Das Abenteuer des Werner Quabs

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Das Abenteuer des Werner Quabs
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Hans Fallada DAS ABENTEUER DES WERNER QUABS

1

In einer kleinen norddeutschen Stadt lebte vor mehreren Jahrzehnten ein Buchhandlungsgehilfe mit dem Namen Werner Quabs. Nach vollendeter Schulzeit war Werner Quabs, da für die Landarbeit völlig untauglich, von seinem Vater in die Stadt und in die Buchhandelslehre gebracht worden mit den Worten:

»Da! Nehmen Sie ihn, Herr Rathsack, und sehen Sie zu, was Sie mit ihm anfangen können! Für Vieh und Acker taugt der Junge jedenfalls nichts. Setze ich ihn zum Melken unter eine Kuh, so finde ich ihn nach einer halben Stunde genau so wieder, wie ich ihn hingesetzt habe: auf dem Melkschemelchen, den leeren Eimer zwischen den Knien. Nur der Kuh ist es langweilig geworden, und sie ist fortgegangen, ohne daß es der Werner auch nur gemerkt hat … Schlafen? Wenn es nur Schlafen wäre! Auch der längste Siebenschläfer wacht einmal auf. Nein, der Bengel träumt, ich möchte nur wissen, von was er ewig träumt!«

Ja, von was träumte der Lehrling und spätere Gehilfe Werner Quabs allezeit? Oft sah ihn sein Lehrherr und Arbeitgeber in den kommenden Jahren mißtrauisch von der Seite an. Von was träumte Werner?

»An was denkst du wieder, Bengel? Solltest du nicht die Remittenden heraussuchen, registrieren und verpacken?! Nun? Wird’s bald?! An was hast du gedacht?!«

»An nichts, Herr Rathsack!«

Es war zum Verzweifeln! Da lief ein Junge umher wie ein Baum, starkknochig, fast ein Riese, mit merkwürdig hellen, sehr großen Augen im Gesicht, und war nicht wach zu kriegen für dieses Leben, das er doch lebte! Lief umher? Stand da und dort, träumte in den Ecken, nahm für einen Kunden ein Buch aus dem Regal, reichte es schon über den Ladentisch – und vergaß urplötzlich Tisch, Kunden, Buch so völlig, daß der aus seiner Hand fallende Band wohl den Kunden, nie aber den Jungen erschreckte.

»An was hast du nun wieder gedacht, verfluchter Bengel?!«

»An nichts, Herr Rathsack!«

»Ich schicke dich zurück zu deinem Vater, Werner! Heute noch!«

»Jawohl, Herr Rathsack!«

»Aber dein Vater nimmt dich bestimmt nicht wieder auf! Und was willst du dann anfangen?«

»Das müßte ich mir erst überlegen, Herr Rathsack … Vielleicht würden Sie mich wieder nehmen, ja, bitte?«

Es war, um sich die Haare Stück für Stück jedes einzeln auszuraufen! Er war noch gar nicht hinausgeworfen und bat schon wieder herzlich um Aufnahme!

»Werner, Junge, ich bitte dich: wache doch endlich auf! Du kannst doch nicht dein ganzes Leben verträumen! Sage mir wenigstens, an was du denkst! Vielleicht kann ich dir helfen … Also, an was denkst du ewig?«

»An nichts. Ganz bestimmt an nichts, Herr Rathsack!«

Und dabei sah Werner Quabs seinen Dienstherrn mit den großen, hellen Augen so strahlend offen an, daß der ihm fast geglaubt hätte.

»Aber er lügt doch, er lügt ganz bestimmt!« sagte Herr Rathsack dann hinterher zu seiner Frau. »Er hat was stecken im Kopfe – und ich komme auch noch dahinter!«

»Er wird es schon noch einmal von selbst verraten«, meinte dann die Eheliebste tröstend. »Das ist bei ihm wie bei den jungen Mädchen, die sich zum ersten Mal verliebt haben. Die möchten auch ihre Liebe ganz für sich allein behalten – und plötzlich weiß sie die ganze Welt, und sie steht sogar im Blättel. Laß ihm nur Zeit!«

»Ich komme ihm noch auf die Schliche!« murrte Herr Rathsack drohend.

Und er versuchte es auf verschiedene Weisen. Er gab dem Jungen Kriminalromane und Abenteuerbücher zu lesen, süße Liebesgeschichten und technische Abhandlungen, die Erlebnisse der Erfinder und Naturforscher –: er entdeckte keine Vorliebe, keine Abneigung bei dem Lehrling. Er beobachtete ihn heimlich auf seinen Gängen, horchte nach, wie Quabs seine freien Sonntage verbrachte, drang unter den fadenscheinigsten Vorwänden in die Feierabendstille seiner Bude, behielt ihn scharf im Auge, wenn er junge Mädchen bediente und reizende Frauen, schenkte ihm einen Hund, später ein Fahrrad – und erfuhr nichts!

Trotz aller Listen mußte Herr Rathsack sterben, ohne dem Bengel auf die Schliche gekommen zu sein. »Laß ihn immer die Buchhandlung allein für dich führen«, sprach Herr Rathsack tröstend auf seinem Sterbebett zu seiner Frau. »Anständig ist er, solide ist er, und ein ganz tüchtiger Buchhändler ist er schließlich doch noch geworden, trotz seiner Träumerei – durch mich! Wenn du nur erfahren könntest …«

»Was denn? Mein Guter, Lieber, was soll ich denn erfahren?«

Aber Herr Rathsack war schon dorthin gegangen, wo es ihm bestimmt keine Beschwerden mehr machte, an was sein Gehilfe Werner Quabs eigentlich dachte. Für was ein so starker, freundlicher junger Mensch eigentlich all seine Kräfte aufsparte, welche Aufgabe er in dieser Welt vor sich sah, welchen unmöglichen, ihm unbedingt auszuredenden Heldentaten er eigentlich entgegen träumte …

Zwei Tage blieb die kleine Buchhandlung, die einzige des Städtchens, geschlossen: an Herrn Rathsacks Todestag und an Herrn Rathsacks Beerdigungstag. Dann wurden die gelben Vorhänge wieder hochgezogen, und nun wirkte Herr Werner Quabs allein, ohne Herrn und Beobachter, in dem kleinen Laden.

Zuerst schien alles unverändert. Unverändert freundlich und träumerisch gab Werner Quabs seine Ratschläge für ein gutes Buch zur Konfirmation, dekorierte zu Weihnachten wie eh und je ein klassisches und ein modernes Bücherfenster, sorgte rechtzeitig dafür, daß zu Ostern der Vorrat an Schulbüchern ergänzt bereitlag und fing vier Wochen nach Ostern an, die streng verbotenen Klatschen oder Eselsbrücken an verzweifelte oder tolldreiste Gymnasiasten unter Verschwörergemurmel zu verkaufen.

Aber allmählich, als die Jahre unverändert dahingingen mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter, als Werner Quabs wirklich der Herr der Ratsbuchhandlung wurde und die altgewordene Frau Chefin kaum noch zu Weihnachten ihre Stuben über dem Laden verließ, allmählich, als aus dem jungen Werner Quabs der Mann in den besten Jahren »Herr Quabs« wurde, merkten die Kunden doch Veränderungen: ein Zipfel vom Schleier des Geheimnisses lüftete sich.

Zuerst stellten die Kunden der Leihbibliothek fest, daß nie mehr Reise-, Abenteuer- und Tiergeschichtenbücher zu haben waren. Immer sollten sie ausgeliehen sein, oder sie waren zum Buchbinder gesandt, von dem sie nie zurückzukommen schienen. Und wenn nun die rechten Bücherkäufer die Ladenregale entlang strichen, entdeckten sie, daß Herr Quabs gar nicht mehr träumerisch und versonnen hinter seinem Ladentisch stand, sondern er schlich ihnen argwöhnisch nach, und wenn sie einen Stanley oder Hedin oder Nansen oder Hagenbeck aus den Fächern fischten, nahm ihnen Herr Quabs mit fast unhöflicher Hast das Buch aus der Hand und behauptete, es sei bestellt oder im Einband beschädigt oder viel zu teuer. Und mußte er’s schließlich doch hergeben, so lief er dem Kunden noch bis unter die Ladentür, ja auf die Straße nach und behauptete, das Buch werde doch nicht ansprechen, es sei vertanes Geld, und fast flehend versicherte er zum Schluß, er werde das Buch gern umtauschen, auch nach Ladenschluß, auch etwa mit einem Fleck …

Bald war es im ganzen Städtchen bekannt, daß Herr Quabs entschlossen sei, alle Abenteuer für sich zu behalten, und rasch fanden sich rohe Burschen, die sich nicht entblödeten, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche den Laden zu betreten und die »Gesammelten Werke« von Livingstone zu verlangen oder »In Nacht und Eis« von Nansen. Sie quälten den armen Quabs, der sie mit einem Schlag seiner Faust hätte zertrümmern können, ungestraft eine halbe Stunde lang, und erst im letzten Augenblick ließen sie sich von dem erlöst Aufatmenden das Paket wieder entreißen.

Diese Botschaft, daß ein so versonnener, stiller, freundlicher Mensch plötzlich so rappelköpfisch geworden war, schien allen so unglaublich, daß nicht nur unreife Elemente, nein, daß auch gediegene Charaktere wie Gerichtsassessoren, Pfarrvikare und ergraute Gesanglehrer die Probe aufs Gerücht machten und abends dann vergnügt am Stammtisch erzählten: »Es stimmt alles, meine Herren, was erzählt wird. Nein, es ist noch viel schlimmer! Hat dieser unselige Mensch doch eine halbe Stunde lang versucht, mir einzureden, ›Das Geheimnis der alten Mamsell‹ von der Marlitt sei für meinen Jungen viel passender als ›Brehms Tierleben‹!«

Worauf sich mindestens drei weitere Herren der Stammtischrunde zum gleichen Versuch entschlossen!

Dies waren schlimme Zeiten für Werner Quabs. Vom frühen Morgen an stand er hinter den Scheiben der Ladentür, und schien ein vorübergehender Herr zum Eintritt in die Bücherstube entschlossen, so erzitterte er, war’s aber eine Frau oder ein Mädchen, so atmete er auf. Ja dieses eine Gute brachten ihm doch diese schweren Tage: die Erkenntnis von der Sanftheit und Umgänglichkeit weiblicher Wesen. Bis dahin hatte er, versonnen in seine Träume, das langhaarige Geschlecht nie recht mitgerechnet. Nun aber empfand er’s wohltuend, ungefährdet neben so einer jungen Frau in seinem Laden und in seiner Schatzkammer zu stehen und mit ihr über den neuesten Ompteda oder Zobeltitz zu reden. Ordentlich gut tat das, ein Ausruhen war es zwischen zwei Stürmen, und lieber nahm er das etwas spießige Fräulein Lisa Kippferling mit ihren seelenvollen, aber säuerlich gewordenen Tiraden in den Kauf als den hohen Bürgermeister der Stadt selbst, der ihn zwar nicht aktiv durch Entführen von Büchern quälte, aber selten eine Anrede unterließ wie: »Nun, Sie junger Drachentöter?« oder: »Wie schmeckt eigentlich gebratener Tapirrüssel, Herr Quabs?« Wobei er behaglich prustend lachte.

Nein, lieber unterhielt sich Werner Quabs dann noch mit der Lisa Kippferling, Tochter eines nicht unvermögend gestorbenen Schlossermeisters, die ihm sanft näselnd von den blutlosen Helden ihrer Lieblingsbücher erzählte, auch von den Träumen, die sie heimsuchten. Dazwischen mit etwas wacherer Stimme von ihren Hypothekenschuldnern, von der Art, wie Zinsen gezahlt oder nicht gezahlt wurden, wie sie den Säumigen zusetzen müßte, wie aber doch ein Mann (unter ihrer Leitung) die Faulen noch rascher in Schwung bringen könne …

 

»Sie ahnen ja nicht, Herr Quabs, wie gemein Männer werden können – sogar zu einer Dame!«

Und während all dieser Gespräche, die aber mehr Monologe waren, unternahm der Affenpintscher von Fräulein Kippferling, immer von neuem, aufgeregt kläffend, wütende Attacken gegen die Hosenbeine von Werner Quabs. Sie sagte sanft mahnend: »Nicht doch, Biline«, was den Zorn des elenden Köters noch steigerte. Quabs setzte sich auf den Ladentisch und zog die Beine an, wütend sprang Biline nach den Stiefeln, die ihr Besitzer abwechselnd hob und senkte.

»Glauben Sie, daß Bilinchen eifersüchtig ist? Nicht doch, Bilinchen! Wir werden ihr doch keinen Grund zur Eifersucht geben, Herr Quabs?«

Tiefer, seelenvoller Blick, und einen Moment später ein neckisches Lachen, so falsch, als quietsche eine Tür.

Aber das alles ließ sich ertragen, lächelnd und geduldig, Lisa und Biline waren die Mühe wert. Denn Erfahrung hatte den ängstlichen Buchhalter gelehrt, daß auch der roheste seiner Quäler unter den stumm beobachtenden Blicken von Fräulein Kippferling kleinlaut und verzagt wurde. Quabs hatte das ganz richtige Gefühl, daß Lisa schon nach zwei Malen die Sachlage klar durchschaut hatte, und wenn sie dann mit trockener, angriffslustiger Stimme sagte: »Zeigen Sie erstmal, wieviel Geld Sie eigentlich in der Tasche haben, eh Sie so teure Bücher angrapschen, Sie Jüngling, Sie!« – so war er ihr aufrichtig dankbar und bereit, vieles andere zu erdulden.

Er war ihr auch darum dankbar, weil sie mit dem Feingefühl, das auch die übersäuertsten Mädchen haben, nie auf seinen Tick, nie auf seinen Traum zu sprechen kam. Von dem doch nun alle sprachen, das ganze Städtchen, Junge und Alte, Weiblich und Mann. Sogar zu der Greisin Rathsack in der Altenteilstube über dem Laden war nun schon die Kunde gedrungen, und manchmal, über dem Essen, sah ihn die alte Frau kopfschüttelnd an und sagte: »Das sind also deine Schliche gewesen, Werner, über die sich mein lieber Seliger noch auf dem Sterbebett den Kopf zerbrochen hat. Löwen schießen! Das war wirklich nicht nett von dir, Werner, es gerade ihm nicht zu erzählen, und nun weiß es die ganze Stadt!«

»Nicht Löwen!« protestierte, noch immer rot werdend, Werner Quabs.

»Nun denn, meinetwegen Elefanten oder Gorillas – das ist doch ganz egal, Werner! Die Hauptsache bleibt: du hast es ihm nie gesagt!«

»Auch nicht Elefanten oder Gorillas, Frau Rathsack«, widersprach Quabs, sehr rot, aber bestimmt. »Nichts von alledem!« Und, nach einem kurzen Zögern: »Ich warte einfach auf das Abenteuer.«

»Auf was?«

»Auf das Abenteuer. – Ich möchte einfach …« Er verwirrte sich immer mehr. »Etwas Außergewöhnliches, verstehen Sie, Frau Rathsack, Napoleon, oder nehmen Sie auch nur Heinrich Schliemann …«

»Ich verstehe kein Wort, Werner, und ich bin überzeugt, ›er‹ hätte dich auch nicht verstanden. Gottlob! – Abenteuer … Aber du bist kein Abenteurer, Werner, du bist ein sechsunddreißigjähriger Buchhändler! Wie war heute die Tageskasse?«

Die Tageskasse wurde korrekt angesagt und übernommen, langsam verloren die Backen von Werner Quabs ihr Rot. Aber der Glanz des Abenteuers verlor sich nicht aus ihm, wenn er auch nicht mehr so ruhig strahlte wie in all den Jahren vordem. Ja, so war es: zwanzig Jahre lang hatte Werner Quabs seine Hoffnungen verborgen vor aller Welt in seinem Herzen tragen können, geduldig wartend der Stunde, plötzlich aber, im einundzwanzigsten Wartejahr, war er unruhig geworden. Nun hatte er so lange geduldig gewartet, und immer umsonst, sollte er vielleicht sein ganzes Leben vergeblich warten müssen?

Wenn wir jung sind, träumen wir alle den Traum von der einen ungewöhnlichen Tat, die unser Leben von der Masse all der anderen durchschnittlichen Leben unterscheiden soll. Wir können den Gedanken einfach nicht ertragen, daß wir genauso geboren werden, leben und sterben sollen wie alle. Wir wollen eine unvergängliche Spur hinterlassen auf diesem vergänglichen Stern. Später dann, nach den Zwanzig, erblassen unsere Träume langsam; wir sehen, wir haben genug zu tun, unsere Tagesaufgaben so gut zu erledigen wie alle anderen. Dann erscheint uns nur noch manchmal in der Nacht der Traum von ehemals, wir lächeln ihm zu, wir sprechen: »Was für Kinder wir doch waren! Ade!«

Werner Quabs war dem Traum seiner Jugendjahre nie untreu geworden. So lag es in ihm, er hatte es nicht bestimmt. Mit nie verwelkender Frische lebte sein Traum zu jeder Tag- und Nachtstunde in ihm; was das Leben ihm an Arbeit und Aufgaben brachte, blieb fast unwirklich, wirklich allein blieb sein Traum. Da er ein Knabe war, noch daheim auf dem Hof seines Vaters, fiel eines jener unvergänglichen Bücher in seine Hände, der Robinson oder der Gulliver, oder war es das Märchen von dem, der das Gruseln lernen wollte …?

Zuerst muß es bei ihm wie bei allen gewesen sein, daß er das Ungewöhnliche in der Ferne suchte. So folgten die Jagdabenteuer und die Entdeckungsreisen, die Kriegshelden und die großen Seefahrer. Das Fernweh faßte ihn, andre Sprachen, sonnige Küsten … Dann – damals war er schon Lehrling in der Buchhandlung des Herrn Rathsack –, dann begriff er plötzlich, daß das Ungewöhnliche, das Abenteuer, gar nicht in der Ferne liegen muß, daß es in jedem liegt, in ihm und um ihn, man muß nur warten und bereit sein. Einen Löwen zu schießen, das konnte einen Knaben locken und begeistern, der Mann entdeckt, daß so etwas ein Leben nicht reich machen konnte, es nicht unvergänglich unterscheiden konnte von allen anderen. Für ihn selbst, für Werner Quabs selbst. Ruhm konnte dabei sein, aber er war nicht nötig. Nötig war allein das Bewußtsein im eigenen Innern, einmal etwas getan zu haben, was die anderen nicht taten, sein Leben für eine Sache, die es wert war, eingesetzt zu haben …

Es kamen die Zeiten, da er jeden freien Abend auf die Stadtbücherei ging, sich das in gewichtige Bände gebundene Stadtblättchen geben ließ und geduldig Band für Band durchsah, unter den »Stadtneuigkeiten« suchend, was an Ungewöhnlichem sich in den letzten fünfzig oder siebzig Jahren in der Stadt ereignet hatte. Gewissermaßen zahlenmäßig wollte er sich beweisen, wie groß seine Aussichten waren, dem Abenteuer in dieser kleinen, stillen, auf der platten Norddeutschen Tiefebene gelegenen Stadt zu begegnen.

Gewiß, er fand den Mann der Freiwilligen Feuerwehr, der aus der verqualmten Dachstube des brennenden Hauses das schon erstickende Kind rettete. Er entdeckte, fast regelmäßig wie die ersten Stare in jedem Jahr, sobald die Wasser des Stadtsees sich erwärmten, den Spaziergänger, der Ertrinkende aus den Fluten zog. Ebenso regelmäßig tauchte der Schlittschuhläufer auf, der durchs Eis Gebrochene dadurch rettete, daß er sich lang auf das Eis warf und über den bröckelnden, splitternden Rand dort einen schon Erstarrten auf die feste Fläche zog. Häufiger noch waren die Beherzten, die sich durchgehenden Pferden in die Zügel warfen. Und einmal in siebzig Jahren entdeckte er einen geistesgegenwärtigen Mann, der bei einer Tanzfeierlichkeit im »Dithmarscher Hof«, ein Knacken im Gebälk richtig deutend, mit dem Ruf: »Freibier! Freibier drunten auf dem Marktplatz!« die Tänzer rechtzeitig und ohne Panik aus dem Gasthof gelockt hatte, ehe der Dachstuhl des Tanzsaals zusammenbrach.

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