Warnung vor Büchern. Erzählungen und Berichte

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[76]Geschlagene Pferde, gehetzte Menschen

Eine Lehrerin wohnt gegenüber einem Neubau. Erde wird angefahren. Der Boden ist weich. Sie sieht beim Vorbeikommen ein Pferd, das über die Deichsel getreten, in der Kette verwirrt ist, der Kutscher schlägt roh auf das hilflose Tier ein. Sie erstattet Anzeige. Der Kutscher bekommt 30 Mark Geldstrafe. Sie war empört über seine Rohheit, sie konnte das Pferd nicht misshandelt werden sehen.

Was sie nicht sah, kam in der Berufung zur Sprache. Das Pferd ist nicht grade fromm. Hat schon einmal den Vorderwagen zerschlagen, der Kutscher wurde dabei verletzt, hat wochenlang krank gelegen. Ist der Freund des Tieres nicht.

Das Pferd hat sich nun eine Spielerei angewöhnt, beim Halten tritt es mit einem Vorderbein über die Deichsel, der Kutscher muss nach vorn laufen, das Pferd befreien, ehe er losfahren kann. Das Pferd tut das öfters. Und der Kutscher hat nicht viel Zeit. Hinter ihm drängt sein Kollege, der auch abladen, weiterfahren will. Hinter ihm steht der Fuhrherr, der eine bestimmte Menge Arbeit getan haben will. Steht die Familie, Frau, Kinder, die zu essen haben wollen. Droht, wie hinter jedem Arbeitenden heut, die erhobene Peitsche der Arbeitslosigkeit.

Eben hat der Kutscher sein Pferd befreit, macht drei Schritte zur Leine, will losfahren, da hat der Gaul das Bein schon wieder über die Deichsel. Nun, wir sind Menschen, keine Lagerhäuser der Geduld. Er vertobackt das Pferd.

Wir sind zu hart und zu fein. Wenn wir ein Pferd geschlagen sehen, treten uns die Tränen in die Augen, sehen wir einen Menschen gehetzt, sagen wir: »So ist das Leben«, und drehen die Daumen.

[77]Die Strafe wird auf zehn Mark ermäßigt.

(Anmerkung zur Sprachentwicklung: Der amtierende Richter nahm Anstoß daran, dass der Kutscher sein Kranksein als Krankspielen bezeichnete. »Ich musste ein paar Wochen krank spielen.« Tiefer Sinn, dass bei unsern lausigen Zeiten in Arbeiterkreisen Kranksein ganz allgemein als Krankspielen bezeichnet wird. Arbeit ist Hatz, Arbeit ist Angst, aber Krankheit, schwere Krankheit selbst, Ausruhen, Spiel. Soviel zur Geschichte der Sprache.)

[78]Mein Freund, der Ganove

Ich traf ihn im Wartesaal Vierter, nach Mitternacht, gegen Morgen schon. Er sortierte aus einem Fetzen Zeitungspapier Kippen. Jeder Zigarettenstummel wurde sorgsam aufgepult und der Tabak in eine Blechschachtel getan. Dies Geschäft war gut gegangen, die Schachtel wurde voll.

Doch stand es mit den andern Geschäften nur faul. Er hatte keinen Pfennig in der Tasche und noch nicht zu Abend gegessen. Erinnerte er sich recht, hatte er schon länger Kohldampf geschoben.

»Was wollen Sie? Die Leute haben eben alle heute kein Geld. Dann geht es uns Ganoven auch schlecht. Nicht, dass ich schon etwas anfassen möchte. Ich bin erst eine Woche aus dem Knast. Immerhin, wenn ich so fünfhundert Em hätte … Ich habe nämlich eine Idee –«

Während des Sprechens entging kein Passant seinem wachen Blick. Er sah sie alle, schätzte sie blitzschnell ein, brachte ihre Erscheinungen in Beziehung auf sich wie ein jagdbares Waldtier. – »Die vollgefressene Brillenschlange da, mit der Seehundsfranse unter der Nase, ist von der Schmiere. Nun, meine Flebben sind rein. Was sich solche Leute einbilden! Werde mich hierher setzen, wenn ich Lampen habe. Aber er hat wen auf dem Strich …«

Wir sahen den Mann an, der beim Glase Bier am Büfett lehnte. Für mich war das ein kleinbürgerlicher Restaurateur, ein Glasermeister, der ein bisschen mit der kalten Mamsell schäkerte. »Er sucht wen«, murmelte Otsche, der Ganove, »und es muss ein Grünling sein, der ihn nicht kennt, sonst stellte er sich nicht so an die Theke.«

[79]Was es für eine Idee sei, zu der er fünfhundert Mark brauche?

»Dreihundert täten es auch, zur Not. Ich kann es Ihnen ja sagen, Sie können doch nichts damit anfangen. Übrigens habe ich den Film schon einmal gedreht, in Frankfurt Main. Ein kleines Inserat in der Zeitung: ›Reitpeitsche mit silbernem Griff verloren. Abzugeben Schulgasse 3 bei Frau Masoch.‹« Er sah mich erwartungsvoll an.

»Nun –?« fragte ich verständnislos.

»Prügel –«, meinte er lakonisch. »Sie kamen und holten sie sich und zahlten dafür. Alles bestes Publikum mit dicker Marie. Sie ahnen ja nicht, was für eine Nachfrage danach herrscht.«

Er lachte. Für ihn gab es keine Bedenken, was die Menschen wollten, mussten sie haben. Seine Sache war es, herauszufinden, wo die Nachfrage saß. »Aber natürlich ging das nur ein paar Tage, bis die Polente dahinterkam.«

Der Greifer am Büfett schäkerte noch immer. »Wer es nur sein mag? Von uns ist es keiner, ich kenne alle Jungen, die hier kommen.«

Wieder: »Aber man muss in Schale sein. Ich will Ihnen etwas sagen: Ihr Ponim kann sein, wie es mag, wenn Ihre Hosen nur gebügelt und Ihre Hände manikürt sind. Und dann müssen Sie natürlich richtig deutsch sprechen, für unsereinen gar nicht so leicht bei den vielen Fremdwörtern. Da haben die Leute gleich Zutrauen zu Ihnen. Wenn Sie denen erzählen, Sie sind Doktor und können Diathermie und Arteriosklerose sagen, ohne zu stolpern, und lassen ihre Weiber merken, Sie haben ein weites Herz, wenn es in Punktus Punkti mal schiefgegangen ist, dann dürfen Sie ruhig Ihre Brieftasche vergessen, jeder hilft Ihnen aus.

[80]Aber der Greifer dort macht mich nervös. Mir wäre nicht so mies, wenn er was von mir wollte.« Er suchte den ganzen Saal ab. Die Birnen schienen trübe durch die Rauchschwaden. Traumverlorenes, dumpfes Gefangensein hing über den Verschlafenen, Zerknüllten. »Wer es nur sein mag?« Er suchte wieder, pfiff durch die Zähne. »Ein Mädel ist’s! Darum konnte ich in dem Mist nicht klarkommen. Sehen Sie die Kleine dort in der Ecke, die den Kopf auf den Arm gelegt hat und tut, als ob sie pennt? Die pennt nicht! Sie hat den Fuß auf dem Handkoffer, dadrin ist die Sore.«

»Irren Sie sich nicht, Otsche? Der Kriminal steht mit dem Rücken nach ihr.«

»Und am Büfett hängt ein Spiegel, in dem er die Ecke sehen muss. Warten Sie mal.« Er hatte eine Zigarette gedreht, nun schlenderte er, die Hände in den Taschen, zu einem Tisch, an dem ein paar Arbeiter verdrossen vor ihrem Kaffee saßen. Er ließ sich Feuer geben, begann stehend eine Unterhaltung, bewegte sich hin und her und war so stets zwischen Spiegel und Mädchen. Der am Büfett tat einen Schritt nach rechts, und der Ganove folgte, auch ein Schritt nach links gab die Aussicht nicht frei, so zahlte der Schnurrbärtige und trat an einen Automaten, von wo sein Blickfeld unbehindert war.

Nach ein paar Minuten kam Otsche zurück. »Sie haben recht gehabt«, sagte ich. »Er will was von ihr, und sie weiß es. Vorhin, als Sie einen Augenblick die Aussicht verdeckten, sah sie nach der Tür, als wollte sie fliehen.«

»Vielleicht weiß sie’s. Sicher aber ist, dass sie verschütt geht. Der ist nicht mehr zu helfen.« Er war jetzt entschieden mürrisch und kaute an seiner Zigarette herum.

[81]»Die Sache gefällt Ihnen nicht, Otsche, Sie möchten’s verhindern.«

»Und ich tät’s, fressen Sie einen Besen drauf!« brach er wütend los. »Sie sind ja auch so ein Seidener und haben keine Ahnung, was unsereins für eine Wut im Bauch hat, wenn er die Greifer sieht und an Verhöre, Verhandlung und Knastschieben denkt. Eine Woche bin ich jetzt draußen, und wenn ich mich hier einmische, geht’s nicht ab für mich unter ein, zwei Jahren. Nein, ich lasse die Finger davon, ich fasse nichts an in den ersten drei Monaten.«

Er schwieg wieder und sah nach dem Mädel hin. Sie schien zu schlafen, und der von der Schmiere ging auf und ab wie einer, dem das Warten auf seinen Zug lang wird.

»Sie wissen, ich hab keine Angst. Aber dann, solche noblen Geschichten sind immer fies. Wenn ich so dumm wäre und griffe was an hier, dass er auf mich los müsste und die Kleine könnte stiften gehen, was hätte ich davon? Sie kennt mich gar nicht, und wenn sie mich auch kennte, keine wartet zwei Jahre Knast auf einen. Lassen Sie mich in Ruh mit den Weibern.«

»Aber ich will ja gar nicht, dass Sie was tun, Otsche. Ich finde es sehr vernünftig, dass Sie solide bleiben wollen.«

»Quatsch!« sagte er kurz. »Sie haben natürlich auch Detektivromane gelesen und finden, dass unsereins zu seinesgleichen edel zu sein hat. So ein Blech! Ihr Schreiber seid froh, wenn ihr euern Kerl im Kittchen habt, und das Verbrechen ist glänzend aufgedeckt. Für uns aber fängt die Sache mit dem Qualmschieben erst an. Was habe ich davon, wenn ich jetzt nobel bin? Zwei Jahre Bunker! Und Sie wollen das!«

Er war immer aufgeregter geworden. Die Schläfrigen an den Nebentischen drehten schon die Köpfe nach uns.

[82]»Beruhigen Sie sich doch, Otsche«, sagte ich. »Ich will das gar nicht. Seien Sie solide und –«

»Da!« sagte er kurz. »Jetzt geht’s los. Noch einer von der Schmiere!«

Ein Langer, Blonder, Bartloser stand neben dem Glasermeister, und die beiden sahen ganz ungeniert nach dem Mädel. Das saß da, das Gesicht möglichst weit nach der Wand gedreht, den Koffer griffbereit.

»Wir brauchen uns das ja nicht anzusehen, Otsche«, sagte ich. »Kommen Sie. Irgendwo wird schon ein Lokal offen sein. Ich zahle Ihnen ein Essen.«

»Ich kaufe mir einen Dreck für Ihr Essen«, schrie er. »Fressen Sie es alleine!«

Die beiden Kriminaler drehten uns ihre Gesichter zu.

»Kommen Sie doch«, versuchte ich zu beruhigen. »Wir fallen ja auf.« Ich legte meine Hand auf seine Schulter, um ihn zum Gehen zu bewegen.

»Fassen Sie mich nicht an!« heulte er förmlich. »Fassen Sie mich nicht …«

Der Glasermeister machte einen Satz auf uns zu. Es war zu spät. Alles wurde rot, dann schwarz, ich hatte noch ein Gefühl, als fiele ich.

 

Es muss ein wundervoller Faustschlag gewesen sein, technisch ganz einwandfrei: Ich kam erst auf der Rettungswache zu mir. Und es dauerte eine lange Weile, bis mein erschüttertes Hirn begriff, dass mein guter Freund Otsche mir ein ganz klein wenig etwas unter die Weste geschoben hatte. Ich hatte einen sonst aussichtslosen Rückzug decken helfen, und das Mädelchen mit dem Schmuck im Handkoffer war entwischt.

Und auch Otsche, der weder Dame noch Schmuck ganz [83]so fern stand, wie er angegeben, auch Otsche war dahin. »Wissen Sie, in dem Tumult …« meinte der noch schwitzende Glasermeister.

Ich finde das erklärlich. Und es ist mir aufrichtig gesagt angenehm, dass ich in meinem jetzigen Zustand Otsche nicht bei irgendeinem Verhör gegenübertreten muss. Es würde ihn betrüben, wie wenig schön ich aussehe.

[84]Der Strafentlassene

Sagen Sie mir nicht, dass Sie ihn noch nicht gesehen haben. Vielleicht haben Sie ihn nicht erkannt, das ist möglich, aber gesehen haben Sie ihn ein Dutzend Mal – was sage ich? – hundertmal, tausendmal! Denn er ist überall, Jahr für Jahr werfen ihn die Gefängnisse zu Zehntausenden auf die Straße.

Der junge Mann, der Ihren Autoschlag zuwarf und sich nur verlegen fortwandte, als der erwartete Groschen nicht kam – das war er. Der Reisende mit einer unmöglichen Zeitschrift (inklusive Versicherungspolice), der Ihre Frau eine halbe Stunde mit seinem aufgeregten Geschwätz langweilte und sich befangen fortdrückte, als sie gerade abonnieren wollte – das war er.

Vielleicht hatten Sie ein Zimmer zu vermieten, und ein junger Mann kam, erledigte forsch alle Fragen wegen Heizung, Stiefelputzen, Licht, Miete, und plötzlich, als er die sieben Mark für die erste Woche anzahlte, sagte er bedrückt: »Das Leben ist nicht leicht«, und gleich darauf ohne den rechten Glauben: »Es wird schon gehen.«

Vor den Aushängebogen der Zeitungen mit dem Stellenmarkt können Sie ihn jeden Tag sehen, und vielleicht sind Sie einmal nachts über den Rathausmarkt gekommen und haben ihn in der Wartehalle dort schlafen gesehen. Unter der verdrückten Heilsarmeemütze, der man die Wanderung über viele Köpfe ansieht, ist er ebenso zu finden wie an den Heizkörpern der Wartesäle, in den Museen und vor den Steckbriefanschlägen der Polizei.

Er ist überall, er treibt im gesunden Blut des Volkskörpers, ein kranker Tropfen, der bald wieder ausgeschieden sein wird.

[85]Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, 25 Jahre alt, nach zweijähriger Haft wegen Unterschlagung, mit 82 Mark Arbeitsdienst in der Tasche, war er entschlossen, »keine Dummheiten« zu machen. Nicht, dass er sich gebessert fühlte. Bei dem Gedanken grinste er bloß. Aber er hatte eingesehen, dass sein Einsatz in diesem Spiel viel zu hoch gewesen war, kein möglicher Gewinn konnte solchem Verlust die Waage halten.

Er hatte sich ausgerechnet, dass er mit seinen 82 Mark einen Monat leben könnte, in dieser Zeit musste er Arbeit finden. Seine erste Enttäuschung erlebte er, als er in die Wohnung kam, in der er vor seiner Haft gelebt hatte. Er war dort wie ein Kind im Hause gehalten worden, mit der Tochter hatte er ein kleines, harmloses Gspusi gehabt.

Jetzt machte man ihm kaum die Tür auf, Verhandlung durch die Spalte, mit der Kette davor. Natürlich seien seine Sachen noch da, eigentlich müsste man Lagergeld verlangen, aber man wolle nicht so sein.

Als er dann im eilig gemieteten Zimmer seinen Koffer auspackte, sah er, dass man wirklich nicht so gewesen war: Die beiden besten Anzüge fehlten, Wäsche und Schuhe waren um die Hälfte vermindert. Noch einmal hingehen, kämpfen? Aber was konnte er beweisen? Und dann – war ihm nicht geschehen, was er andern getan? Nur Ruhe!

Aber er hatte keine Zeit zur Ruhe. Bei den Aushängen war der Stellenmarkt einzusehen, möglichst rasch waren Bewerbungsschreiben fortzuschicken, und trotzdem musste die Schrift erstklassig sein. Zu jeder Briefseite nahm er eine neue Feder. Und dann das Porto – alles lief ins Geld.

Zu Anfang hatte er noch geglaubt, eine warme Mahlzeit am Tage müsse sein, dann sah er, dass er sie sich nicht [86]leisten konnte, Brot, Butter und Aufschnitt, Brot, Margarine und ein Bückling, Brot und Margarine, Brot … Schritt für Schritt ging es zurück. Und doch flog das Geld. Kein Tag, an dem er nicht etwas ausgeben musste. Wäsche, Fahrgeld, Stiefelsohlen, Porto …

Ein paar Male wurde er auf seine Bewerbungen hin zur Vorstellung aufgefordert, aber irgendetwas in seinem Wesen … etwas Scheues, Sprunghaftes … die Lücke in seinen Zeugnissen … gewiss, er ist seit zwei Jahren selbständig gewesen, es wird ihm schon geglaubt, aber hat er nicht vielleicht doch einen Nachweis, einen kleinen Ausweis des Gemeindevorstehers aus dem Kaff, von dem er erzählt? So viele warten vor der Tür, und er startet später als alle andern, fühlt er.

Vierzehn Tage ist er solide gewesen, dann spricht ihn nachts eine Frau an. Zwei Jahre hat er von Frauen nur geträumt, in quälenden Träumen seine Erinnerungen immer wiederholt, er kann nicht widerstehen. Als er am nächsten Morgen sein Geld nachzählt, merkt er, dass er eine Woche früher Arbeit finden muss, in einer Woche muss er Arbeit haben.

Er überwindet seinen Stolz, er geht zum Wohlfahrtsamt, zur Gerichtshilfe. Ja, Arbeit. Für körperliche Arbeit ist er wohl zu schwächlich? Natürlich. Auch gibt es so viele Nichtvorbestrafte, die körperliche Arbeit tun möchten. Aber vielleicht Adressenschreiben? Es gibt irgendeine Organisation, die so etwas vergibt; er geht hin, ja, man wird ihn beschäftigen.

Nun sitzt er dort Tag für Tag und schreibt Adressen. Im Anfang bringt er es nur auf 2 Mark den Tag, aber dann steigert er es auf 3, 4, ja, sogar 5 Mark an ganz günstigen Tagen. [87]Abends ist er wie tot, sein Hirn öde, die Hand verkrampft. Aber er kann weiterleben, von heute auf morgen, gerade das Leben hat er, das nackte Leben.

Dann hört er flüstern. Die Arbeit wird knapp. »Heute nur jeder Mann 500 Adressen«, sagt der Bureauvorsteher. »Morgen werden ein paar aufhören müssen.« Er zittert; aber dann darf er noch drei, vier Tage kommen.

Was hilft es? Der Verdienst reicht nicht mehr. Der Groschen, so fest er um ihn die Hand schließt, das Leben dreht ihn heraus. Er trägt die Wäsche, die Kleidung fort, einzeln, zum Pfandhaus. Auch sein Zimmer ist zu teuer, nun er nur noch die Sachen hat, die er auf dem Leibe trägt, genügt eine Schlafstelle. Schließlich kann man auch bei der Heilsarmee schlafen, im Asyl, in Wartehallen.

Das Adressenschreiben ist vorbei, keine Aufträge mehr. »Ich schreibe Ihnen eine Karte, wenn wieder was ist«, sagt der Bureauvorsteher. »Wo wohnen Sie?« »Ich komme mal vorbei, da sparen Sie noch das Porto«, und er versuchte zu lachen.

Nun geht es reißend schnell bergab. Wozu sich noch mühen, er hat eben kein Glück. Einer auf der Schreibstube hat mal eine Mark gefunden, nun bringt er die Tage damit zu, verlorenes Geld zu suchen auf der Straße. Er sieht die Frauen nicht mehr, nicht mehr die Auslagen der Delikatessenläden, nicht mehr die Autos, das Flimmern, den Glanz der Lampen, die Wolken, frohe Gesichter.

Alles ist Geld. Sein Traum ist Geld. Sein Wachen ist Geld. Diese runden Markstücke, diese vollen Fünfmärker, deren Druck er durch den Stoff auf dem Körper fühlte wie eine Lust, sie sind überall, in jedermanns Hand. Abends, in den dunklen Straßen – könnte er es nicht wagen, ein Griff [88]nach einer Handtasche, ein paar Sprünge um die nächste Ecke?

Und der rote Bau mit den vergitterten Fenstern baut sich wieder vor ihm auf; hat er je geglaubt, das Leben war dort schlimm? Leicht war es, er hatte zu essen, keine Geldsorgen, niemand verachtete ihn. Er war unter seinesgleichen. Und das ist ja nur die schlimmste Möglichkeit, die wahrscheinlichste heißt Geld, schönes, rundes Geld.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht wird er es heute Abend wagen …

[89]Otsches Fluchtbericht

Mein Freund Otsche, der Ganove erzählt:

In Hamburg hatten sie mir acht Jahre Knast aufgebrummt, noch dazu Zet, nun sollte ich nach Kassel auf Termin, wegen Bettels mit der Waffe. Besser war, ich ging vorher stiften.

Unterwegs über Nacht lag ich mit noch zweien auf der Zelle, einer war stikum, der andre ein richtiger Stubben von der Portokasse, nichts für unsereinen. Ich brach ein Stück Eisenbeschlag vom Bett los, mit dem Ganoven bog ich’s zurecht, dass es über der Hüfte auf dem bloßen Leib von selbst festsaß. Dann rissen wir dem Schemel ein Bein aus, ich brauchte einen Hebel. Der Halbseidene wurde getrampelt, dass er uns nicht verpfiff, und der Wachtmeister pennte halb bei der Filzerei, ich bekam die Sachen mit auf die Bahn. Den ganzen Tag hielt unser Express in jedem Kaff, erst um zehn sollten wir in Kassel sein. Nach vier war also die beste Zeit zum Türmen, dann wurde es dunkel. Es war übrigens kalt draußen, zwei, drei Grad, manchmal schneite es auch. Der Halbseidene muckste nicht, es war auch egal, ob er mitmachte oder nicht, wenn er nur das Maul hielt. Übrigens war ich ganz ruhig, ich wusste bestimmt, die Sache würde klappen.

Kurz vor fünf hielten wir irgendwo endlos. Ich zog mich aus, nahm Brechstange und Schemelbein vom Leib und blieb erst mal in Hemd, Hose und Strümpfen. Als der Zug anfuhr, hatte ich schon die Scheibe aus dem Fenster, es war ohne Laut abgegangen.

Die verdammte erste Gitterstange brachte mich in Schweiß, ich hatte keinen rechten Raum, mein Brecheisen [90]anzusetzen. Es krachte ein paar Mal schrecklich, wir hörten die Transporteure auf dem Zellengang reden, aber uns hatten sie nicht gehört.

Als die erste Stange einmal los war, brachen die andern weg wie Harzer Käse. In fünf Minuten hatte ich das Fenster frei und hing mit dem halben Leibe draußen. Der Wind pfiff mich an, es war dunkel, bitterkalt. Ich wollte grade zurück, als ich merkte, dass der Zug langsamer fuhr, in der Ferne sah ich die Lichter einer Station.

Mit dem zertrümmerten Gitterfenster konnte ich unmöglich auf einen Bahnhof, ich fuhr rein ins Abteil, schrie dem andern zu: »Ich hau ab. Station!«, und turnte, diesmal mit den Beinen zuerst, aus dem Fenster. Einen Augenblick hing ich am linken Arm, der Wind biss unsinnig in mein Gesicht, die Stationslichter kamen erschreckend nah, dann warf ich mich mit aller Gewalt nach rechts, um nicht unter die Räder zu kommen.

Der Zug schrie mit Geknatter und Steinspritzern an mir vorbei, ich lag auf dem scharfen Schotter im Nachbargleis. Als ich aufstand, waren die Knochen heil, aber die Hose hing in Fetzen, an den Beinen lief mir das Blut herunter und die Handflächen waren bloßes Fleisch.

Vorne fing Geschrei an, der Zug stand, Schatten liefen. Ich machte, dass ich von der Bahn kam. Dabei flog ich über die Signaldrähte, rollte die Böschung runter und landete im Graben, in Eis und Wasser. Es brannte wie Feuer, der Atem blieb mir lange weg.

Ehe ich noch hoch war, sah ich sie oben laufen, die Greifer. Auch am Grabenrand kamen zwei, darum blieb ich liegen, wenn mich die Eissuppe auch so krumm zog, dass ich dachte, ich käme nie wieder hoch.

[91]Als sie vorbei waren, rappelte ich mich auf. Ich war krumm wie eine Kanone und für die ersten hundert Schritt brauchte ich wohl eine Stunde. Hemd und Hosen waren aus Eis und schabten mir das bisschen Haut ab, das der Schotter mir noch gelassen hatte. Aber nach einer Weile fühlte ich nichts mehr und lief weich wie in Butter.

Ich hatte mir geschworen, nichts anzufassen im ersten Dorf wegen Kleidern und Essen. Überall waren Leute unterwegs und Lichter brannten, so schlug ich mich durch die Felder, bis ich auf eine Chaussee kam, die ich weiterlief.

Es mochte gegen neun sein, als ich in dem bisschen Mond wieder ein Dorf sah. Aber die Häuser legen verdammt eng und die Mistbauern schliefen noch nicht, so schlich ich lange herum, ohne was rechtes zu finden. Schließlich machte ich, dass ich weiterkam.

Ich war müde, auch das Frieren hatte wieder angefangen. Ich hatte das Gefühl, als ob meine Füße, von denen der letzte Fetzen Strumpf längst abgefallen war, immer dicker wurden. Ich mochte gar nicht hin fassen.

Schließlich kam ich an einen Ausbauhof, ganz einsam, grade das Rechte für einen Mann wie mich. Im Wohnhaus brannte Licht, Gardinen gab’s keine, so konnte ich die beiden Bauersleute hocken sehen, er qualmte, sie nähte. Ich wollte keine faule Sache anfangen, ich dachte: Warte lieber, bis sie schlafen sind. Eine Ewigkeit stand ich vor dem Fenster, alle Viertelstunde sagte sie ein Wort, aber er antwortete nicht einmal, so ein blödes Pack, diese Bauern!

 

Unterdes versuchte ich, die Hände ein bisschen warm zu kriegen. Die Finger standen krumm, wie die Backen einer Zange, ich bog sie grade, steckte sie in den Mund, keine Möglichkeit. Ich war steif wie eine Latte. Darum ging auch [92]alles schief. Als ich die Scheibe eindrückte, fiel sie ins Zimmer, es gab Lärm, Hunde bellten, ein Fenster wurde hell – ich musste sehen, dass ich weiterkam.

Eine bildschöne Wut hatte ich im Leib, ich lief los, ich weiß nicht wie lange. Am liebsten wäre ich hingefallen und verreckt, aber ich mochte den Greifern nicht den Spaß tun, mich so dumm selbst in die Pfanne zu hauen.

Gegen zwölf kam ich wieder in ein Nest und nun musste ich zum Schluss kommen, soviel war klar. Gleich im ersten Hof stand das Wagenschauer auf, ich kroch rein, konnte aber nichts für mich finden. Eine Weile lag ich im Kutschwagen unter dem Knieleder, döste auch einmal ein. Aber die Kälte hatte mich gleich wieder wach.

Hinter einer Wand hörte ich das Rasseln von Kuhketten. Gegen das Vorlegeschloss brauchte ich nur ein paar Mal mit einem Stein zu schlagen, dann war’s offen. Ich hängte es in die Krampe, als hätten sie vergessen, es zuzuschließen, und zog die Tür sacht hinter mir zu.

In die warme dunkle Luft hineinzukommen, war wie ein Tannenbaum zu Haus bei Muttern. Ich machte nur ein paar Schritte, dann warf ich mich blindlings auf’s Stroh zwischen zwei Kühe. Sie blieben liegen, ich wühlte mich immer tiefer ein, ich hätte heulen mögen vor Wonne.

Fünf Minuten lag ich so, langsam zog die Wärme in meinen Körper, dann begannen die Schmerzen. Ich presste Faust und Stroh ins Maul, um nicht laut zu brüllen. Hände und Füße schnitt es mit Messern, meine abgescheuerten Schenkel brannten wie der Teufel. Ich rieb mich ganz mit Kuhdreck ein, das half eine Weile, aber dann legten die Schmerzen wieder los.

Irgendwie ging die Nacht vorüber. Als es gegen Morgen [93]war, kroch ich die Leiter hoch zum Heuboden. Es war dort wenigstens windgeschützt und einigermaßen warm. Dann kamen die Weiber zum Melken. Ihre Stimmen und die Strullgeräusche der Milch in den Eimern regten mich auf, ich schlief aber schließlich darüber ein. Am Nachmittag war ich wieder so weit, dass ich mich runter traute und eine Mahlzeit von Milch, Futterrüben und Kleie hielt, die mir guttat.

Aus dem Hin- und Hergehen und den Gesprächen hatte ich gemerkt, dass der Pferdestall mit der Knechtekammer direkt an den Kuhstall stieß. Nun kam es darauf an, ob zum Abendessen alle auf einmal ins Wohnhaus rübergehen würden oder ob einer bei den Pferden blieb. Als die Türen klappten, war ich schon halb die Leiter vom Heuboden runter. Weder im Kuh- noch im Pferdestall war einer. In der Knechtekammer brannte sogar Licht, eine gewöhnliche Kerze, auf ein paar Haken in der Wand hingen eine Menge Sachen.

Ich glaubte, jemand ginge über den Hof, ich war viel aufgeregter als draußen beim größten Bruch. Ich griff mit beiden Armen um das Paket Sachen, riss sie mit einem Ruck von den Haken. Die Aufhänger zerplatzten und ein paar Haken gingen auch mit. Ich schoss hinaus auf den Hof ins Dunkel, lief hinter die Scheune, schmiss den ganzen Klumpatsch auf eine Kartoffelmiete und lauschte. Nichts.

Ich hatte ungefähr eine Ahnung von dem, was ich gegriffen hatte, ich konnte mich von unten auf anziehen. Zwei Hemden, zwei Unterhosen, eine dicke gestrickte Weste, eine Tuchweste, eine Joppe und eine Manchesterhose. Ich wurde mal so dick, wie ich gewesen war, und eine Masse Zeug ließ ich noch liegen. Nur keine Mütze, keine Strümpfe [94]und keine Schuhe. Ich überlegte, ob ich nicht noch mal reingehen sollte, aber ich hatte keinen rechten Mumm, wollte lieber bis zum nächsten Dorf warten.

Es war bitter, wieder mit den bloßen wunden Füßen in den Schnee zu marschieren, aber ich reparierte das bald. Ich holte mir aus einem Stall ein paar Holzschuhe. Auch eine Mütze bekam ich, als ich kurz nach zehn auf der Chaussee einem Arbeiter begegnete. Ich markierte betrunken, rempelte ihn an und schob ihm mit dem Arm die Mütze vom Kopf. Ich stellte mich drauf, als wüsste ich nichts davon. Es war ein grässlich hartnäckiger Kerl, eine halbe Stunde stand er und bat mich, von seiner Mütze runter zu gehen, aber als Betrunkener brauchte ich nicht ein Wort davon zu verstehen. Endlich zog er schimpfend Leine. Ich war scharf auf seine Schuhe und Strümpfe, aber das hätte die Polente sofort auf meine Spur gebracht, so war ich einfach ein Besoffener aus dem nächsten Kaff.

Ich lief die ganze Nacht und das beste Stück des nächsten Tages mit viel Kohldampf im Bauch. In all den Taschen hatte sich nicht ein Groschen gefunden, nicht eine Tabakskrume, ich bekam mal wieder einen richtigen Begriff von diesen Kerlen auf dem Lande.

Schließlich kam ich auch so nach Kassel, drückte mich auf den Wartesälen herum, aber es roch da sauer nach Schmiere, so machte ich, dass ich wieder fortkam und lief durch die Straßen. Ich kannte in Kassel keinen Schwanz und keine Gelegenheit, aber irgendetwas musste ich drehen und das heute Abend noch, soviel war klar. Ich kam durch verschneite Anlagen, in denen fast kein Mensch war, es wurde schon dunkel, dann durch Villenstraßen, dann in ein Arbeiterviertel.

[95]Einmal kam ich hinter einen Rollwagen, er hielt bald da, bald dort, und lud seine Kisten ab. Waren die Kollis zu groß, so half auch der Kutscher dem Ablader, gemeinsam trugen sie die Kiste ins Haus.

Ich suchte mir ein Frachtstück aus, nicht zu groß, so ein Dings, das aussah, als könnte was drin sein, mich in Gang zu bringen. Die Kiste schnappte ich mir ruhig, als die beiden im nächsten Haus waren, und ging in einen Torweg. Da war eine Kellertreppe, ich stieg hinunter und setzte mich vor den Keller.

Nun kam es darauf an, ob die Brüder gleich merken würden, dass die Kiste fehlte. Aber eine halbe Stunde verging und nichts rührte sich. So machte ich mich dann mit meinem Kolli auf die Socken. Ich kam wieder durch die Proletengegend, dann durch die Villenstraßen. Unterwegs simulierte ich, was drin sein konnte. Es war viel leichter, als ich taxiert hatte, höchstens dreißig Kilo. Bloß nichts zu saufen, dachte ich. Denn dann betrank ich mich mit meinem hohlen Magen und wurde gekitscht, soviel war klar.

In den Anlagen war es still und dunkel, es schneite, kein Mensch zu sehen. Hinter einem Gebüsch warf ich die Kiste ab. Sie war mit einem Eisenband zugemacht, verdammt schwer aufzukriegen. Ich musste einen Holzschuh als Hammer nehmen, natürlich ging die Sohle zu Bruch.

Ich spannte nicht schlecht, als ich unter den Deckel fasste, aber es war schon richtig: Flaschen! Ich steckte mir ein paar ein und ging zur nächsten Laterne. Dralles Birkenhaarwasser! Es gab Schlimmeres, aber viel Marie brachte die Sore nicht. Als ich mir die Taschen vollsteckte, merkte ich, dass doch noch anderes in der Kiste war, ich geriet auf Kartons, in denen Parfüms und Seifen waren, so [96]Geschenkpackungen zu Weihnachten. Auch davon steckte ich Proben ein, warf auf die Kiste Schnee, zog den kaputten Holzschuh an und ging wieder los.

Bei den Proleten suchte ich mir einen Babutz, das Geschäft war schon zu, aber ich klingelte an der Wohnung und fragte die Frau nach dem Meister. Ich möchte gern noch rasiert werden. Sie ließ mich rein, ich sah ihr wohl so aus, als könnte ich Rasieren brauchen.

Ich sah gleich, dass ich den Richtigen gefasst hatte, so einen kleinen Gelben, der gern was verdient, wenn es nichts kostet. Von Rasieren sagte ich nichts mehr, ich zog meine Proben aus der Tasche und fragte, ob er die Sachen brauchen könnte. Die Frau stand dabei und sah mich nur an, sie hatte auch schon gemerkt, dass mein einer Holzschuh kaputt war.

Erst tat er zach, mit so ein bisschen Kram gebe er sich nicht gern ab. Ich meinte, wo das herkäme, wäre vielleicht noch mehr. Er gab mir zehn Mark und wollte aufbleiben, bis ich wiederkäme, lieh mir auch einen Rucksack, dass ich nicht nachts mit der Kiste über die Straße zu schleppen brauchte.

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