Neunzehn Achtel Oma und Opa

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Neunzehn Achtel Oma und Opa
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Neunzehn Achtel Oma und Opa

1  Titel

2  Impressum

3  Vorwort

4  1. Kapitel

5  2. Kapitel

6  3. Kapitel

7  Nachsatz

Titel

Neunzehn Achtel

Oma und Opa

Oder

Meine Eltern

Werden alt

Hanna

Ein Buch über

Demenz, Alzheimer

und Pflegebedürftigkeit

Impressum

Gewidmet ist das Buch allen,

die Muddi und Vaddi gemocht und geliebt haben.

Alle Namen von Personen und Orten

sind geändert, um die

Persönlichkeitsrechte nicht zu verletzen.

Dieses Buch darf nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin vervielfältigt und/oder veröffentlicht werden.

Impressum

Neunzehn Achtel Oma und Opa

Oder

Meine Eltern Werden alt

Copyright: © 2016 Hanna Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Vorwort

Vorwort

Ich besuche Muddi im Altenheim, jeden Tag.

Seit fast 4 Jahren.

Sie erkennt mich meist, aber manchmal auch nicht. Sie kann kaum noch laufen, kann ganz schlecht sehen und dass ihr Mann, mein Vater, vor fast 2 Jahren gestorben ist, das weiß sie nur manchmal.

4 turbulente Jahre.

Jahre, in denen wir lernen mussten, was Demenz und Alzheimer bedeutet. Jahre, in denen wir dieses auch in unserer Familie akzeptieren mussten, ob wir wollten oder nicht.

Es war nicht so, wie wir dachten, ja, überzeugt waren, dass meine Eltern nicht dement werden, kein Alzheimer bekommen und auch nicht pflegebedürftig werden.

Heute ist das Wetter schön, die Sonne lacht und ich will mit ihr im Rollstuhl an die frische Luft. Sie liegt, wie immer, auf dem Bett und schaut zur Decke.

Manchmal hat sie auch die Augen zu und manchmal schläft sie auch tief, wenn ich komme. Aber heute ist sie wach und scheint auch gut drauf.

„Hallo Muddi“, sage ich, „wie geht’s?“

„ Wie immer“, vernehme ich, wenn ich mich anstrenge. Denn ganze Sätze sprechen ist ihr heute nicht immer möglich. „Ich wollte mit dir nach draußen, die Sonne scheint so schön“. „Ja, geht das denn?“ fragt sie dann. Das fragt sie dann immer, als wenn wir nicht gestern und vorgestern auch draußen am Bach gesessen hätten, die Enten füttern. Als wenn wir das nicht andauernd machen würden.

Sie weiß es jetzt im Moment eben nicht mehr. Das ist so.

Ich bin nur noch traurig. Traurig, weil ich dieses Leben oder wie auch immer man so etwas bezeichnen soll, mir für sie nicht gewünscht hatte.

Das hat sie einfach nicht verdient!

Sie ist so ein toller Mensch, war sie zumindest früher immer, aber auch heute ist sie immer noch ein toller Mensch, sie ist nie aggressiv, sie meckert nicht, schimpft nicht, nimmt alles so demütig hin. So, als ob sie im Gefängnis sitzt.

„ Darf ich das denn?“ fragt sie. „Natürlich darfst du das!“

Sie ist nicht im Gefängnis, sie ist hier Zuhause. Sie hat um Gottes Willen auch überhaupt keinen Grund, im Gefängnis zu sein.

Aber sie ist im Gefängnis: in ihrem eigenen Gefängnis, gefangen von der Krankheit, die Demenz heißt, gefangen von der körperlichen Beeinträchtigung, die der Schlaganfall hinterlassen hat. Gefangen in ihrem Kopf, der zwar alle Sätze denkt, der Mund sie aber nicht mehr aussprechen kann.

Gefangen, weil sie immer weniger redet, weil ja sowieso nichts Richtiges mehr rauskommt, sie sich darüber ärgert, weil ein Satz mindestens 3 Versuche braucht, weil das erste Wort Brot heißen soll, sie aber Tulpe sagt.

Und nach den 3 Versuchen sagt sie, “ach egal“. Vermutlich hat sie dann ja auch vergessen, was sie sagen wollte.

Vermutlich!

Ich vermute immer nur. Ich weiß das nicht. Ich weiß gar nichts. Sie kann es mir leider auch nicht sagen.

Ich habe mich natürlich schlau gemacht. Aber da gibt es keine allgemeingültige Regelung. Da ist jeder Mensch anders. Niemand kann einem die richtigen Ratschläge geben, bei dem Einen geht es so am besten, beim Anderen eben anders. Und bei Muddi eben nochmal anders.

Sie ist meine Mutter, das ist der große Unterschied zu all den Bewohnern hier, die ich zum Teil auch schon lange kenne. Ich mag die Bewohner hier alle, jeden eben so, wie er ist. Manche nett und freundlich, manche miesepetrig, manche wissen überhaupt nichts mehr, manche laufen rastlos herum, manche sind völlig apathisch.

Aber Muddi ist eben Muddi! Meine Muddi! Das ist etwas ganz Anderes, sie ist etwas Besonderes. Meine Muddi eben!

Ich weiß, wenn sie einmal nicht mehr ist, dann wird sie mir fehlen. Noch mehr fehlen, als das jetzt schon der Fall ist. Denn die schlimmen Dinge, die sind schnell vergessen.

Das sehe ich ja an Vaddi. Es gibt Tage, da wünsche ich mir, er säße im Speisesaal oder steht am Fenster oder ich könnte mich im Heim auf die Suche nach ihm machen.

Und wenn ich ihn gefunden hätte, dann würde ich seine Beine eincremen und sehr gerne seinen unermüdlichen Erzählungen zuhören.

Und bei Muddi würde ich sehr gerne nur neben ihr sitzen und kuscheln. Ohne Worte.

Noch kann ich das und das ist auch gut so.

Es begann mit Tag X, im Januar 2011. Mit einem Schlag.

Tag X, den wir nie wollten, immer dachten, die zwei bleiben so, wie sie sind. Zwar alt, aber total fit. Im Kopf und in den Beinen.

Sie werden weder dement noch bekommen sie Alzheimer, sie sind ja schon so alt, was soll denn da noch passieren?

Und während sie begeistert bei Günther Jauch mitraten, da werden sie Hand in Hand einfach sterben.

Davon war ich fest überzeugt.

1. Kapitel

1. Kapitel

Es war der 19. Januar 2011, ein Mittwoch.

Mein Mann Claus und ich saßen in Ostfriesland, wo wir in einem schönen Haus zur Miete wohnen, gemütlich am Nachmittag beim Kaffee zusammen, als das Telefon klingelte. Es war eine uns nicht bekannte Nummer, die auf dem Display erschien, allerdings war die Vorwahl aus dem Ort, in dem auch meine Eltern wohnten. Gespannt nahm ich das Gespräch an.

Es war Karin, die Nachbarin meiner Eltern, sie ist etwa 70 Jahre alt und sie berichtete, dass Vaddi Einkaufen war, nicht Muddi.

„ Ich mache mir Sorgen um eure Muddi, sie ist ja gestern im Einkaufsladen hingefallen“, sagte Karin. „Heute Morgen ist dann euer Vaddi zum Einkaufen. Vielleicht geht es ihr nicht so gut. Aber sag bloß nicht, dass ich euch angerufen habe, das wollen sie nicht.“

Mit Karin und ihrem Mann haben unsere Eltern gerne einmal geklönt, zu Geburtstagen und anderen Festen luden sie sich gegenseitig ein. Ab Mittag überließen unsere Eltern Karin und ihrem Mann die Tageszeitung, die sie morgens geliefert bekamen und die Bildzeitung, die Muddi jeden Tag kaufte. Karin hatte immer mal einen Blick auf die beiden. Ich habe ihnen irgendwann einmal meine Telefonnummer gegeben, falls mal etwas sein sollte.

Also gestorben, dachte ich immer, denn ernsthaft krank werden sie nicht, sie gehen ja auch gar nicht erst zum Arzt.

„Brauchen wir nicht, wir sind gesund!“

Erschrocken rief ich nach diesem Anruf gleich bei meinen Eltern an, unter einem Vorwand, denn ich telefonierte eigentlich seit vielen Jahren, außer es gab etwas Außergewöhnliches, immer nur jeden Freitag um 18 Uhr mit den beiden. Jeden Freitag, auch im Urlaub, auch aus dem Ausland, sogar aus Übersee.

Diesmal ging Vaddi ans Telefon, sonst war es eigentlich immer Muddi und ich wollte irgendetwas Belangloses wissen. Vaddi war froh, mir eine Auskunft geben zu können und ich fragte dann, ob ich Muddi mal sprechen könne, denn eigentlich telefonierte ich immer nur mit ihr.

„Ach, die hat sich etwas hingelegt“, sagte er. Sie sei ja gestern im Supermarkt umgeknickt, aber es gehe Muddi eigentlich gut.

„ Die haben ihr ein Glas Sekt gegeben, für den Kreislauf und dann ist sie wieder nach Hause gegangen“.

Eigentlich mag Muddi gar keinen Sekt.

„Na siehst du“, hatte Claus noch zu mir gesagt, „Karin übertreibt“.

Ich bin seit langer Zeit OP Fachschwester, halbtags nur noch und hatte gerade eine Freiwoche an meiner Arbeitsstelle, wohl musste ich am Samstag wieder ran, aber wenn es schlimm wäre, dann wären wir mal eben hingefahren. Es sind etwa 300 Kilometer, aber wenn etwas wäre, hätten wir das gemacht. Nach dem Telefongespräch stand das aber für uns nicht mehr zur Debatte, so dick sei der Fuß nun auch nicht, sagte Vaddi.

Am Donnerstag rief ich noch einmal dort an, denn ich wollte jetzt hören, wie es Muddi geht. Da hatte ich ja einen Grund. Wieder ging nur Vaddi dran und sagte, sie würde immer noch im Bett liegen. „Jetzt winkt sie dir zu“, sagte er.

 

Der Portapotti, also die tragbare Toilette aus ihrem früheren Campingbus, steht neben dem Bett, ebenso eine Flasche Wasser. Dann braucht sie nicht so weit laufen.

Vaddi war noch nie der großartige Telefonierer, er war da eigentlich immer kurz angebunden und wenn er nicht, so wie jetzt, an Muddi weitergeben kann, dann ist das Gespräch eben nur kurz.

„UNS GEHT’S GUT!!!“

Kurz angebunden war Vaddi eigentlich nur am Telefon. In den letzten Jahren, so ganz schleichend, hatte er mehr und mehr geredet. Am Schönsten war es, wenn wir bei ihnen draußen im Garten saßen und man zwar in einer großen Gruppe, aber dennoch mit ihm nebeneinander allein saß.

Vaddi ist seit dem Krieg auf einem Ohr völlig taub, das bedeutet, man musste sich ihm ganz widmen. Was der Rest der Gruppe sagte, nahm er nur als Geräusch wahr. Er war also bei seinem Gesprächspartner sehr aufmerksam. Und er redete eigentlich ständig selber. Ich habe immer gedacht, er redet wahrscheinlich nur deswegen, weil er so schlecht hört. Dann kann er auch nichts falsch verstehen. Denn was er sagt, das weiß er ja.

Manchmal, früher, wenn Vaddi wie ein Buch geredet hatte, dann hatte Muddi gewinkt oder den Arm gehoben, wie in der Schule, weil sie auch etwas sagen wollte.

Wir waren immer zu höflich gewesen, Vaddi in seinem Redeschwall zu unterbrechen. Doch wenn er denn mal die Luft anhielt, dann hatte Muddi vergessen, was sie sagen wollte.

Das ist uns auch schon mal passiert, manchmal verzettle ich mich selber, wenn ich zu weit aushole. Dann hab ich das eigentlich Wesentliche, das ich sagen wollte, auch schon mal vergessen.

Was wollte ich sagen? Ach ja, hätten wir uns da schon Sorgen machen sollen?

Hätte sie mir heute etwas Wichtiges sagen wollen?

Am Freitag, 21.1.2011 am Nachmittag rief Karin erneut an. „Deine Muddi sieht so komisch aus, auch im Gesicht. So grün irgendwie.“

Wir rieten, einen Arzt zu rufen, was sie aber nicht machen wollte. Ich versuchte telefonisch die Hausärztin zu erreichen, aber da ist natürlich am Freitag Spätnachmittag keiner mehr. Dann rief ich bei Vaddi an, dem nun auch bei der ganzen Geschichte mit Muddi nicht mehr so wohl war. „Ich hab mich gestern Nacht nicht ausgezogen, falls mit Muddi was ist.“

„Warum hast du uns denn nicht angerufen?“ wollte ich wissen. „Ach, ich wollte euch nicht beunruhigen, es ist ja auch nichts gewesen“, meinte er daraufhin.

„ Karin hat aber gesagt, Muddi ginge es gar nicht gut“, sagte ich.“ Ja schon“, antwortete er.

„Bitte ruf einen Krankenwagen“ beschwor ich ihn. Er fühlte sich allerdings überfordert, die 112 anzurufen. Wir beruhigten Vaddi und sagten, er solle mal Muddis Krankenkassenkarte suchen, wir würden uns kümmern.

Von Ostfriesland aus beauftragten wir einen Krankenwagen in Schleswig Holstein. Leider keinen Notarzt! Aber wir wollten auch nicht so viel Tatü Tata haben. Karin baten wir, rüberzugehen und sich ein bisschen zu kümmern.

Wenig später war dann der Krankenwagen da, Karin ist mit ein paar eiligst zusammengepackten Habseligkeiten von Muddi mitgefahren.

Die Zeit war für mich sehr lang, ich wollte nicht zu früh wieder anrufen, aber am liebsten hätte ich ständig einen Lagebericht erhalten. So viel Aufregung und die 2 sind ganz alleine.

Ich telefonierte mit meiner Schwester Edda, die am Niederrhein wohnt und suchte mir eine Kollegin, die sich netterweise noch am Freitagabend bereit erklärte, am Samstag meinen 24 Stunden-Bereitschaftsdienst zu machen. Das ist normalerweise nicht so einfach.

Edda wollte morgen natürlich mit mir zusammen zu Muddi und Vaddi fahren.

Am Samstag, den 22.1. brachte Eddas Mann Roland am frühen Morgen Edda zu uns nach Ostfriesland und nach einem Frühstück sind Edda und ich mit meinem PKW nach Schleswig Holstein. „Hoffentlich kommt ihr noch rechtzeitig“, hatte Claus gesagt, als wir losfuhren.

Es war eisig, nebelig und schlecht zu Fahren. Die LKW donnerten auf der Überholspur an uns vorbei, als ob es nicht glatt wäre. Gut, dass wir uns unterhalten konnten, denn alleine bei dieser Fahrt, da kommen einem doch so viele und schlechte Gedanken.

An unsere Kindheit können wir uns gut und gern erinnern. Sie war einfach nur toll!

Ich bin als Jüngste mit 3 weiteren Geschwistern am Niederrhein aufgewachsen. In einer Werkswohnung, denn mein Vater war der Meister hier. Wir Kinder glaubten immer, er sei der Chef vom Ganzen.

Meine Schwester Edda und ich waren eineinhalb Jahre nacheinander geboren und bildeten eine Einheit. Dann hatten wir noch eine ältere Schwester, Inga und einen älteren Bruder, Hannes. Die beiden hätten vom Alter her auch eine Einheit sein können, aber Inga fühlte sich schon immer zur Kindergärtnerin berufen und übte schon in jungen Jahren an uns Geschwistern. Auch an Hannes, der nur ein Jahr jünger war als sie. Der arme Kerl, er konnte sich kaum gegen sie wehren, denn er bekam auch von Vaddi immer Aufgaben, die ~ein Mann ~ zu machen hatte: Müll runter tragen, Schuhe putzen, Fahrradreifen flicken, Garten umgraben und von Inga eben auch Aufgaben wie Kochen, Abwaschen, auf die Kleinen aufpassen, wenn sie etwas anderes vorhatte.

Leider bekam Inga einen Gehirntumor und starb daran, noch ehe sie 30 Jahre alt werden konnte. Ihr Sohn Jörn war damals 6 Jahre alt.

Wenige Jahre danach bekam Hannes epileptische Anfälle und die Untersuchung ergab, dass auch er einen Gehirntumor hatte und schließlich auch daran verstorben ist.

Unsere Eltern haben in dieser Zeit ziemlich viel verkraften müssen.

Nachdem Hannes gestorben war, ging Vaddi in Rente.

Sie wollten und mussten ja aus der Werkswohnung ausziehen und suchten in Schleswig Holstein nach einer neuen Bleibe. Fast jeden Urlaub hatten sie mit ihrem VW Campingbus im Norden verbracht.

Sie fanden in einem kleinen Ort ein kleines Haus zur Miete. Mit einem großen Garten, in das sie einen älteren kleinen Wohnwagen als Gästezimmer aufstellten, weil das Haus für Gäste zu klein war. Das Haus hatte nur 3 Zimmer, wobei das 3. Zimmer winzig, dafür aber das Bad und der Flur ziemlich groß waren. So im Verhältnis.

Niemand von uns Verwandten wohnt in Schleswig Holstein.

30 Jahre sind nun nach ihrem Umzug nach Schleswig Holstein vergangen.

Endlich sind wir an der Autobahnabfahrt, von hier aus sind es nur noch wenige Kilometer bis zu den beiden.

Doch wir mochten auch erst gar nicht in die Straße einbiegen und kauften lieber erst mal Blumen für Karin, Liebeslakritzen für Muddi und Trostschokolade und Blumen für Vaddi.

Die Tür vom Haus ist nicht abgeschlossen. Als wir hereinkommen sitzt Vaddi im Wohnzimmer auf dem Sofa und weint! Wann haben wir unseren Vater denn mal weinen gesehen? Wir setzen uns zu ihm und weinen auch! Es ist so schwer, Vaddi wieder zu beruhigen, er hat, genau wie wir, furchtbar Angst, Muddi zu verlieren.

„Ich weiß nicht einmal, wie es ihr geht, es hat auch keiner angerufen“, stammelte er. Er war mit der Situation jetzt plötzlich völlig überfordert.

Er ist 93 Jahre alt. Er hat kein Auto mehr und traute sich auch nicht, das Haus zu verlassen, weil er dann telefonisch nicht erreichbar ist. Er hoffte so sehr auf einen Anruf vom Krankenhaus.

„Ich bin so froh, dass ihr hier seid, wisst ihr schon was? Ist Muddi tot?“ „Wie kommst du darauf?“ wollte Edda erschrocken wissen. „Weil ihr allebeide hier seid.“

Natürlich wissen wir nichts, wer sollte uns denn angerufen haben? Wir fahren zusammen direkt los ins Krankenhaus.

Muddi liegt in einem sehr engen 3 Bettzimmer auf der inneren Abteilung. Sie sieht aber besser aus, als wir befürchtet hatten.

Wir bemerken, dass der linke Arm nicht richtig funktioniert und der linke Mundwinkel hängt. Muddi kann auch sehr schlecht sprechen. Sie bekommt mehrere Bluttransfusionen, die meisten laufen nicht in die Venen, sondern in den Arm, er ist blitze blau!

„ Ich kann nicht richtig reden“ stammelte sie immer wieder und versuchte, Worte zu bilden.

Als das Mittagessen gebracht wurde, setzte man sie an die Bettkante und wir sind in der Zeit mit Vaddi in die Kantine vom Krankenhaus, auch etwas essen. Vaddi hat bestimmt schon einen ganzen Tag lang nichts gegessen.

Er kann eigentlich gar nicht ohne Muddi. Wenn Muddi mal stirbt, dann setzt er sich aufs Sofa, macht die Augen zu, schläft ein und wacht einfach nie mehr auf. Davon waren wir schon immer überzeugt. Er will ja immer auf sie aufpassen, er liebt sie ohne Ende.

„Ich will unbedingt 95 werden“ hatte er mal nach seinem 90. Geburtstag gesagt. „Wie kommst du da jetzt drauf?“, fragte Claus. „Dann ist Muddi auch mal 90 geworden und der Bürgermeister kommt auch zu ihrem Geburtstag“.

Wir hatten nie einen Zweifel daran, dass sie keine 90 und 95 Jahre alt werden könnten.

Einen Arzt können wir jetzt nicht sprechen, es ist Wochenende!

Als wir wieder zurück sind suchen ein paar Sachen für Muddi zusammen, sie braucht Unterwäsche, Schlafanzüge und noch ein paar Kosmetikartikel. Dabei merken wir, dass der Wäschekorb im Bad ziemlich voll ist. Montags wird bei denen ja immer Wäsche gewaschen. Wir bitten Vaddi, etwas anderes anzuziehen, damit wir diese Sachen auch noch mit waschen können.

Völlig gegen die Normalität waschen Edda und ich Wäsche am Samstagabend. Und gleich auch noch ein Tempotaschentuch in Vaddis schwarzer Hose mit. Toll!

Der nächste Tag war ein Sonntag und Vaddi wollte heute nicht mit zum Krankenhaus. So verbringen Edda und ich den Vormittag bei Muddi im Krankenhaus, mittags essen wir mit Vaddi, er hatte etwas gekocht.

Am Nachmittag nehmen wir Karin mit. Wir können immer noch keinen Arzt sprechen. Daraufhin schreiben wir einen Brief an die Schwestern der Station, die völlig überlastet sind, damit sie diesen Brief an den Arzt geben. Wir bitten dabei um ein neurologisches Konsil, da wir vermuten, dass sie einen Schlaganfall hatte.

Sie hat Wortfindungsstörungen, der Mundwinkel hängt und ihr linker Arm gehorcht ihr nicht mehr. Das hatte sie vorher nicht. Das schreiben wir alles auf, das können sie ja nicht wissen. Die Innere, auf der sie liegt, interessiert sich allerdings nur für Muddis Blutarmut. Kein Mensch kann uns Auskunft geben, nicht mal Muddi, die Station ist bis oben vollgestopft mit Patienten, selbst im Besucherraum sind Patienten untergebracht.

Der Sonntagabend mit Vaddi wird für uns beide ziemlich anstrengend. Eigentlich hatten Edda und ich Redebedarf, was da jetzt so passiert ist. Aber Vaddi hatte auch Redebedarf. Er wollte uns unbedingt noch die Geschichte erzählen, wie er beim Militär 13 Männer, die alle Meier hießen, in ihre verschiedenen Abteilungen unterbringen musste. Sie hießen fortan nur noch Meier 1 bis 13. Edda kannte diese Geschichte schon und gab vor, sehr müde zu sein.

„Ich geh schon mal rüber in unsere Ferienwohnung und leg mich hin“, sagte sie. Vaddi schaute ziemlich enttäuscht und ich versprach ihm, ein Bier mit ihm zu trinken. Dann kann er mir die Geschichte einmal in aller Ausführlichkeit erzählen. Sie war sehr spannend, doch leider hatte auch ich sie schon mehr als duzend Male gehört.

Da Vaddi überhaupt nicht über Muddi reden wollte, ließ ich ihn damit auch in Ruhe. Ich hätte zwar gerne gehört, wie sich das alles die letzten Tage abgespielt hatte, aber, wie gesagt, ich ließ ihn damit in Ruhe. Er muss sich bestimmt mit seinen anderen Geschichten ablenken und ich fand das dann auch in Ordnung.

Am nächsten Morgen, nachdem wir mit Vaddi gefrühstückt hatten, kaufen Edda und ich erst mal in der Stadt ein paar Dinge für Muddi ein. Sie braucht etwas Unterwäsche, Pullis und Jogginghose und einen neuen Schlafanzug.

Ihre Sachen im Schrank sind allesamt nicht mehr so toll. Das ist uns früher nie so aufgefallen, Nacht- und Unterwäsche sahen wir höchstens mal montags auf der Leine zum Trocknen. Da haben wir vielleicht auch mal drüber geschmunzelt, was Muddi für Schlüpfer trägt und die ausgeleierten Schlüpfer dienten immer als Putzlappen. Wir können uns alle an diese Lappen mit rosa oder hellblauen Blümchen erinnern, wenn wir im Badezimmer waren.

Neue Hausschuhe zu kaufen war wirklich nicht so einfach. Wir fanden ein Paar mit Klettverschluss, die auch bis über die Knöchel reichen. Edda und ich probierten sie jeder in unserer Größe an und dann kauften wir auf Verdacht ein Paar in Muddis Größe.

 

Die Schlafanzugshose lassen wir in einer Änderungsschneiderei nach Gefühl kürzen, denn Muddi ist klein. Jetzt kostet der Schlafanzug gleich doppelt so viel, aber wir wissen nicht, ob Muddis Nähmaschine noch funktioniert, ob Vaddi uns dazu Zeit lässt und sie braucht das ja alles am besten schon gestern…

Es ist ja nun Montag und wir hegen große Hoffnung, heute einen Arzt sprechen zu können. Als wir im Krankenhaus angekommen sind, ist Muddis Platz im Krankenzimmer leer. In uns krampft sich alles zusammen. Was ist los?

„Sie ist zur Magenspiegelung“, sagte ihre Bettnachbarin.

Wir warten auf dem Flur, auf dem an einer Wand, wie in einem Kino, solche Einklappstühle angebracht sind. Hektisches Treiben ist auf dem Flur, Schwestern und Ärzte eilen an uns vorüber, den Blick immer auf irgendetwas gerichtet, um nur ja keinen Angehörigen ansehen zu müssen. Dazu ist jetzt keine Zeit.

Ein Bett wird am Ende des Flures um die Ecke geschoben und dort abgestellt, keiner brachte das Bett ins dazugehörige Zimmer. Keine Zeit, scheinbar. Edda und ich sitzen auf dem Flur, nur ein paar Meter entfernt und merken nicht, dass der Patient in dem Bett da Muddi ist.

Direkt neben uns auf dem Flur wird ein Gespräch Arzt - Angehöriger geführt. Wir bemühen uns inständig, nicht zuzuhören und beschäftigen uns sehr intensiv damit, auch diesen ~ nicht Zuhörer~ Eindruck zu unterstreichen. Für uns hat man keine Zeit.

Bei Edda klingelt das Handy, es ist von ihrer Firma, da muss sie dran. Also verzieht sie sich ins Treppenhaus, damit keiner merkt, dass sie im Krankenhaus mit dem Handy telefoniert.

Plötzlich kommt eine Schwester ins Zimmer und sagt schroff: “ Sie sollen ins Arztzimmer kommen“.

Edda ist noch nicht zurück, aber die Bettnachbarin sagte Edda wenig später, wo ich nun hin bin.

Wir sagen unsere Bedenken wegen des Schlaganfalles und wir schreiben uns auch den Namen der Ärztin auf.

Sie habe ja am Freitag bei der Aufnahme schon ein neurologisches Konsil gehabt, da wäre nichts, aber das Hb ist so niedrig, vielleicht blutet sie in den Darm, da hätte man vor 3 Jahren mal einen Polypen entfernt. Auf unsere Bedenken geht sie, ziemlich bestimmt, gar nicht ein. Sie ist die Fachfrau, sie sagt, wo es langgeht.

Morgen soll sie eine Darmspiegelung bekommen. Dafür muss sie Unmengen Abführflüssigkeit trinken.

In das viel zu enge 3 Bettzimmer ist eben noch ein 4. Bett hinein geschoben worden.

Edda und ich essen wieder in der Kantine des Krankenhauses. Am Nachmittag gehen wir zum Kaffee mit Vaddi zum Nachbarn Hermann, der hat heute Geburtstag. Vaddi will eigentlich nicht, aber wir überreden ihn. So viele Leute auf einmal in einer geschlossenen Wohnung ist eigentlich nichts für ihn. Zu unserer Überraschung unterhält er sich aber ganz gut, sodass Edda und ich kurz darauf wieder zu Muddi ins Krankenhaus fahren, um sie beim Abführen zu unterstützen. Unmengen trinken ist schon lange nichts mehr für Muddi. Wir mussten die beiden immer wieder anhalten, etwas mehr Flüssigkeit zu sich zu nehmen.

In dem viel zu engen 4 Bettzimmer steht jetzt auch noch ein Toilettenstuhl neben ihrem Bett, weil durch das dazugestellte Bett der Eingang zum Badezimmer sehr eng geworden ist. Zu eng für künstlich herbeigeführten Durchfall. Es riecht auch dementsprechend. Sie kann da nichts dafür. Muddi tut uns unendlich leid!

Am Dienstag wollen wir wieder fahren. Wir müssen ja auch wieder arbeiten. Und so fahren wir noch bei Muddi im Krankenhaus vorbei, um uns zu verabschieden. Sie sitzt auf dem Toilettenstuhl. Wir wollten noch etwas von der Ärztin wissen, aber die kennt man hier nicht!!!

“Ach, dann war das die AIP, die ist heute nicht da.” Wir sind total verunsichert!

Wir geben unsere Telefonnummern an, denn bei Vaddi anzurufen, das hat wenig Sinn. Er wird nicht verstehen, was sie wollen und wird uns, wenn denn überhaupt, nur unzureichend informieren.

Vaddi macht sich natürlich immer noch große Sorgen um Muddi, aber er ist jetzt auch ein wenig überfordert mit dieser Situation. Wir erklären Vaddi, dass man uns anrufen wird, wenn etwas ist und dass wir jeden Tag bei ihm anrufen werden.

Dann fahren wir wieder nach Hause, Roland holt Edda in Oldenburg ab. Auch die Oldenburger Enkel machen sich große Sorgen.

Die 4 Tage, die Edda und ich nun zusammen waren, haben uns richtig gut getan. Wenn man von dem Grund unseres Besuches einmal absieht. Schon lange nicht mehr hatten wir so viel Zeit für einander. Als wir am ersten Abend im Bett nebeneinander lagen, konnten wir gar nicht einschlafen. Es sind uns so viele Dinge eingefallen. Von früher.

Und wir stellten fest, dass Muddi schon etwas tüddelig geworden ist. Aber sie hatte auch früher Witze nicht verstanden und konnte kein Autofahren. Dafür erledigte sie immer alle Anrufe und Bestellungen. Da hatte jeder so seine eigenen Aufgaben. Und das war gut so. Vaddi drehte die Sicherungen wieder ein, was oft vorkam, denn wenn man in diesem alten, kleinen Haus gleichzeitig zwei Geräte anschaltete, dann flog die Sicherung einfach heraus. Muddi wusch die Wäsche, kümmerte sich um die Blumen im Garten. Vaddi schälte die Kartoffeln, mähte den Rasen und stellte die Mülltonnen vor die Tür.

Früher gab es in diesem kleinen Ort auch noch Einkaufsläden. Das war, als sie 30 Jahre zuvor dort hingezogen waren. Sie hatten ziemlich schnell einen neuen und großen Freundeskreis aufgebaut, fast alles natürlich ältere Leute. Diese sind dann natürlich auch genauso 30 Jahre älter geworden. Manche sind auch schon verstorben.

Und die Einkaufsläden hatten geschlossen, weil ein Supermarktzentrum am Ortsende aufgemacht hatte. So lange sie Autofahren konnten, war das ja auch kein Problem.

Meine Eltern fuhren nun in etwas höherem Alter auch nicht mehr mit dem Campingbus in die Ferien, sondern mit Reisebus oder Schiff.

Jedoch sagte Vaddi ständig jedem, dass er unbedingt mit 90 mit seinem Auto durch ihren kleinen Ort rauschen wollte und freute sich unbändig über den Witz. Jeder sagte dann „das ist doch viel zu schnell“, während er bei den 90 über sein Alter sprach.

Zum Einkaufen wählte er immer die Wege, bei denen er nur noch rechts abbiegen musste. Die Autos auf der Bundesstraße waren ihm zum Linksabbiegen zu schnell.

Erst als unser Vater fast 91 Jahre alt war, verkaufte er seinen VW Campingbus. Und sofort einen Rollator, den er Rolls nannte und ihn immer unter dem Carport parkte. Und wenn sie damit zum Einkaufen gingen, parkte er seinen Rolls bei den Autos in der Nähe der Einkaufswagen. So wie früher sein Auto.

Muddi und Vaddi waren immer bester Laune.

Mein Mann Claus und ich wohnten früher aus beruflichen Gründen in Baden-Württemberg.

Zu dieser Zeit haben wir, von den zahlreichen Sommerurlauben einmal abgesehen, an denen wir gerne auch das Haus 'hüteten', wenn die zwei auf ihren vielen Reisen waren, immer geschaut, dass wir entweder Weihnachten oder Silvester mit ihnen verbrachten. Es könnte ja das letzte Gemeinsame sein.

Jahrelang.

2010 musste ich an Weihnachten arbeiten und dann auch gleich zwischen den Jahren, sodass wir in diesem Jahr zum ersten Mal nicht an einem der Feiertage da sein wollten. Dafür aber am 4. Adventswochenende.

Anfang Dezember rief meine Mutter beinahe jeden Tag bei uns an. „Kommt Ihr Weihnachten?“ „Nein, Muddi, aber am 4. Advent.“ „ Ach, das ist gut, dann könnt ihr ja die Geschenke mitnehmen.“ Beinahe jeden Tag! „Ich schreib mir das jetzt auf“, sagte sie.

„Na, nicht das sie alt wird“, hatten Claus und ich gesagt. Mehr nicht.

Geschenke verschicken ist nun ohne Auto auch schwierig geworden, weil die Post im Industriegebiet noch einige Kilometer weiter weg als das Einkaufszentrum war. Also die Postfiliale, denn die Post hatte natürlich in diesem Ort auch geschlossen.

Als wir dann am 4. Adventswochenende dort waren, waren ihre bestellten Bilder noch nicht fertig. Jedes Jahr bekamen wir alle einen selbstgebastelten Kalender mit schönen Fotos. Aber das Geld, das sie immer großzügig unter uns Kindern, Enkeln und Urenkeln verteilten, das konnte schon mal in die Umschläge. Dabei verlor Muddi total den Überblick, sodass Claus anfing, eine neue Liste zu schreiben, wer was bekommt und wer jetzt schon einen Umschlag hat.

Muddi wollte mit mir auch noch in einen Einkaufsladen. Mit Mühe konnte ich sie davon abhalten, Babykleidung für ihre Urenkel zu kaufen, aus dem Alter waren 3 schon heraus und beim letzten wusste auch ich die exakte Größe nicht. Also wenigstens Geschirrhandtücher, wie jedes Jahr.

Aber sie war froh, jetzt mit mir mit dem Auto dort hin zu kommen. Denn sie fuhr im Sommer jeden Tag mit dem Fahrrad und ab Oktober allein zu Fuß mit dem Rolls den kleinen Berg hoch zum 1,5 km entfernten Supermarkt. Und wieder zurück. Jeden Tag. Die Bildzeitung kaufen.