Buch lesen: «Der Jahrhundertelefant»
Hanna Molden
Der Jahrhundertelefant
Eine literarische
Familienbiografie
Inhaltsverzeichnis
Jakob und der kleine Bub
Jakob und der wilde Kerl
Jakob und der alte Mann
Der Jahrhundertelefant
Zeittafel
Warum ich die Geschichte erzähle?
Nun, Familien haben Geschichten.
Es gibt keine Familie, die nicht ihre eigene Geschichte hätte. Die Familie Molden, in die ich vor mehr als fünfzig Jahren geheiratet habe, verfügt über ein ganzes Netzwerk von Geschichte und Geschichten.
In dieser Familie wird seit mehreren Generationen Geschichte als Wissenschaft betrieben. Es wurden Gedichte und Romane verfasst. Es werden Sachbücher geschrieben. Es werden Lieder erdichtet. – Und was nicht geschrieben steht, erzählt man sich. Von Generation zu Generation.
So auch die Geschichte von einem Elefanten namens Jakob. Eine interessante Persönlichkeit, dieser Jakob, der eines schönen Tages in der Familie Molden aufgetaucht ist und die Kindheit meines Mannes Fritz Molden verzaubert hat. Dieser Jakob hat ihn ein ganzes Leben lang begleitet.
Am Ende seiner Tage hat Fritz Molden die Geschichte seines Elefanten aufgeschrieben. Es sollte ein Buch daraus werden. Dazu kam es aber nicht.
Schade, fanden viele in der Familie. Fanden Freunde. Fand ich. Es wäre eine Art von heiterem, zärtlichem, spannendem Vermächtnis geworden.
Und Vermächtnisse sollen nicht im Verborgenen bleiben.
Darum erzähle ich diese Geschichte. Auf meine Weise.
Hanna Molden
Sommer 2021
Familiengeschichte wird nie restlos erzählt, weil immer irgendwer der Wahrheit nicht ins Auge sehen will. Die eine Episode wird aufgeblasen, die andere ausgelassen. Dies trifft auch auf die Familie M. zu, deren Geschichte schon oft erzählt wurde. Meine Position in dieser Familie ist ja auch eine ungewöhnliche. Ich bin den M.s kein Onkel, kein Pate, kein Cousin. Dennoch bin ich in gewisser Weise in sie hineingeboren, und durch die daraus resultierende Nähe und meine diskrete Existenz eröffnet sich mir eine einzigartige Perspektive des Beobachters und Chronisten.
Sie werden sich fragen, wer ich denn nun bin.
Ich bin ein ziemlich großer Kerl. Man könnte auch sagen, dass ich gewaltig bin. Ich bin grau. Und faltig. Ich habe schwere Füße, und kleine Augen, von denen manche behaupten, sie seien listig. Meine Ohren sind groß. Sehr groß. Alles in allem: Ich bin eine eindrucksvolle Erscheinung. Ich bin ein Elefant.
Meine Ahnenreihe reicht bis ins Miozän zurück. Was das ist? Eine Phase des Känozoikums. Was das heißt? Die Neuzeit unserer Erde. Was am Ende bedeutet, dass es Elefanten seit rund sieben Millionen Jahren gibt. Eine stattliche Stammesgeschichte, zoologischer Uradel …
Es gibt afrikanische Elefanten und Waldelefanten und asiatische Elefanten. Aber zu denen gehöre ich nicht. Ich wurde nämlich weder im afrikanischen Busch, noch in den tropischen Regenwäldern Afrikas, noch in den Monsunregenwäldern Indiens geboren. Wo und wie ich geboren wurde, bleibt vorerst noch mein Geheimnis.
Jakob und der kleine Bub
Es ist Frühling. Genauer gesagt, später April. Ein milder Abend. Die Fenster zum Garten stehen offen, ein Lüfterl bauscht die weißen Vorhänge aus Tupfbatist.
Der Bub hopst in seinem Bett auf und ab und versucht, einen Zipfel eines Vorhangs zu erwischen. Aufziehen will er ihn, sehen, was der große Bruder im Garten treibt. Er wäre auch noch gern im Garten, es ist ja noch ganz hell, die Amseln singen, was die Mama das Abendlied nennt. Und der Fußball des Bruders trifft mit dumpfem Knall gegen die Wand des Salettls. Wieder und wieder. Der Bruder übt einen Elfmeter. Und der Papa, der müsste auch bald kommen, heute ist der einzige Tag der Woche, an dem der Papa früh zum Abendessen zu Hause ist.
Er müsste jetzt schon auf dem Weg von der Straßenbahnhaltestelle sein, durch die stille Gasse gehen, wo jeder Schritt am Kopfsteinpflaster hallt. Gleich wird er vor dem gelben Haus sein. Wird durch das breite, halbrunde, graugrüne Holztor gehen, durch das früher noch Pferdefuhrwerke gefahren sind. Hat die Mia erzählt. Durch den breiten Gang wird er bis in den Garten mit den hohen Bäumen gehen, die schon zur Zeit der Kaiserin Maria Theresia hier gestanden sind. Denn da, wo heute der Garten mit dem Salettl und den Rosenstauden ist, war vor zweihundert Jahren eine Allee, die von der Donau bis zu einem kleinen Lustschloss der Kaiserin führte. Hat der Großpapa erzählt.
„Guten Abend, Herr Doktor“, hört der Bub das Kindermädel Mia sagen.
Also ist der Papa schon auf der breiten steinernen Stiege, die vom Garten in den ersten Stock führt. Ha, die gläserne Tür zwischen Stiege und Wohnung scheppert, der Papa ist angekommen.
„Papa! Papa!“, schreit der Bub. Noch sind wir in der Zeit, in der gewisse Sitten und Gebräuche aus der K.-u.-k.-Monarchie üblich sind und in der Kinder in Familien wie der seinen „Papa“ und „Mama“ auf dem zweiten „a“ betonen. Wild hüpft er auf seinem Bett, sein Nachthemd ist ihm dabei etwas hinderlich, er hätte auch schon gerne einen Pyjama wie der große Bruder, aber den kriegt er erst, wenn er sechs ist. Er ist ja grad erst fünf geworden.
„Papa“, seufzt der Bub glücklich, als der Vater sich zu ihm beugt und ihn auf die Stirn küsst. Gleich wird er ihn fragen, was er heute alles gemacht hat.
„Und, Feppchen, wie war dein Tag, was hast du alles gemacht?“, fragt der Vater wie erwartet. Eigentlich heißt der Bub Fritz. Zweiter Name Peter. Fritz Peter, daraus wurde Feppchen, sein familieninterner Spitzname.
„Die Monika hat die Erna in die Hand gebissen.“ Fritz ist stolz, dem Papa eine ans Sensationelle grenzende Neuigkeit zu liefern. Der Papa ist Journalist. Chefredakteur einer sehr wichtigen Zeitung. Der hat etwas übrig für Neuigkeiten.
Es dauert eine Weile, bis der Vater die Geschichte in vollem Umfang erfährt.
Monika ist die gleichaltrige Freundin von Fritz, Nachbarskind, die Erna ist deren Kindermädel. Die Monika wollte sich von der Erna nicht an der Hand führen lassen, die Erna fasste dennoch zu, worauf die Monika die Erna in die Hand gebissen hat …
„Na so was“, sagt der Papa. Gleich wird er gehen. Im Speisezimmer wartet ja das Abendessen für die Eltern und den Bruder.
Wie wäre der Papa noch aufzuhalten? Was könnte man ihm noch erzählen, dass er noch eine kleine Weile bleibt? Fritz fixiert die lange Gestalt des Vaters, der da – im ewig grauen Zweireiher mit der ewig gleichen grauen Weste – vor ihm steht.
„Was ist das, Papa?“, fragt Fritz und deutet auf die weißen Blätter, die zusammengerollt aus der Tasche des väterlichen Sakkos ragen.
„Das?“ Der Papa muss ein wenig nachdenken. Ob er vergessen hat, was auf den Blättern steht? Dann scheint es ihm wieder einzufallen. Er nimmt die Blätter heraus, entrollt sie, sieht kurz drauf und lächelt.
„Das?“, sagt er. „Das ist ein Brief.“
„Von wem?“
Kleine Pause. „Von einem Elefanten.“
Ein Brief von einem Elefanten. Das muss der Fritz erst verdauen. Mit der Zeigefingerspitze an der Nasenspitze.
„Von einem echten Elefanten? Von so einem wie der in Schönbrunn?“, fragt er schließlich.
Der Vater nickt. „Aber dieser Elefant lebt nicht im Zoo von Schönbrunn, sondern im Budapester Zoo.“
„Ist er weit weg, dieser Zoo?“
„Eher schon. Er befindet sich in der Hauptstadt von Ungarn. Die heißt Budapest.“
„Ist das weit weg, dieses Ungarn?“
„Wie man’s nimmt. Es ist unser östliches Nachbarland.“
„Und wieso kennst du den Elefanten?“
„Als ich vor vielen Jahren in Budapest gelebt habe, bin ich oft in den Zoo gegangen. Dort habe ich ihn kennengelernt.“
„Wie?“
Wieder muss der Vater etwas nachdenken. Dann erst spricht er. Der Vater denkt immer nach, bevor er spricht. Drum ist Verlass auf das, was der Vater sagt.
„Ich bin auf der Bank vor seinem Gehege gesessen und habe ihn betrachtet. Er stand auf dem sandigen Boden, trat von einem Fuß auf den anderen, schwenkte sacht seinen Rüssel und sah mich an. Direkt in die Augen hat er mir gesehen. ‚Ich komme aus Indien‘, hat er gesagt. ‚Und woher kommst du?‘ hat er mich gefragt. ‚Ich komme aus Wien …‘“
Fritz hat mit offenem Mund zugehört, jetzt unterbricht er den Vater.
„Der Elefant kann richtig reden?“, fragt er fast atemlos.
„Aber sicher. Alle Wesen haben eine Sprache.“
„Was für eine Sprache spricht er?“
„Elefantisch.“
„Und du kannst Elefantisch verstehen, Papa?“
„Wenn man mit dem Herzen hört, kann man jede Sprache verstehen.“
Das weiß der Bub. Von der Mama. Er zeigt auf die Papiere in der Rocktasche des Vaters. „Lies mir den Brief vor“, verlangt er, dann schnell noch „bitte, Papa“. Und setzt sich in seinem Bett in Vorlesezuhörpositur. An den Polster gelehnt, das Nachthemd bis über die Zehenspitzen gezogen, die Hände auf den Knien.
Der Vater zögert. Er zieht die Papiere aus der Rocktasche, streicht sie glatt, sieht nachdenklich darauf, als hätte er Mühe, das Geschriebene zu entziffern.
„Lies, Papa“, sagt Fritz erwartungsvoll, „was schreibt er?“
„Hm“, macht der Vater, kramt in seiner Tasche, holt die Brille hervor und setzt sie – ziemlich umständlich, will es Fritz scheinen – auf die Nase. Schaut seinen Buben an, lächelt ein wenig, macht noch einmal „hm“ und beginnt zu lesen:
Budapest, am 18. April 1930
Mein lieber Freund Ernst!
Viel Zeit ist vergangen, seit ich Dir das letzte Mal geschrieben habe. Ich hoffe, Du nimmst es mir nicht übel. Aber es ist nun einmal so, dass sich im hiesigen Elefantenhaus nicht sehr viel ereignet. Ich bin sein einziger Bewohner. Seit Du nicht mehr da bist, ist mir schrecklich fad.
Viele Besucher kommen nach wie vor durch das prächtig-mächtige Tor des Zoos. Die meisten nehmen gleich Kurs auf das Elefantenhaus. Sie pflanzen sich vor der Begrenzung auf und starren mich an. Ich sage höflich ‚Grüß Gott‘, aber sie verstehen mich nicht. Manche lachen und rufen mir etwas zu, aber ich verstehe nicht, was sie sagen. Es ist, wie es ist: Der einzige des Elefantischen mächtige Mensch, dem ich jemals begegnet bin, bist Du. Vielleicht gibt es irgendwo auf der Welt noch einen anderen Menschen, der Elefantisch spricht. Aber hier im Zoo ist er noch nicht vorbeigekommen.
Mein Alltag ist immer noch gleich. Pandit, mein kleiner Mahout, bringt mir meine Riesenration Heu, manchmal auch Karotten. Er spritzt mich mit dem Schlauch ab, vor allem die Ohren, das mag ich besonders. Aber das weißt Du ja alles. Dann gehe ich langsam ins Freie und warte, dass etwas geschieht. Nichts geschieht. Beziehungsweise: nichts geschah bis vor Kurzem.
Denn unlängst haben sich Dinge ereignet, die darauf schließen lassen, dass ich Gesellschaft bekomme. Wieso ich das annehme? Nun, unsereins hat ja nichts anderes zu tun, als die Menschen zu beobachten. Da habe ich zuerst den Direktor mit zwei seiner Leute auf ungewohnte Weise im Elefantenhaus herumspazieren sehen. Sie haben die Wände vermessen. Bald darauf haben sie zwei neue Abteilungen neben der meinen eingerichtet. Was mich vermuten ließ, dass sie für Elefanten sein sollen, man wird mir schließlich keine Nashörner oder Giraffen als Hausgenossen einquartieren wollen.
Zwei Abteilungen, zwei Elefanten, so ist es geplant. Es handelt sich um ein Tauschgeschäft zwischen dem Budapester und dem Stockholmer Zoo. Das weiß ich von Pandit, meinem kleinen Mahout. Der kommt ja im ganzen Zoo herum, er scheint sich auch mit dem Direktor gut zu verstehen, und von dem hat er das Folgende gehört: Wir haben hier in Budapest zu viele Löwen, die Stockholmer wiederum haben zu viele Elefanten. Also gehen drei unserer Löwen nach Stockholm, und zwei Elefanten aus Stockholm kommen demnächst hier an. Ich weiß nicht, was Stockholm ist. Ich nehme an, dass es sich nicht um einen Dschungel, sondern eher um eine Stadt wie Budapest handelt. Jedenfalls sei das Elefantenhaus groß genug für drei, hat der Direktor gemeint.
Wenn Du Dich jetzt fragst, wie ich es erfahren habe? Der Pandit hat es mir weitererzählt. Und weißt Du, wie? Der kluge Bub hat mit einem Ast die ganze Geschichte in den Sand meines Geheges gezeichnet.
Ich kann Dir nicht sagen, wie aufgeregt ich bin, mein lieber Ernst. Sobald die Neuen da sind, werde ich Dir darüber berichten. Für heute grüße ich Dich auf das Herzlichste.
Dein treuer Freund, der Elefant Jakob
Im Kinderzimmer ist es still. Fritz hat fast aufs Atmen vergessen. Er sitzt da und starrt mit kugelrunden Augen auf den Brief des Elefanten, den der Vater jetzt zusammenrollt und in seine Rocktasche steckt.
„Gute Nacht, mein Feppchen“, sagt er, beugt sich zu seinem Buben und will ihn auf die Stirn küssen.
Da kommt Leben in den Fritz. Wie der Blitz fasst er den Vater am Rockzipfel und hält ihn fest. „Also Jakob heißt er! Wir haben einen im Kindergarten, der heißt auch Jakob!“
„Schau, schau“, sagt der Vater etwas zögerlich, lächelt und versucht seinen Rockzipfel zu befreien. Fritz indes hält fest, viel zu viele Fragen sind offen um diesen Elefantenfreund, der Vater kann jetzt nicht einfach gehen …
„Papa … Papa, wie kann er denn schreiben, der Elefant? Er hat doch keine Finger.“
Nachdenklich reibt der Vater seinen Nasenrücken. Räuspert sich ein wenig. Und sagt dann entschieden: „Das ist richtig. Der Elefant hat keine Finger. Deshalb hat er den Brief diktiert.“
Der Fritz hält den väterlichen Rockzipfel immer noch fest umklammert. „Wem hat er diktiert? Wer versteht denn, was er sagt? Es kann doch niemand außer dir Elefantisch!“
Jetzt löst der Vater sein Sakko aus der Bubenhand. Vorsichtig. Aber bestimmt. Damit ist er eine kleine Weile beschäftigt, in der er nicht antworten kann.
„Papa????“
„Nun“, sagt der Vater schließlich, „der Jakob hat einen entfernten Verwandten im Zoo … Das ist ein … ein Affe. Namens … Jaromir. Affen haben, wie du weißt, flinke Finger. Der Jaromir hat das Maschinschreiben erlernt. Ihm kann der Jakob, wenn es sich um Dringliches handelt, seine Briefe diktieren.“
Der Vater wendet sich zum Gehen. Fritz hüpft aus dem Bett und tappt neben ihm her. „Aber Papa, wie kann der Jaromir wissen, wann der Jakob einen Brief schreiben will? Lebt er im Elefantenkäfig? Und wie geht das, dass der Affe mit dem Elefanten verwandt ist, wo sie sich doch überhaupt nicht ähnlich sehen … Und … und was ist ein Ma … Mahout? Und wie hat der … Stock … Stockholm in den Sand gezeichnet? In Buchstaben? Der Jakob kann doch keine Buchstaben lesen … oder?“
Der Vater beugt sich zum Fritz, lacht leise und schubst ihn ins Bett zurück.
„Feppchen, Schluss jetzt. Die Mama wartet mit dem Essen. Ich verspreche dir, alles was ich vom Elefanten Jakob weiß, zu erzählen.“
„Aber wann, Papa? Wann?“
„Nicht mehr heute. Aber bald.“ Der Papa ist schon an der Tür.
„Schlaf gut, mein Sohn.“ Weg ist er.
Schlafen! … Ha! – Fritz sitzt mit angezogenen Knien in seinem Bett und schaut ins Narrenkastl. Aus dem ein paar Räume entfernten Speisezimmer hört er das Stimmengemurmel von Eltern und Bruder, hört eine Türe klappen, wahrscheinlich bringt die Julie jetzt die Suppe herein.
Fritz darf an Wochentagen noch nicht mit den anderen zu Abend essen. Nur an Samstagen darf er. Weil es am Sonntag keinen Kindergarten gibt und er am Samstag länger aufbleiben darf. Zu blöd, dass heute nicht Samstag ist. Da könnte er den Papa alles fragen.
Zum Beispiel, was ein Mahout ist, das will er dringend wissen. Vielleicht so eine Art Kindermädel für den Jakob, wie die Mia für ihn? Könnte sein. Schließlich hat der Jakob geschrieben, dass der Mahout ihm die Ohren abspritzt. Die Mia hat’s auch immer auf seine, Feppchens, Ohren abgesehen … Interessant, dass der Elefant das Ohrenabspritzen mag. Er mag es überhaupt nicht, wenn die Mia seine Ohren mit dem Waschfleck bearbeitet … Und dieser Affe, der Jaromir! Der muss ein Schlaumeier sein, der kann Schreibmaschine schreiben. Fritz hat es ja selbst gesehen, das Maschingeschriebene auf dem Brief, den der Papa vorgelesen hat … Diktiert vom Jakob, hat der Papa gesagt. Also gibt es im Elefantenkäfig eine Schreibmaschine? Gibt’s im Schönbrunner Tiergarten nicht. Und der Jaromir, der muss eigentlich im Elefantenkäfig leben, weil er ja zur Hand sein muss, wenn der Jakob diktieren will … Obwohl der Jaromir im Elefantenkäfig nichts zu suchen haben sollte, ist ja schließlich kein Verwandter vom Jakob … Vielleicht hat ihn der Jakob adoptiert? Fritz weiß, was adoptieren heißt. An Kindes statt annehmen. Im Kindergarten haben sie ein Mädel, das adoptiert worden ist …
Die Amsel hat ihr Abendlied beendet. Der leichte Wind weht immer noch vom Leopoldsberg herunter und trifft den Mond, der überm Bisamberg aufgeht und sich langsam auf den Weg zur alten Gasse mit dem Kopfsteinpflaster und dem gelben Haus mit dem halbrunden Tor macht.
Mit dem Auftauchen des Elefanten Jakob bricht eine neue Zeit in Feppchens Leben an. Er beginnt, die Tage zur Woche zu ordnen und mit dem roten Buntstift einen Strich auf seinem Kindertisch zu machen, sobald eine Woche um ist. Wenn es vier Striche sind, wird ein neuer Brief vom Jakob kommen. Denn für gewöhnlich, sagt der Papa, schreibt ihm der Jakob einmal im Monat. Nicht immer, aber meistens.
Da müsse er ja schon ganze Haufen von Elefantenbriefen haben, hat der Fritz gemeint und darauf gehofft, dass der Vater sie ihm vorlesen würde. Alle. Einfach alle. Aber der Vater hat mit den Schultern gezuckt und gesagt, dass er sie leider nicht aufgehoben habe. Keinen einzigen. Zu dumm. Wo er doch sonst alle Briefe aufhebt, der Papa, sie in Mappen ordnet und die im großen Bücherkasten, der im Herrenzimmer steht, einschließt.
Als der Vater gesehen hat, dass sein Bub traurig ist, weil es die alten Briefe nicht mehr gibt, da hat er seine Stirn in Falten gelegt und gemeint, er könne sich aber sehr gut an die Briefe erinnern. Und auch an alles, was der Jakob ihm erzählt hat, als sie sich im Budapester Zoo auf Elefantisch unterhalten haben. Aber ja, die ganze bisherige Lebensgeschichte des Jakob …
„Erzähl, Papa! Bitte!“
„Da brauche ich Zeit, Feppchen, das dauert lange.“
„Am Sonntag, Papa?“
„Also gut, am Sonntag.“
Und dann ist Sonntag. Und Fritz und sein Bruder Otto gehen erst einmal mit den Eltern in die Kirche. Und danach geht die Mama nach Hause, weil sie an einem Gedicht schreibt. Und der Otto trifft seine wilden Freunde im Wertheimsteinpark.
Und der Fritz geht an der Hand des Vaters zum üblichen Sonntagvormittagsbesuch beim Großvater.
„Papa, wann kommt der Jakob dran?“, bohrt der Fritz. „Erst kommt noch der Großpapa.“
Der Großpapa wohnt nicht weit entfernt von der alten Gasse mit dem Kopfsteinpflaster. Aber der Gehsteig in der Großpapa-Gasse ist glatt und das Haus ist neuer und hat mehr Stockwerke als das gelbe Haus mit dem halbrunden Tor. Der Großpapa Berthold wohnt im ersten Stock. Er wohnt allein, seit Großmama Berta gestorben ist. Er ist ein ernster, etwas strenger alter Herr mit kerzengeradem Rücken und einem langen, schneeweißen Bart. Er ist sehr gescheit. Er hat viele Bücher geschrieben, und auch für Zeitungen, wie der Papa. Er hat noch diesen Erzherzog beraten, der Kaiser werden sollte, aber daraus ist nichts geworden, weil sie ihn erschossen haben, den Erzherzog. Was dann zum großen Krieg geführt hat, in dem der Bruder vom Papa gefallen ist. Da hat der Großpapa das Lachen verlernt. Jetzt kann er nur mehr lächeln. Und auch das tut er selten.
Den Fritz lächelt er allerdings an. Im Salon hat er auch einen Himbeersaft für den Fritz vorbereitet. Und noch ehe der Papa und der Großpapa ihr übliches politisches Gespräch beginnen, noch ehe der Himbeersaft ausgetrunken ist, kräht der Fritz:
„Großpapa, der Papa hat einen Freund, der Elefant ist. Der heißt Jakob. Und der schreibt Briefe an den Papa.“
„Interessant, interessant“, murmelt der Großvater. Es scheint ihn zu freuen, denn er lächelt mehr als sonst, bis hinauf zu den Augen. Und mit seinen mageren Händen, auf denen sich blaue Adern wie Wurzeln winden, streicht er seinen weißen Bart.
„Ein Elefant, der schreiben kann …“, sagt er mit seiner ein wenig heiseren Altherrenstimme und sieht den Papa dabei an.
Der Papa hat wohl keine große Lust, über den Jakob zu erzählen. Der Fritz hingegen schon. Alles, was er bisher über den Elefanten erfahren hat, sprudelt er heraus, bis ihm die Luft ausgeht.
„Interessant“, sagt der Großvater wieder und wendet sich an den Papa.
„Wo ist der Jakob denn geboren, im Zoo?“, fragt er und lächelt auf diese gewisse Weise, die die Mama schelmisch nennt.
Der Papa legt seine Stirn in Falten. „Nein“, sagt er schließlich, „er ist in Indien geboren.“ Und nach ein wenig Nachdenken setzt er hinzu: „In Kerala, in der Gegend von Cochin.“
„Aha.“ Den Großvater scheint das zu fesseln. „Die großen Dschungelgebiete im Südwesten von Indien. Wo es wilde Elefanten und Tiger und Affenherden gibt …“
Da beginnt der Fritz vor Aufregung auf seinem Stuhl zu hopsen. „Großpapa, der Jakob hat einen Verwandten, der ist ein Affe und heißt Jaromir, und der kann Maschine schreiben …“
Da verschluckt sich der Großvater. Zumindest klingt es so, er hält eine Hand vor den Mund und macht glucksende Geräusche. Und der Papa mahnt zum Aufbruch. Fritz würde gerne noch bleiben. Wer weiß, was der Großpapa noch alles über dieses Indien erzählen könnte …
Immerhin, es gibt den Heimweg. Der Papa geht gerne zu Fuß. Bis nach Hause in die Kopfsteinpflastergasse sind das zwanzig Minuten. Die nützt der Bub. „Wieso ist der Jakob nicht in Indien geblieben? Haben sie ihn eingefangen für den Zoo?“, fragt er und greift mit seiner vom Himbeersaft klebrigen kleinen Hand nach der großen kühlen des Vaters.
„Nein, Feppchen, das war anders.“ Pause. „Ich werde es dir vorm Schlafengehen erzählen.“ Pause. „Und jetzt ist vorerst Schluss mit dem Jakob. Er ist bitte auch beim Mittagessen kein Thema, sonst gibt es am Abend keine indische Geschichte. Versprochen?“ Der Fritz verspricht’s. Großes Ehrenwort.
Tatsächlich passiert ihm bei Tisch nur ein einziger Ausrutscher. Es ist bei der Nachspeise. „Magst du noch ein Stück?“, fragt die Mama und deutet auf die Biskuitroulade. „In Indien …“, beginnt Fritzchen, holt erschrocken Luft, sieht zum Papa hinüber und rettet sich ziemlich erfinderisch, indem er laut und deutlich sagt: „In Indien gibt es keine Biskuitrouladen.“
Der Papa kommt zum Gute-Nacht-Sagen wie versprochen. Der Papa hält immer, was er verspricht. Aber Fritz hat beim Abendessen gehört, dass er noch in die Redaktion muss, er wird nicht lange bleiben, also nur keine Zeit vertrödeln.
„Bitte, Papa, wie ist der Jakob von Indien in den Zoo gekommen!“ Kurz und bündig.
Der Vater denkt ein wenig nach, schmunzelt und sagt, schließlich auch kurz und bündig, „als Geschenk“. Als er in die erwartungsvoll aufgerissenen Augen seines Buben schaut, gibt er sich einen Ruck. „Der Jakob war noch ein kleiner Elefant, ungefähr so alt wie du jetzt, als ihn … der Maharadscha von Cochin … dem Erzherzog Leopold von Österreich geschenkt hat.“
Das muss der Fritz erst verdauen. Es dauert eine Weile. Eine ganze Sturzflut von Fragen tobt durch seinen Kopf. Maharadscha … Erzherzog … Der Vater weiß das, er kann das Durcheinander nämlich fühlen, wenn man lieb hat, fühlt man so etwas. Er wuselt mit beiden Händen durch die hellen Locken seines Sohnes. „Mein Feppchen“, sagt er, „diese Geschichte ist so lang wie ein ganzes Elefantenleben. Ich werde sie dir erzählen. Aber es wird lange dauern. Du musst Geduld haben.“
Geduld ist eine Tugend. Sagt die Mama. Je mehr Tugenden man hat, desto tauglicher ist man als Mensch. Sagt die Mama. Sie hat ihm auch aufgezählt, was man alles sein muss, um tauglich zu sein. Lauter Tugenden. Die meisten hat der Fritz vergessen. Aber die Geduld, die kennt er. Weil die Mia, wenn sie ihm seine Siebensachen für den Kindergarten zusammenpackt, immer wieder sagt: „Mein Gott, Kind, hör auf zu zappeln, sei nicht so ungeduldig.“ Also weiß der Fritz, dass er nicht geduldig ist. Und dass es schwer ist, geduldig zu sein, wenn man auf etwas sehr wartet. Zum Beispiel auf den Papa, um mehr über den Jakob zu erfahren.
Der Papa hat sehr viel in der Zeitung zu tun. Auch abends. Manchmal, wenn etwas Aufregendes auf der Welt geschieht, muss er sogar mitten in der Nacht in sein Büro, das alle „die Redaktion“ nennen. Und wenn er endlich zu Hause ist, gehört er vor allem der Mama. Die beiden haben immer etwas zu reden. Sie reden gern zu zweit. Da hört man sie auch immer wieder lachen. Und dann gehört der Papa natürlich auch dem Otto. Mit dem großen Bruder spricht er über die Schule. Der geht nämlich schon ins Gymnasium. Und mit dem Otto spricht er auch über die Dinge, die grade in der Welt geschehen. Den Otto interessiert das sehr. Den Fritz eigentlich gar nicht. Obwohl er gern dabeisitzt, weil er gern hört, wenn der Papa mit seiner ruhigen tiefen Stimme etwas erzählt. Außerdem will er wissen, was den Otto interessiert. Dann könnte man vielleicht mitreden, wenn die Spezln zum Otto in den Garten kommen, vielleicht mit ihnen Elfmeter trainieren …
Jetzt freilich ist es anders. Jetzt braucht der Fritz den Papa für sich. Allein, weil der Papa vielleicht vor den anderen nichts vom Jakob erzählen möchte. Weil der Fritz gar nicht will, dass der Papa vor den anderen erzählt. Weil es schön ist, mit dem Papa etwas zu haben, von dem nur sie beide wissen. Also nervt jetzt der Fritz die Mama und die Mia, weil er ständig fragt, wann der Papa heute nach Hause kommen wird. Meistens wissen sie es nicht. Aber wenn sie es wissen und „Mittag“ oder „Abend“ sagen, dann lauert er im Hausgang auf den Vater. Er muss oft lange warten. „Das ist ja ganz neu, wieso bist du denn auf einmal so geduldig?“, hat die Mia einmal gefragt. „Wegen der Tugend“, hat der Fritz gesagt.
„Zwischen Tür und Angel?“, fragt der Papa, als der Fritz ihm zum ersten Mal erfolgreich auflauert. Es ist später Mittag, der Papa biegt mit langen Schritten in die Toreinfahrt, als Fritz ihm entgegenspringt und bittet: „Erzähl, Papa, nur ein kleines Stück, vom Elefanten …“ „Aber Feppchen, einfach so, zwischen Tür und Angel?“ Er lächelt dazu. Und nimmt den Fritz bei der Hand, und langsam gehen sie durch die Einfahrt in den Garten, einmal zum Salettl und zurück, die Stiege hinauf bis zur gläsernen Tür, und da erfährt der Fritz immerhin das Folgende:
Vor rund dreißig Jahren, als es noch den Kaiser in Wien gegeben hat und Wien die Hauptstadt vom Kaiserreich gewesen ist, da ist ein Verwandter des Kaisers, ein gewisser Erzherzog Leopold, der sich sehr für fremde Länder interessiert hat, ins ferne Indien aufgebrochen. Ganz Indien hat er bereist, bis er schließlich in Kerala angekommen ist. In der dortigen Hauptstadt Cochin hat er den Maharadscha – so nennen die Inder ihre Fürsten – besucht. Ein sehr, sehr reicher Mann, der neben vielen anderen Reichtümern auch sehr viele Elefanten besitzt. Einen weißen Elefanten, auf dem nur er reiten darf. Und ein ganz großes Elefantencamp, in dem seine Arbeitselefanten leben. Der Erzherzog und der Maharadscha haben sich sehr gut verstanden. Also hat der Maharadscha dem Erzherzog ein Abschiedsgeschenk machen wollen. Und was hat er ausgesucht?
Einen kleinen Elefanten! Den hübschesten kleinen Elefanten im ganzen Camp.
Sein Name war Puha. Der sollte mit dem Erzherzog Leopold nach Europa reisen …
Ausgerechnet da stehen Vater und Sohn vor der gläsernen Tür im ersten Stock, und die Mama ruft, „Seid ihr da? Die Suppe wartet.“
„Papa, hat der Erzherzog dem Maharadscha auch etwas geschenkt?“ Fritz flüstert, gleich ist man im Speiszimmer, die anderen sollen ja nichts Indisches hören.
„Der Erzherzog hat nichts Passendes dabeigehabt, aber er hat den Maharadscha nach Österreich auf die Jagd eingeladen und ihm eine Gams versprochen“, flüstert der Papa zurück. Und ruft ins Speiszimmer: „Verzeih die Verspätung, Paula, wir sind da!“
Während des Mittagessens ist der Fritz ungewöhnlich still. Er muss sich das alles durch den Kopf gehen lassen. Das mit dem Geschenk zum Beispiel. Im Vergleich zu einem Elefanten ist eine Gams doch eher mickrig. Dieser Erzherzog war wohl ein Geizkragen. Und der kleine Elefant, ob der gerne aus seinem Land weggegangen ist?
„Feppchen, wo ist die Hand“, sagt die Mama mit ihrer schönen weichen Stimme. Fritzchens linke Hand hat nämlich die Angewohnheit, während des Essens vom Tisch zu verschwinden, sich am Knie zu kratzen oder nach den Murmeln in seiner Jackentasche zu tasten. Wupps, kehrt sie zurück auf das weiße Tischtuch, die Hand, wo sie die Mama gerne sehen möchte. Die Mama wird nie laut, wenn sie ihre Kinder ermahnt. Sie schimpft auch nie wie Mütter anderer Kinder. Sie sagt einfach ruhig, was sie zu sagen hat, legt dabei den Kopf etwas schief und schaut ihren Kindern in die Augen. Da macht eins einfach, was die Mama möchte. Genau das macht man.
An diesem Tag gibt es keine Möglichkeit mehr, beim Papa um weitere Jakob-Geschichten zu betteln. Er fährt in die Redaktion, und als es Zeit zum Schlafen wird, ist er noch nicht nach Hause gekommen. Also kommt die Mama, um Gute Nacht zu sagen.
An sich hat das der Fritz besonders gern. Die Mama, die sehr viel dichtet, hat nämlich für ihren Sohn einen kleinen Vers erfunden, den sie aufsagt, sobald der Fritz zugedeckt im Bett liegt. Und dieser Vers geht so: Liegst im Bettchen / rein und weiß gekleidet / wirst von allen / Tieren sehr beneidet/ auch vom aaaaarmen / kleiiiinen / Hasimandili. Das Besondere dabei ist, dass die Stimme der Mama ab dem … armen kleinen … immer langsamer und leiser wird. Auf das Hasimandili muss man etwas warten. Denn das Hasimandili ruft die Mama nach einer Pause ganz plötzlich heraus. Und laut. Und dazu macht sie einen kleinen Hasenhopser, so dass man ein bisschen erschrickt, und vor Vergnügen lachen muss, als würde man gekitzelt.