Buch lesen: «Tunnel über der Spree»
»Tunnel über der Spree«: Unter diesem von Theodor Fontane entlehnten Motto schenkt uns Hans Christoph Buch neue Literaturgeschichten. Hier präsentiert sich ein herrlich unterhaltsamer und gewitzter Autor, der seine vielbeachteten Erinnerungen an den Literaturbetrieb leichtfüßig fortschreibt. Erzählungen und Essays, Porträts und Vignetten ergänzen einander zu einer Gemäldegalerie, in der H. C. Buch Wegbereiter und Weggefährten Revue passieren lässt: von Günter Grass, Martin Walser, Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger und Marcel Reich-Ranicki bis zu Wolf Biermann, Peter Schneider, Sarah Haffner, Uwe Kolbe und F. C. Delius. Geschichten über Goethe, Chamisso und Kafka ergänzen den Band. Buch teilt aus, mit Humor und Witz führt er den Leser zurück ins Ost- und Westberlin der 1960er und 1970er Jahre und dokumentiert so eine Schriftstellergeneration in einem kurvenreichen Parcours, der den Werdegang des Autors nachvollzieht.
für Joachim Unseld
INHALT
WER LACHT HIER, HAT GELACHT?
Eine Reminiszenz
I. WESTOSTBERLIN
Blues für Sarah
Det is allet history! Mosaikstein zu einem Biermann-Porträt
Literatur ist eine Frage des Charakters Brief an Peter Schneider
Wird’s bald besser? Klaus Schlesinger zum Beispiel
Notiz zu Uwe Johnson
II. EIN ZEITALTER WIRD BESICHTIGT
Der Nussknacker. Hommage an Günter Grass
Nachmittag eines Fauns. Zu Gast bei Martin Walser
Hans Magnus Enzensbergers langer Weg nach Westen
Bewegung ist Leben. Erinnerung an Siegfried Unseld
Ich schreibe keine Romane mehr Hausbesuch bei Marcel Reich-Ranicki
III. LITERATURGESCHICHTEN
Unter Palmen
Peter Schlemihls letzte Reise
Bei Betrachtung von Schillers Schädel
Kafka im Park. Eine Kindergeschichte
IV. DICHTER UND IHRE GESELLEN
Der Schriftsteller ist eine private Person Laudatio auf Uwe Kolbe
Meckeliana und Meckeliaden
H. C. Artmann proklamiert den poetischen Akt
Walter Höllerer: Der lag besonders mühelos am Rand
V. BAGATELLEN ZUM MASSAKER
Schriftsteller sind zu größerer Verworfenheit fähig als andere Menschen
Spiel mir das Lied vom Tod Paul Celan und kein Ende
Brauchen wir eine Neuauflage von 1968?
VI. BLICK ZURÜCK NACH VORN
Gert Loschütz: Johannes Schenk baut einen Stuhl
Porträt des Autors als junger Dachs Frühe Briefe von und an Nicolas Born
Frei ist man nur allein. Gedenkblatt für Reinhard Lettau
Gerd-Peter Eigner: Das Mammut
VII. SCHLUSSWORT IN EIGENER SACHE
Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich? Meine multiple Identität
Delius und ich. Eine Richtigstellung
Löwe, Ochs und Esel Sechs Thesen zum Romanschreiben
Die Forelle. Danksagung für einen Literaturpreis
Danksagung
WER LACHT HIER, HAT GELACHT?
Eine Reminiszenz
Das schallende Gelächter von Walter Höllerer
das wiehernde Gelächter von Hubert Fichte
das bärbeißige Lächeln von Uwe Johnson
die meckernde Lache von Peter Rühmkorf
der grimmige Humor von Peter Weiss
das verschlagene Grinsen von Hermann Piwitt
die Lachkaskaden des Hans Magnus Enzensberger
im Rohr krepierende Lachsalven von Günter Grass
das homerische Gelächter von Johannes Bobrowski
das prustende Gelächter von Günter Kunert
das lautlose Lachen von Friedrich Christian Delius
das ansteckende Lachen von Peter Schneider
das bellende Gelächter von Fritz J. Raddatz
Klaus Wagenbachs gackerndes Gelächter
das grollende Gelächter von Erich Fried
das selbstzufriedene Lächeln von Siegfried Unseld
das fauchende Lachen von H. M. Ledig-Rowohlt
die grundlose Heiterkeit des Peter O. Chotjewitz
die stille Heiterkeit von Renate Höllerer
das heisere Lachen von Nicolas Born
Heiner Müller der pausenlos Witze erzählt
über die Jochen Schädlich nicht lachen kann
das Mona-Lisa-Lächeln der Gisela Elsner
Ingeborg Bachmann der das Lachen im Hals stecken
bleibt auf- und abschwellendes Lachen der Gruppe 47
das aus der geschlossenen Tür des Plenarsaals dringt
dumpf dröhnendes Gelächter auf dem Podium Allen
Ginsberg und Gregory Corso lachen um die Wette
sekundiert von Robert Creeley und Ted Joans ein
Lachkanon in den Artmann nicht einstimmt auch Ernst
Jandl bleibt ernst ersticktes Lachen am Caféhaustisch
lautes Gelächter in der Bar Kichern am kalten Büfett
Lachen im Turmzimmer Gelächter auf dem Bootssteg
des Colloquiums wo Michel Butor eine Angel auswirft
während Alain Robbe-Grillet sich das Lachen verbeißt
I. WESTOSTBERLIN
Blues für Sarah
Als ich Sarah Haffner im Herbst 1963 erstmals begegnete, war sie dreiundzwanzig, und ich war neunzehn. Die Gruppe 47 tagte im Hotel zur Post in Saulgau, und Sarah war in Begleitung ihres Vaters Sebastian Haffner dort. Ich las eine Erzählung vor über eine archäologische Ausgrabung, die buchstäblich im Sande verläuft, und die Reaktionen waren gemischt: Walter Jens raufte sich die Haare vor Entsetzen, Reich-Ranicki legte seine Stirn in bedenkliche Falten und Ernst Bloch wollte mich mit eisernem Besen auskehren und in den Mülleimer der Geschichte werfen, während Höllerer, Grass und Enzensberger meinen Text lobten. Ich hatte meine Hinrichtung überlebt und war informell aufgenommen in die deutsche Gegenwartsliteratur, deren Koryphäen ich auf einen Schlag kennenlernte: von Hans Werner Richter, dem Herbergsvater der Gruppe, über Uwe Johnson und Peter Weiss, beide eher schweigsam, bis zu Erich Fried und Johannes Bobrowski. Die Tagung endete mit einem Besäufnis, und während Grass und Enzensberger sich über die Einschätzung der SPD stritten, tanzte ich mit Sarah Haffner, nach mir die jüngste Teilnehmerin des Treffens. Damals rauchten viele Schriftsteller Pfeife, und in meiner von Tabakschwaden vernebelten Erinnerung kühlte ich meine heiße Stirn an einem Aquarium, in dem Aale schwammen als Hommage an die Blechtrommel von Günter Grass.
Wir tauschten unsere Anschriften aus, und bald darauf sah ich Sarah Haffner wieder, deren Adresse und Telefonnummer sich fünfzig Jahre lang nicht veränderten: Uhlandstraße 168, Hinterhaus, zweiter Stock, mit Blick auf einen je nachdem kahlen, knospenden oder blühenden Kastanienbaum – Miniermotten gab es noch nicht. Das Wohnzimmer war Treffpunkt der ästhetisch-politischen Diaspora, die sich nach dem Mauerbau in Westberlin versammelte, eine Nachauflage der klassischen Bohème: Hubert Fichte und Peter Bichsel, Hermann Peter Piwitt und Nicolas Born fanden sich bei Sarah Haffner ein, ebenso wie Günter Grass, den auf ihrem Atelierfest ein Maler ins Bein biss, der Lyriker Peter Rühmkorf, Neal Ascherson vom Observer, der ZEIT-Journalist Kai Hermann und die Spiegel-Reporterin Marie-Luise Scherer, damals noch Berliner Morgenpost. Sarah servierte Tee, eine Sitte, die sie aus England mitgebracht hatte, und wir sprachen über Politik, Literatur und Kunst, in dieser Reihenfolge, hörten Platten und tauschten uns über unseren Liebeskummer aus. In meiner Erinnerung war Sarah stets unglücklich verliebt – ich war es auch, so dass es an Gesprächsstoff nie mangelte. Ihr bevorzugter Autor war Christopher Isherwood, dessen Berlin-Trilogie sie immer wieder las, ihre Lieblingsmusiker Bach und die Beatles, und über dem Plattenspieler hing das Gemälde eines Plattenspielers, über dem Bücherregal das Bild eines Bücherregals mit sorgfältig gemalten Buchrücken und neben dem Fenster zum Hof das großformatige Gemälde eines Fensters zum Hof mit einer Schachtel Gitanes auf der Fensterbank – ein Fingerzeig darauf, dass das Bild nicht in Berlin, sondern in Paris entstanden war.
Damit bin ich bei Sarah Haffners Kunstschaffen angelangt, das in einem halben Jahrhundert markante Entwicklungsstadien durchlief, Quantitätsschübe und Qualitätssprünge, obwohl sie sich im Kern ihrer Persönlichkeit wenig veränderte. Schon auf frühen Bildern aus der Studentenzeit, als sie dem Zeitgeist der fünfziger Jahre huldigte, tauchen ihre Lieblingsfarben auf, allen voran das typische Sarah-Haffner-Blau, changierend zwischen Ultramarin und Türkis, das auf Schwimmbadkacheln ebenso zu sehen ist wie auf Lavendelfeldern in der Provence. Gelb blühender Raps, rollende Hügel, schnurgerade Alleen mit kahlen Bäumen, nackte Hausfassaden, triste Hinterhöfe, Nieselregen oder Schneetreiben, Betten oder Sofas mit Liegenden, die aussehen, als habe eine jähe Depression ihnen den Teppich unter den Füßen weggezogen, und einfühlsame Porträts, auf denen die Gesichtszüge der Künstlerin, ihres Sohnes und ihres Bruders wiederkehren: So besehen verbirgt sich hinter fast allem, was Sarah Haffner schreibt, zeichnet oder malt, ein melancholisches Selbstporträt. Aber ich habe mich allzu weit ins verminte Gelände der Kunstkritik vorgewagt.
Im Herbst 1979 besuchte ich zusammen mit Sarah Haffner Armenien, damals noch eine Sowjetrepublik, über die wir nicht viel mehr wussten als Schmunzelwitze von Radio Eriwan: »Im Prinzip ja, aber …« Mit von der Partie war ein evangelischer Friedensfreund, den wir den Entspannungspfarrer nannten, denn statt in der UdSSR verbotener Bibeln hatte er Strumpfhosen im Gepäck, um seine Moskauer Geliebte bei der Stange zu halten – hier passt die dumme Redensart. Der Pfarrer ließ durchblicken, dass er nicht an Gott, sondern an den Sozialismus glaubte, und regte sich auf, als ich ins Gästebuch eines armenischen Klosters »Ihr seid das Salz der Erde« schrieb: Das Bibelzitat sei eine Provokation für unsere atheistischen Gastgeber, meinte der Gottesmann. Damals verlor ich den letzten Respekt für selbsternannte Friedenskämpfer, die mit Diktaturen kungelten und nichts einzuwenden hatten gegen Unterdrückung und Zensur – aber ich muss mir die Polemik verkneifen.
Bei der Ankunft am Flughafen von Eriwan erwartete uns eine Dichterin, die wie der griechische Weinbrand Metaxa hieß und erotische Gedichte schrieb, in denen sie Männern im Sexrausch die Knöpfe vom Hemd biss. Als Kind hatte sie Stalin einen Blumenstrauß überreicht und erzählte, der Diktator habe gut ausgesehen – abgesehen von den Pockennarben in seinem Gesicht, die auf Fotos wegretuschiert wurden –; selbst der Schnauzbart des Generalissimus unterlag der Zensur.
Höhepunkt unserer Reise war ein Besuch in der Moskauer Wohnung des Dichters, Sängers und Romanciers Bulat Okudschawa, der aus Georgien stammte und von Kritikern diffamiert wurde mit dem Argument, als Nichtrusse habe er kein Recht, Bücher über russische Geschichte zu schreiben. Über seinem Arbeitstisch hing kein Foto von Chruschtschow oder Breschnew, der damals noch im Kreml regierte, sondern ein Porträt von John F. Kennedy, und sein beredtes Schweigen strafte das Propagandagerede Lüge, mit dem man uns von morgens bis abends behelligte. Dazu gehörte ein Termin bei der Literaturzeitschrift des Komsomol, deren Arbeit nach offizieller Lesart auf drei Säulen ruhte: 1. Texte alter Meister; 2. Texte junger Autoren; 3. Kritik der alten Meister an den jungen Autoren. Wir hatten Mühe, uns das Lachen zu verbeißen. »Alles schön und gut«, meinte Sarah Haffner, »aber gibt es auch eine Rubrik, in der junge Autoren die alten Meister kritisieren?« Damit traf sie den Nagel auf den Kopf und hatte, ohne es zu wollen, einen Impuls benannt, der als Leitmotiv ihr Leben und Schaffen durchzog: das Aufbegehren gegen jede Art von falscher oder angemaßter Autorität.
Sarah hatte Haare auf den Zähnen, sie war widerborstig und ließ sich weder von Günter Grass noch von ihrem Vater, dem prominenten Publizisten, vorschreiben, was sie denken und sagen sollte. Ihr Verhältnis zu Sebastian Haffner war angespannt, weil er den in jungen Jahren gefassten Entschluss seiner Tochter, Künstlerin zu werden, missbilligte aus Sorge um ihren Lebensunterhalt. Dabei war sie durchaus geschäftstüchtig und hat ihre Bilder auf gut besuchten Vernissagen, die gesellschaftliche Ereignisse waren, nicht unter Wert verkauft. Sarah lebte von der Kunst, die sie studiert und später auch unterrichtet hat, und ihr antiautoritäres Engagement drückte sich aus in Schrei, wenn du kannst, einem Buch über misshandelte Frauen, die damals wie heute nicht nur in prekären Milieus, sondern auch in bürgerlichen Kreisen anzutreffen waren. Aus dem Text wurde eine TV-Dokumentation, und Sarah Haffner war Patin bei der Gründung des ersten Berliner Frauenhauses. In den achtziger Jahren knüpfte sie Kontakte zu oppositionellen Künstlern im Ostteil der Stadt, noch bevor die Prenzlauer-Berg-Szene Mode wurde, und anders als ihre linken Mitstreiter freute sie sich über den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung.
Sarah Haffner malte, schrieb Bücher und trainierte in Fitnessstudios, bis sich erste Symptome einer unheilbaren Krankheit zeigten, der sie, ohne zu klagen, mutig widerstand, entsprechend ihrem früh geäußerten Verzicht auf Lebensverlängerung um jeden Preis.
Det is allet history!
Mosaikstein zu einem Biermann-Porträt
Es war ein heißer Tag im Sommer 1976, drei oder vier Monate vor der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann durch das Politbüro der SED. In meiner Erinnerung könnte es Kubas Nationalfeiertag, der 26. Juli, gewesen sein: An diesem Tag im Sommer 1953 hatten Fidel Castros Partisanen – der Ausdruck ist irreführend, denn es handelte sich um Jugendliche und Studenten ohne militärisches Know-how – die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba gestürmt. Siebzig Angreifer kamen ums Leben, und Fidel Castro wurde auf der Isla de Pinos inhaftiert, wo er seine Berufung zum Revolutionär entdeckte. Oder es könnte der 31. August gewesen sein, als Tamara Bunke alias Tania la Guerrillera, die Kampfgefährtin Che Guevaras, beim Überschreiten des Rio Grande in einen Hinterhalt geriet und von bolivianischen Soldaten erschossen wurde.
Aber davon wusste ich nichts, während ich in der Chausseestraße 131 in Wolf Biermanns Wohnküche saß, zusammen mit seiner Mutter, wenn mich die Erinnerung nicht trügt. Schräg gegenüber lag die ständige Vertretung der BRD, vor deren videoüberwachtem Portal ein Volkspolizist auf und ab ging, und ein paar Meter weiter parkte ein Wartburg-Kombi, dessen ausgefahrene Antenne die aus dem Küchenfenster dringenden Geräusche auffing. Wolf Biermann stimmte seine Gitarre und summte eine Melodie vor sich hin, die in ein Lied überging, dessen Gesang er immer wieder unterbrach, um den Text umzustellen, zu verbessern oder mit wirkungsvolleren Akkorden zu unterlegen. Der Vorgang konnte lange dauern, denn die Lieder hatten viele Strophen, und der Besucher kam kaum zu Wort, weil Biermann die Küche mit einem Konzertsaal verwechselte – auch umgekehrt ergibt der Vergleich einen Sinn. Er sang seine Stasi-Ballade:
Menschlich fühl ich mich verbunden
Mit den armen Stasi-Hunden
Die bei Schnee und Regengüssen
Mühsam auf mich achten müssen
Die ein Mikrophon einbauten
Um zu hören all die lauten
Lieder, Witze, leisen Flüche
Auf dem Klo und in der Küche
Brüder von der Sicherheit
ihr allein kennt all mein Leid.
Er war gerade beim Refrain angekommen »Die Stasi ist mein Eckermann«, als es klingelte. Vor der Tür stand ein Mann mittleren Alters, der wie ein Frührentner aussah und auch ohne Parteiabzeichen als SED-Funktionär zu erkennen war. Nur die verrutschte Krawatte und seine Alkoholfahne passten nicht ins Bild.
»Hallo Wolf«, sagte der ungebetene Besucher, »ick komme jerade von der Einweihung der Tamara-Bunke-Oberschule janz in der Nähe von dir und möchte wissen, wer diese Tamara Bunke und dieser – wie heißt er doch gleich – dieser Che Guevara, von dem neuerdings so viel jeredet wird, wer det eigentlich war. Ick hab den kubanischen Botschafter jefragt, aber der weiß och nischt Jenauet und sagte nur, det is allet history. So hat der sich ausgedrückt: ›Det is allet history.‹ Und da dachte ich mir, am besten jehste direkt inne Chausseestraße und fragst den Wolf Biermann, der kennt sich in sone Sachen aus!«
Wir waren sprachlos, denn Biermann lebte seit über zehn Jahren in einem unerklärten Krieg mit der alleinseligmachenden Partei, deren Funktionäre sich selten in seine Wohnung verirrten. Sie zogen es vor, ihn aus sicherer Entfernung mit Dreck zu bewerfen und von Zeit zu Zeit zum Verhör einzubestellen: »Die Arbeiterfaust zeigen« oder »andere Saiten aufziehen« hieß das im SED-Jargon. Handelte es sich um einen dreisten Ausspähungsversuch, um eine gezielte Provokation oder um den Alleingang eines Funktionärs, der bei der Einweihung der Tamara-Bunke-Schule zu viel Cuba Libre getrunken hatte? Oder – dafür sprach einiges – war es eine Kombination all dieser Motive? Noch dazu schien der Mann keine niedrige Charge zu sein: Er stellte sich als stellvertretender Bezirksbürgermeister vor, ließ sich schwer atmend am Küchentisch nieder und verlangte Bier – nach Tee stand ihm nicht der Sinn. Auf die Frage, woher er Wolf Biermann kenne, nuschelte er etwas vom Pfingsttreffen der FDJ Mitte der fünziger Jahre, als die Welt noch in Ordnung war. Damals hätten die Schriftsteller noch keine Sperenzien gemacht.
»Wenn du es wirklich wissen willst«, sagte Wolf Biermann, »erkläre ich dir, was es mit Che Guevara auf sich hat.« Er brachte seine Gitarre in Stellung und stimmte das Che-Guevara-Lied an, genauer gesagt: die von ihm verfertigte Übersetzung von Carlos Pueblas Chanson: »Aqui se queda la clara / la entrañable transparencia / de tu querida presencia / comandante Che Guevara.« Zu Deutsch:
Uns bleibt, was gut war und klar war:
Dass man bei dir immer durchsah
Und Liebe, Hass, doch nie Furcht sah,
Kommandante Che Guevara
Und bist kein Bonze geworden
Kein hohes Tier, das nach Geld schielt
Und vom Schreibtisch aus den Held spielt
In feiner Kluft mit alten Orden
Uns bleibt, was gut war und klar war …
»Siehst du«, sagte Biermann lächelnd, »Guevara war kein Sesselfurzer wie du, sondern ein Revolutionär!« Doch der ungebetene Gast ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Det sachst du, Wolf, aber det sehen wir anders«, murmelte er und nippte angewidert am Tee, den Biermanns Mutter ihm einschenkte. An diesem Punkt mischte ich mich ins Gespräch und erklärte dem SED-Mann, Fidel Castro und Ernesto Che Guevara seien keine Kommunisten, sondern radikale Demokraten gewesen, die gegen das von den USA ausgehaltene Batista-Regime kämpften; Kubas KP habe den bewaffneten Aufstand nur halbherzig unterstützt. Diese nicht ganz schlüssige Argumentation entsprach meiner damaligen »undogmatischen« Position und wurde von vielen nicht moskauhörigen Linken geteilt. Der Funktionär gab sich einen Ruck und sah mich scharf an. Mein T-Shirt mit dem Aufdruck einer amerikanischen Universität hatte ihn misstrauisch gemacht, und er wollte wissen, ob ich aus Westberlin oder der BRD komme. »Aus Friedenau, wenn Sie es genau wissen wollen, aber zwischen der Bundesrepublik und Westberlin gibt es keinen großen Unterschied!«
»Det sagen Sie, aber det sehen wir anders«, brummte er, ohne seine Aussage zu begründen. Das war auch nicht nötig, denn die Partei, der er angehörte, hatte die Macht, genauer gesagt: die Definitionsmacht über die Sprache, und sie entschied ganz allein, welche Bedeutung Begriffen wie Demokratie und Diktatur, DDR und BRD, Kuba oder Westberlin zukam, und welche nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum mir der ständig wiederholte Satz in Erinnerung geblieben ist, mit dem der SED-Mann, ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, das Gespräch bestritt, bevor er sich, vom Teetrinken ernüchtert, wieder verzog: »Das sagen Sie, aber das sehen wir anders!«
Die Nachricht von Wolf Biermanns Ausbürgerung am 16. November 1976 erreichte mich in Norwegen, der letzten Station einer Lese- und Vortragsreise durch Skandinavien im Auftrag des Goethe-Instituts. Dort lief mir auf Flughäfen und in Bahnhöfen stets aufs Neue der französische Schriftsteller Claude Simon über den Weg, der vor Kaffeekränzchen seine später mit dem Nobelpreis prämierte Prosa las, während ich Tanzsäle und Turnhallen mit meinen Darbietungen füllte: eine Frage der Sprachbarriere, nicht der literarischen Qualität. Jedes Mal, wenn eine Blondine im Pelzmantel am Steuer eines Mercedes vorfuhr, stieß mich Claude Simon mit dem Ellbogen in die Seite und sagte: »Die ist für dich – mich holt niemand hier ab!«
Ich weiß nicht, ob der lange Arm der DDR-Staatssicherheit bis nach Oslo reichte, aber nicht nur das norwegische Publikum, dem man es hätte nachsehen können, auch die Mitarbeiter des Goethe-Instituts schienen über die Ausbürgerung Biermanns nicht allzu empört zu sein, und ihr Protest gegen Erich Honeckers absolutistische Willkür klang äußerst gedämpft. Nur Claude Simon schlug andere Töne an: »Diesen Leuten ist alles zuzutrauen«, sagte der große Romancier, der im Spanischen Bürgerkrieg und im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, dies aber, anders als Jean-Paul Sartre, der sich damals drückte, nie an die große Glocke hing. Als Sartre ihn mit dem Totschlagargument kritisierte, ein verhungertes Kind in Biafra wiege schwerer als ein Roman von Claude Simon, konterte er mit dem Satz: »Seit wann werden Babyleichen und Bücher auf der gleichen Waage gewogen?«
»Denen ist alles zuzutrauen«, sagte der Maestro des nouveau roman und sah mich mit seinen an Picasso erinnernden, übergroßen Augen an: »Denen ist alles zuzutrauen, sie schrecken vor nichts zurück!« Und er trug mir Grüße an Wolf Biermann auf, die ich hiermit ausrichte.