eine gute Nachricht!« Die Gattin erwiderte, und sie war noch immer böse auf ihn: »Wieder ein Bischof, nehme ich an?« »O nein«, sagte der Mann. »Falsch geraten. Ich habe geerbt, von der guten alten Gripsy. Sie ist gestorben, während du weg warst. Einen blauen Lappen pro Woche, wenn ich die Sorge für ihre Schoßtierchen übernehme.« »Und was sind ihre Schoßtierchen, wenn ich bitten darf?« »Zwei Kanarienvögel, sieben Goldfische, drei Katzen«, sagte der Mann, und da war auch schon die Hälfte der Freude dahin, die er vorher empfunden hatte.

»Gehn wir uns unterhalten«, sagte der Liebhaber-Soldat und nahm den Arm der Frau. »Wir wollen uns alle vertragen. Ich habe Karten, die kosten mich nichts. Ich hab sie mir hintenherum verschafft.«

So gingen sie sich unterhalten. Sie gingen zu einem Fußballmatch auf dem Spielplatz des Fußballklubs Aldershot, wo zwei taubstumme Mannschaften gegeneinander spielten. Da keiner der Spieler die Pfeife des Schiedsrichters hören konnte, bediente man sich roter und grüner Fahnen: rot für »off-side« und grün für »out«. Am Schluß hätte die siegreiche Mannschaft gerne vor Freude geschrien, aber so standen sie nur herum mit offenem Munde.

»Wo sind meine Soldaten hin? Und warum ist meine Dame noch nicht gekommen?« donnerte es von der Wanduhr. Ich wartete noch immer.

Die Frau wurde wieder verletzt, als sich alles um die Ausgänge drängte und plötzlich einer von den Taubstummen schrie: »Da kommts!« Es war jedenfalls keine Flugbombe, sondern der Auspuff eines Autos, das vom Benzin besoffen war. Der Taubstumme war erschüttert über das Wunder, das ihn mehr überrascht hatte als die andern.

Die Frau wurde in ein andres Krankenhaus gebracht. Das Essen war dort besser als im ersten Krankenhaus, und sie befreundete sich mit mehreren Frauen in den Nachbarbetten.

»Und wissen Sie auch …«, fragte die Dame im Nachbarbett – sie trug einen seidenen Schlafanzug, »wissen Sie – Ihr Mann liegt auch in diesem Krankenhaus!?« »Welcher Mann?« fragte die Frau. »Sie können aber doch nicht zwei Männer haben!« sagte die Seidige.

Man brachte also die Frau vors Bezirksgericht und beschuldigte sie der Bigamie. Sie schluchzte und lächelte unter Tränen und sagte: »Mein Gatte pflegte mich Venus zu nennen, doch das ist lange her –« Und ihr Lächeln erwärmte das Herz tief unten im Busen des alten Richters, und der ganze Gerichtshof lächelte mit ihr, und durch die Tore traten weißgliedrige Götter in den Gerichtssaal und verdrängten die Richter und setzten sich selbst auf die Richterbank und verurteilten die Frau zu ewiger Frische und glatter Abwicklung. Lächelnd verließ sie den Saal. Die Götter lüfteten ihre Glieder in Mächtigkeit.

Ich erhob mich. Ich hatte genug. Ich bahnte mir einen Weg zur Telephonzelle. Wir hatten den Anfang des Theaters schon versäumt. Es war ein Stück von Somerset Maugham, »Der Kreis«; geschrieben vor der Sintflut und dem Paradies. Kein Zweifel – die Frau hatte das Paradies auf die Erde gebracht.

Stalin und Hitler hatten es beide aufgegeben. Sie hielten eine große Teegesellschaft, bei der sie sich gegenseitig wie Menschen behandelten. Alle waren glücklich, und sogar die Soldaten an der Front hatten Essen und Frauen. Vom ersten Januar an wurden überall die Paragraphen des Zivilgesetzbuches, die Artikel der Verfassung, die Strafgesetze und alle zehn Gebote Gottes streng eingehalten. Die Kerker leerten sich, die Gerichte hatten nichts zu tun. Gatte und Gattin lebten zufrieden zusammen: es gab keinen Streit mehr, weder am Frühstückstisch noch vor dem Schlafengehen. Die Kinder ließen ihre Unarten sein; kein Halbwüchsiges machte sich in die Hosen, kein Baby schrie. Konflikte wurden nach Verhandlungen beigelegt, der Weltsicherheitsrat arbeitete emsig. Scheidungsprozesse waren unbekannt. Mißverständnisse und Streitigkeiten zwischen Liebenden endeten, bevor sie begonnen hatten, dort, wo sie anfingen: im Bett. Keine wahre Tragödie entging ihrem guten Ausgang. Die Filme mußten alle umgeschrieben werden, da das Publikum Abwechslung liebte, und alle Stücke in Tränen, Selbstmord und plötzlichem Tod enden mußten, die im wirklichen Leben aus der Mode gekommen waren.

 

Die Menschheit besann sich darauf, gegen Krankheiten Heilmittel zu finden; und so gab es bald keinen Krebs und keine Schwindsucht mehr. Keine Profite wurden gemacht, keine Kriege geführt. »Das Mädchen mit dem leichten Schweißgeruch« hatte schon zeitig in ihrer Mädchenzeit die Seife »Wunderduft« entdeckt und sah sich nie wieder schwierigen Situationen gegenüber, da ihr Liebhaber sie plötzlich im Stich lassen würde, weil er den Gestank einfach nicht mehr aushielt. Menschen, die aus dem Mund rochen, wurden nicht mehr zugelassen, jedermann erhielt zu seinem sechsten Geburtstag eine Tube der ausgezeichneten Zahnpasta. Das Nährmittel Horlick war Herr geworden aller Nachteile nächtlichen Hungerns. Alle Gesichter strahlten, denn Mann und Weib waren frei von Verstopfung. Patentarzneien hielten die Welt in Bann.

Kein Zahnweh und keine Eifersucht. Kein Jucken nach dem Rasieren und kein Sodbrennen nach schweren Mahlzeiten. Keine gebrochenen Hälse und keine gebrochenen Herzen.

»Aufhören –«, rief ich. »Halt ein im Flug. Ich will mein Herz brechen, laß es brechen.« Ich wartete noch immer. Ich faltete die Zeitung zusammen und stand auf. Meine Füße waren ganz gefühllos, weil ich sie so lange unbeweglich gehalten hatte.

Ich begann mit der Belagerung der Telephonzellen. Auch hier waren gutgelaunte und harmlose Geschöpfe bis zum Hals versunken in gegenseitiges Verständnis und freundliches Gespräch. In der einen Kammer sprach ein Marineoffizier zu einem Mitglied der eleganten Welt; in der andern flirteten zwei Sergeanten mit Mädchen aus den niederen Klassen. Die Mädchen am andern Ende des Drahtes versuchten, die Herren Unteroffiziere zu necken, doch der eine Sergeant war beharrlich und redete ihnen andauernd zu irgend etwas zu, wahrscheinlich, sofort hierher zu kommen. Es war ein endloses Telephongespräch. Zwei Mädchen von der WAF stellten sich neben mich und ich machte ein paar Bemerkungen, wie lange die zwei schon das Telephon besetzt hielten. Es waren nicht eben gescheite Bemerkungen, aber die Mädchen lachten. Ich bekam dadurch etwas von meiner Selbstachtung zurück und fühlte mich durch ihr Lachen geschmeichelt.

Telephongebühr war drei Pennies statt der üblichen zwei, aber das war ja ein besonderes Lokal, mit seinen großen N’s überall, Napoleons Haus. Ich kenne die Nummer im Schlaf und ich drehte die Scheibe, ohne hinzusehen.

Es antwortete die Stimme der alten Dame mit dem sonderbaren Beruf, die jede Woche zweimal nach London kommt und dann bei Jane wohnt. Jane hatte nichts dagegen, sie liebte das, sie lebte anscheinend lieber mit einer Frau als mit einem Mann, wenn es auch nur zwei Tage in der Woche war. Mit mir will sie jedenfalls nicht leben. Oder doch?

Die Dame: »Nein. Miß Smith ist nicht zu Hause.«

Ich: »Wissen Sie zufällig, wann sie weggegangen ist?«

Die Dame: »Warten Sie einen Augenblick – es war vielleicht sechs Uhr.«

Ich: »Sechs Uhr? Aber –« Ich dachte daran, daß sie mich doch um halb sechs treffen wollte.

Die Dame: »Möglicherweise war’s dreiviertel sechs.«

»Danke sehr«, sagte ich.

»Soll ich ihr etwas bestellen? Ich könnte ihr etwas auf einen Zettel schreiben. Ich fahr dann weg …«

Sie fuhr weg. Ich schnitt ihr den Redestrom ab.

»Nein. Danke. Nichts zu bestellen.« Ich legte den Hörer wieder auf. Andre warteten draußen, lustige Burschen, traun. Aber ich hatte ja meine Zeitung noch nicht fertig gelesen.