Kinderjahre im Schatten des Dritten Reichs

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Kinderjahre im Schatten des Dritten Reichs
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Hanna Esslinger

Kinderjahre im Schatten des Dritten Reichs

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorbemerkungen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Schlussbemerkung

Impressum neobooks

Vorbemerkungen

Je älter ich werde, umso stärker drängen sich Erinnerungen an meine Kinderjahre ins Bewusstsein. Besonders lebendig werden mir bestimmte Szenen und Situationen aus den Jahren von etwa 1939 bis zum Ende der Nachkriegszeit und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949.

Dass ich diese Jahre so intensiv erlebt habe, ging nicht nur mir so, auch andere, damals Erwachsene, empfanden dies später genauso und begründeten es damit, dass alle damals mehr oder weniger lebensbedroht waren und sehr existenzielle Erfahrungen machten, wie beispielsweise Hunger und Kälte, wie sie es auch im Ersten Weltkrieg erlebt hatten, wenn sie alt genug waren.

Mir waren diese Gefühle als Kleinkind nicht so deutlich bewusst. Gefühlt habe ich sie sehr intensiv, später wurden sie vergessen, oder mehr noch, verdrängt. Doch jetzt im Alter drängen sie wieder ins Bewusstsein, und zwar nicht nur als Bilder, wie Fotos aus früheren Jahren, sondern verknüpft mit all den damals erlebten Ängsten und Gefühlen.

Warum fällt es mir so schwer, etwas von dem damals so intensiv Erlebten niederzuschreiben, habe ich doch in all den Berufsjahren viel über und für andere Menschen geschrieben? Sicher liegt es nicht nur daran, dass ich seit meiner Erblindung nicht mehr mit der Hand Buchstaben aufs Papier bringen kann, was für mich früher ein sehr lustvoller Vorgang war. Ist es die Scheu, schriftlich etwas festzuhalten, worauf ich später festgelegt werden kann? Dazu kommt das Wissen, dass Erinnerungen nicht etwas Einmaliges sind, die auf der Festplatte des Gedächtnisses ein für allemal feststehen, sondern immer wieder dem Prozess des Überschreibens durch innere Bearbeitungsvorgänge unterworfen werden. Doch ich will versuchen, diese Schreibbarrieren zu überwinden, und mich daran machen, das festzuhalten, was ich heute als alte Frau behalten habe. Ich versuche höchst subjektiv einer jüngeren Generation, die das sogenannte „Tausendjährige Reich“ nicht erlebt hat, zu erzählen, wie ich es damals als Kind empfunden habe und wie es auf mich gewirkt hat.

Ich bediene mich anfangs dabei eines Hilfsmittels, das im Aussterben begriffen ist, nämlich der Sprechkassette, und übertrage es anschließend in den Computer, da für mich der elektronische „Datenweg“ noch nicht so selbstverständlich ist wie ein Diktiergerät, dessen ich mich über Jahrzehnte bedient habe.

Da diese Methode recht mühsam und zeitaufwendig ist, gehe ich dann doch dazu über, den Text aus dem Kopf in den Computer zu übertragen.

Schon daran wird mir deutlich, wie viel sich verändert hat seit den Jahren meiner Kindheit. Ich lernte das Schreiben mit dem Griffel auf der Schiefertafel. Das Telefon war für mich ein Gerät, das in Vaters Arbeitszimmer stand und von uns Kindern nicht berührt werden durfte. Es war damals ein Kommunikationsmittel, das nur wenigen Menschen, und diesen mehr aus beruflichen Gründen, zur Verfügung stand, wie beispielsweise der Polizei, dem Doktor und dem Pfarrer. Ferngespräche mussten im Fernsprechamt angemeldet werden und wurden dort von Hand von einem sogenannten „Fräulein vom Amt“ vermittelt, das nach einer mehr oder weniger langen Wartezeit mit dem Satz zurückrief: „Ich verbinde Sie mit dem gewünschten Teilnehmer.“

Leben wir heute in dem sogenannten „elektronischen Zeitalter“, so erlebte ich einen technisch-industriell bestimmten Krieg, an dessen Ende der Einsatz der Atombombe stand.

Geboren wurde ich in einem kleinen Schwarzwaldstädtchen und wuchs die ersten Lebensjahre in einer vorwiegend agrarisch bestimmten Umwelt auf, geprägt von bäuerlicher Handarbeit und weitgehender Selbstversorgung, die kriegsbedingt länger anhielt, als dies vermutlich in Friedenszeiten der Fall gewesen wäre. Ehe ich mich an die Schilderungen meiner Kindheitserfahrungen und oftmals auch traumatischer Eindrücke mache, will ich den familiären Bezugsrahmen skizzieren, in dem sich meine Kinderjahre abgespielt haben.

Ich kam im Dezember 1936 in Wildberg, einem kleinen Schwarzwaldstädtchen, als ältestes von fünf Kindern zur Welt. Es war die erste Pfarrstelle meines Vaters. Die Eltern bewohnten ein uraltes Pfarrhaus, das nur schwer beheizbar war. In einer kalten Winternacht vor Weihnachten kam ich sechs Wochen zu früh und damit überraschend zur Welt. Der von meiner Mutter am Abend vorbereitete Brotteig stand im Backtrog für den nächsten Morgen bereit und musste dann von meinem Vater am folgenden Tag ausgebacken werden. Zunächst musste er jedoch in der Nacht mit einem starken Kaffee erst einmal den herbeigerufenen Arzt aus der Dorfschenke in einen nüchternen Zustand versetzen, während die alte Hebamme jammernd ausrief: „Es ist halt ein arg grings Kend.“ So berichtet zumindest die Familiensaga.

Meine Eltern stammen aus sehr unterschiedlichen Elternhäusern. Dies erlebte ich anregend und schwierig zugleich im unmittelbaren Zusammensein mit den jeweiligen Großeltern, aber mittelbar auch durch die Lebenseinstellungen der Eltern.

Kapitel 1

Der Versuch, mich an meine frühen Kinderjahre zu erinnern, kommt mir vor, als müsste ich zunächst wie bei Frau Holle in einen tiefen Brunnen springen. Nach diesem Sprung in den Schacht des Vergessens ist es, als stünde ich vor einem Baum mit reifen Früchten, der geschüttelt werden will. Doch da geht es mir wie dem Mädchen im Märchen, das zögert, ob es dem Ruf des Baumes folgen und seine Früchte pflücken soll. Ich weiß nicht, ob sie schmackhaft oder auch bitter sind. Um dies zu wissen, muss ich sie erst einmal ernten. Ein inneres Gefühl sagt mir, dass es wohl eine Mischung von beidem ist, Gold und Pech.

Dass meine frühesten Erinnerungen kaum bildhaft sind, muss mich nicht verwundern, da ich als schwachsichtiges Kind viel mehr akustische Eindrücke, Geruchswahrnehmungen und haptische Empfindungen gespeichert habe.

Da ist ein Raum, in dem es vielerlei Geräusche gibt, aber ich spüre auch Wärme auf der Haut, die, wenn man immer dichter an sie herangeht, auch schmerzhaft sein kann.

Und dann die guten Gerüche! Hier in der Küche gibt es das, was man in den Mund steckt und was auch schmecken kann, im Unterschied zu so manchen Dingen, die ich mir in den Mund stecke, um auszuprobieren, ob sie weich oder hart sind. Ein großer Mensch, meist Mama oder Papa, entwendet die Gegenstände entweder noch vor dem Mund oder, was mir unangenehmer ist, zieht sie aus dem Mund heraus.

Viel aufregender ist für mich die Welt draußen im Freien. Dort sind die vielfältigen Gerüche, die mit all den Pflanzen im Garten zusammenhängen, wie erst später aus den Geruchserinnerungen deutlich wird, die mich bis heute so stark überfallen können, wie sie es nur in früher Kindheit tun konnten, wo sie als erste Erfahrungen auf ein noch wenig beschriebenes Erinnerungsfeld gefallen sind.

Neben den Gerüchen und Geräuschen in und um das Haus gibt es immer mehr und vielfältigere Eindrücke, je weiter mich die kleinen Füße tragen, manchmal an der Hand der mich umgebenden Erwachsenen. Nach und nach aber auch ganz alleine auf meinen Erkundungswegen, die in einer Kleinstadt, umgeben von Nachbarn, denen ich bekannt bin und die ein wachsames Auge auf mich werfen, ungefährlich sind. Ihre Stimmen sind mir bald auch vertraut und so wage ich mich, angezogen von dem warmen, nach Milch duftenden Geruch, in den Kuhstall nebenan und höre zu, wie munter die Milch in den Melkkübel rinnt.

So bekommen nach und nach diffuse Geräusche ihre sinnliche Zuordnung und aus der Muh wird eine Kuh und von ihr stammt die Milch, die ich morgens und abends so gerne trinke, weil sie immer mit dem Geruch des Kuhstalls verbunden ist und der atmet etwas von Wärme und Geborgenheit, Empfindungen, die vermutlich die frühesten Eindrücke jedes Kindes sind.

 

Waren die ersten Worte noch verknüpft mit direkten sinnlichen Eindrücken von dem, was sie bezeichneten, so tauchten nun Worte auf, für die es keine erlebbaren Gegenbilder gab. Sicher war es nicht das erste abstrakte Wort, das ich hörte, aber es war das erste, das mir als solches nachdrücklich in Erinnerung blieb, da es mich zum Nachdenken angeregt hat und ich vielleicht da zum ersten Mal bewusst wahrnahm, dass ich etwas wissen und ergründen wollte. Ich bin es, die neugierig ist und „warum“ fragt.

Dieses entscheidende Wort war „Krieg, kriegen und du kriegst ein Geschwisterchen“.

Das Wort „Krieg“ geisterte als Laut immer wieder durch die Luft, ohne dass ich anschaulich etwas damit verbinden konnte. Doch in den Stimmen der Erwachsenen, sprachen sie es aus, schwang Anspannung, Aufgeregtheit und Düsternis mit. Nie war Lachen dabei, wenn dieses Wort fiel.

Geheimnisvoller, ja freudiger waren die Töne, wenn vom „Kriegen“ eines Geschwisterchens die Rede war. Das klang nach einem Versprechen, und eines Tages war es so weit: Ich ging an der Hand von Bertha, unserem Kindermädchen, den Gartenweg entlang. Vom Haus her rief eine Stimme: „Es ist da, ein Mädchen, eine Margarete.“

Neben mir in der Blumenrabatte standen die letzten Herbstblumen. Heute würde ich sagen, es waren Astern, denn es war Mitte Oktober. Für mich aber waren es damals und noch lange Zeit danach Margaretenblumen.

Beim Hineingehen hörte ich ein Schreien, das nicht so klang wie das meines kleinen Bruders, der gut ein Jahr jünger war als ich, dieses Schreien war neu, es gehörte zu dem „gekriegten“ Schwesterchen. Wo aber kam das her, und würde es jetzt immer da bleiben?

Das Geheimnis blieb, aber in die Überraschungsfreude mischte sich langsam auch Ärger, denn die Mutter war ständig mit diesem neuen, kleinen Wesen, das entweder schlief oder schrie, beschäftigt. Dazu kam, dass es auch viel Arbeit machte, da es viele Windeln brauchte, ohne die ich inzwischen auskam und recht stolz darüber war. Denn ich war nun die große Schwester.

Aus dem „Kriegen“ war nun ein Bekommen geworden, doch das Wort „Krieg“ blieb und auch der besorgte, ängstliche Unterton.

Und dann bekamen wir noch etwas, das hatte nichts mit einem kleinen Kind, sondern mit großen Männern mit tiefen Stimmen und hohen, schwarzen Stiefeln zu tun. Sie schliefen in Zimmern unseres Hauses, die sonst für Gäste benutzt wurden. Tagsüber waren sie weg, doch wenn es dunkel und kalt wurde, da saßen sie um unseren großen Tisch im Wohnzimmer, schwatzten und lachten miteinander und der eine oder andere hob mich auf den Schoß oder gar auf die Schultern und lief mit mir durchs Zimmer. Mir war das unheimlich, wie diese fremden jungen Männer sich breit machten und einen Geruch von nassen, lehmigen und verschwitzten Lederstiefeln verbreiteten. Diese reihten sich zum Trocknen rund um den großen, gusseisernen Ofen auf. Über dem Ofen hing eine Wäschespinne, auf der die weißen Windeln der kleinen Schwester zum Trocknen hingen, und unten standen diese schwarzen Stiefel, dunkle Röhren, fast so groß oder gar größer als ich. Waren die Soldaten in ihrer Müdigkeit gar zu albern, dann stellten sie meine kleine Gestalt in eine solch schwarze Röhre, die so eng war, dass ich mich nicht darin bewegen konnte. Die jungen Männer hatten es sicher als Spaß für mich gemeint, ich aber erlebte diesen Zugriff als gewaltsam und furchterregend, unfähig mich dagegen wehren zu können. Für mich gehörte das zu dem Wort „Krieg“. Zumal ich aus den Erklärungen der Großen soviel mitbekam, dass das, was von ihnen als „Einquartierung“ bezeichnet wurde, etwas mit „Manöver“ zu tun hatte. Dies alles musste wohl zu dem Wort „Krieg“ gehören und bedeutete Gewalt, Wehrlosigkeit und Angst.

Kapitel 2

Aus dem grauen Nebel der folgenden Wochen vor dem Jahresende 1939 hebt sich ein verschwommenes Bild hell und leuchtend hervor. Um mich waren die Stimmen von Bertha und ihren Eltern und von unten drang der warme Geruch vom Kuhstall herauf, aber über mir glänzte und funkelte es. Es müssen die Lichter eines brennenden Weihnachtsbaums im Elternhaus von Bertha gewesen sein, der erhöht auf einer Kommode stand. Dieser erste überwältigende Eindruck eines Weihnachtsbaumes verdichtete sich für mich zum Urbild eines Lichterbaumes. Alle späteren blieben nur ein Abglanz dieses ersten bewusst wahr- genommenen. Oder war die Fülle des Lichtes so groß, weil es damals noch genügend Weihnachtskerzen gab? Im Gegensatz dazu, steckten am Baum an den späteren Kriegsweihnachten nur ein paar spärliche Kerzen, die oft schon vom Vorjahr halb abgebrannt waren und wieder verwendet wurden. Dass es danach von Jahr zu Jahr immer schlimmer wurde mit dem Krieg, das wurde mir als Kind unter anderem deutlich ablesbar an der kümmerlichen Beleuchtung des Christbaums.

Die schmerzliche Erinnerung an ein leuchtendes und warmes Weihnachten in Wildberg blieb vielleicht auch deshalb so nachhaltig, da kurz danach im Januar bei Schnee und Glatteis der Umzug nach Aalen stattfand und ich die vertraue Umgebung, das Haus, den Garten, die kleinen kopfsteinbepflasterten Gassen und, was das Schlimmste war, meine geliebte Bertha verlassen musste.

Bertha blieb zurück bei ihren Eltern und dafür kam zu uns deren in Haushaltsdingen erfahrene ältere Schwester Luise, die dann die folgenden sechs Jahre bei uns blieb, ehe sie, schon in die Jahre gekommen, einen noch älteren, bislang ehelos gebliebenen Kriegsheimkehrer heiratete, der für seinen Hof in einem Nachbardorf eine Frau brauchte.

Verkörperte Bertha für mich mit ihrer runden Figur und ihrer immer etwas krausen, schwer zu bändigenden Haarmähne die Lebenslust und die Freude am Erzählen, Singen und Lachen, so war Luise das genaue Gegenteil. Sie war großgewachsen und schlank, aber von zäher Natur. Ich erinnere mich nicht, dass sie in all den Jahren einmal krank zu Bett lag. Streng gegen sich selbst, war sie dies auch zu uns Kindern. Sie hatte den in den Nazijahren oft zu hörenden Spruch auf den Lippen: gelobt sei, was hart macht.

Sie war, was bei der zunehmenden Lebensmittelknappheit sehr hilfreich war, äußerst sparsam und umsichtig mit allen Dingen des Hauses und des Gartens und konnte immer alles noch einmal verwenden oder reparieren. Sie war kein Mensch der Worte, wohl aber der Tat. Oft hieß es, an ihr sei ein zweiter Hufschmied verloren gegangen, ihr Vater betrieb neben einer kleinen Landwirtschaft eine Hufschmiede und wurde im Dorf immer dann geholt, wenn es galt, tatkräftig zuzulangen. Ähnlich zupackend und verlässlich war Luise und dafür schätzte ich sie in den immer gefahrvolleren Jahren des Krieges, die sie uns Kindern im Bombenkeller oder gar bei Tieffliegerbeschuss im Freien Schutz und Sicherheit gab, da unsere Eltern häufig nicht für uns da sein konnten. Sie lebte für und in unserer Familie und ihr Urlaub bestand darin, dass sie in den Zeiten der Heu- und Kartoffelernte zu ihren Eltern fuhr, um dort nicht weniger hart zu arbeiten, da ihr Bruder im Krieg und Bertha in einer Firma kriegsdienstverpflichtet war.

Ich erlebte diese Wochen dann als die schönsten des Jahres. Ich war wieder in Wildberg, das zunächst auch von Bombenangriffen verschont geblieben war. Am Abend und am Sonntag konnte ich mit meiner geliebten Bertha zusammen sein.

Im Herbst 1943 setzten die häufigen Fliegerangriffe diesen von mir so genossenen Ernteeinsätzen ein Ende. Der Stuttgarter Hauptbahnhof mit den Gleisanlagen war so zerstört, dass wir von Wildberg aus nicht mehr über Stuttgart zurück nach Aalen fahren konnten. Das Fuhrwerk eines Bauern, der Milch nach Eutingen liefern musste, brachte uns an die Bahn in Richtung Tübingen. Unterwegs wurde der Zug beschossen, so dass wir uns zur Deckung in einen Graben neben dem Bahndamm werfen mussten. Luise legte sich über mich, um mich so zu schützen. Nach einiger Zeit konnten wir mit einem demolierten Zug ohne Fensterschreiben bis Tübingen weiterfahren. Von dort ging es weiter ins Filstal, wo wir in einen Zug bis Göppingen stiegen, von wo aus eine kleine Bahn über Hohenstaufen nach Schwäbisch Gmünd fuhr, was uns dann den Anschluss an einen Zug nach Aalen ermöglichte. Spätabends kamen wir erschöpft, aber heil in Aalen an.

Von da an ließen mich die Eltern in den Ferien nicht mehr nach Wildberg mitfahren. Ob Luise überhaupt noch fuhr, weiß ich nicht mehr, da es mit den Zugverbindungen immer schwieriger und gefährlicher wurde. Erst nach Kriegsende und nach der Wiederherstellung der Eisenbahnbrücke über den Kocher in Aalen konnte 1946 der Bahnbetrieb wieder aufgenommen werden. Die Brücke war völlig sinnlos wenige Tage vor Kriegsende noch gesprengt worden, als ob die feindlichen Truppen mit der Eisenbahn angefahren kämen. An eine Reparatur der Brücke war nach Kriegsende zunächst nicht zu denken, da es überall an Material fehlte, zumal Stahl zu den Reparationsleistungen an die Siegermächte gehörte. So war eine Reise per Bahn lange nicht möglich. Ich vermute - genau erinnere ich es nicht mehr - dass Luise erst 1946 im Sommer wieder zu ihren Eltern fuhr und mich nach Wildberg mitnahm.

Ich hatte zwar von dem schrecklichen Bombenangriff auf Wildberg gehört und durch unmittelbares Erleben der Zerstörungen in Aalen ein Bild von dem, was wir in Luises Heimat vorfinden würden. Doch ich wollte es mir nicht vorstellen, hielt mich trotzig an dem Bild der Stadt fest, wie ich es in mir trug, und freute mich riesig auf das Wiedersehen der mir so vertrauten Gegend und der Menschen, die dort lebten.

Wie groß war der Schock über das, was ich sah, als wir mit dem Zug um eine Bergkuppe fuhren und der Blick auf einen Ort in einer Umgebung fiel, die mir völlig fremd erschien! Das war nicht mehr mein Wildberg, das umgeben von bewaldeten Höhen auf einer Bergkuppe stand, umrundet vom Nagoldfluss. Viele der schmalen, mehrstöckigen Bauernhäuser, die sich von der Talsohle den Berg hinauf erstreckten, hatten enge Gassen gebildet. Diese wurden häufig an den steilsten Stellen durch Treppen abgelöst. Nun waren ganze Häuserzeilen wie vom Erdboden verschluckt. Stattdessen zogen sich nackte Schneisen von unten nach oben. Der Blick fiel jetzt ungehindert hinauf zu der nur leicht zerstörten Kirche, die auf der Bergkuppe stehen geblieben war, ebenso wie das Pfarrhaus, in dem ich geboren wurde. Doch wo war das Rathaus, durch das die Straße in einem engen Tunnel hindurchgeführt worden war? Und wo war das alte Schloss geblieben, das mehr einer Burg ähnelte? Davon waren nur noch einige Mauerreste geblieben, die mich an die alten Burgruinen erinnerten, die schon seit vielen, vielen Jahren die Bergkuppen der Schwäbischen Alb krönten. Hier hatten in der Kriegszeit Kinder zur Erholung gewohnt, mit denen ich gespielt hatte, wenn ich in den Ferien zu Besuch war. Ja, und wo war mein Kindergarten, in welchem ich bei meinen Ferien-Besuchen gespielt und in dem ich die befreundeten Kinder der ehemaligen Nachbarschaft getroffen hatte? Immer freundlich begrüßt von der Kinderschwester, von der mir nun berichtet wurde, dass sie wie viele andere Bewohner ein Opfer des Bombenangriffs geworden war.

Auch manche andere, mir vertraute Menschen lebten nicht mehr. Ich fand mich zunächst in den Gassen nicht mehr zurecht, da bestimmte Orientierungspunkte, wie die alte Steinbrücke über die Nagold, fehlten oder der Zwangsturm, in den einst Straffällige eingesperrt worden waren, ehe man sie in ein Gefängnis in der Kreisstadt verbrachte. Von diesem wurde erzählt, dass man dort die Hexen eingesperrt hatte, ehe sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Wildberg gehörte zu den Orten, in welchen noch schändlicherweise lange, bis ins 17. Jahrhundert, solche Gräuel passierten. Uns Kindern wurde davon erzählt, um uns zu warnen vor bösen Taten und mir war es immer unheimlich, wenn ich an dem Turm vorbeigehen musste. Nun war er einem nicht weniger schrecklichen Geschehen zum Opfer gefallen.

Dass die einzige geteerte Straße, die auf der Talsohle durch den Ort führte, nicht mehr Adolf-Hitler-Straße hieß, sondern wieder ihren alten Namen Hauptstraße hatte, störte mich nicht. Aber dass die für Reparationsleistungen abgeholzten Wälder rund um den Ort verschwunden waren und die Hänge nun wie abrasiert und abweisend auf mich wirkten, trug mit dazu bei, dass mir die alte Heimat fremd geworden war und ich mich nicht mehr so zu Hause fühlte wie in den Jahren, ehe der Krieg seine zerstörerischen Spuren hinterließ. Die Menschen wirkten bedrückt und weniger zu Scherzen aufgelegt, so kam es mir zumindest vor, oder lag es auch daran, dass ich um einige Jahre älter geworden war und meine Umgebung distanzierter und kritischer betrachtete? Ich fand das erinnerte und sicher innerlich auch idealisierte Bild nicht mehr in der Realität wieder.

 

Ich arbeitete eifrig mit auf dem Feld, wenn es darum ging, das Heu zu ernten oder die Kartoffeln zu hacken. Immer etwas in angstvoller Spannung, ob nicht plötzlich eine Wildschweinmeute aus einer Feldsenke auftauchte. Die Tiere waren zu einer Landplage geworden, da nach dem Krieg Schusswaffen verboten waren, weshalb sie nicht mehr gejagt werden konnten und nun in Überzahl aus den abgeholzten Wäldern auf die freien Ackerflächen kamen und sich an den Feldfrüchten gütlich taten, die der Bevölkerung während der Hungerjahre so nötig waren.

Von meinem Schmerz über die Verluste lenkte mich in den Nachkriegsjahren während mehrerer Ferienaufenthalte, die ich zunächst noch mit Luise, später aber auch alleine verbrachte, die unermüdliche Mitarbeit auf Feld und Wiese ab. Das hatte damit zu tun, dass ich nicht nur eine untätige „Mitesserin“ sein wollte, die es sich bequem machte. Die Lebenssituation der Familie Kempf hatte sich inzwischen sehr verändert. Die Eltern waren gealtert und Bertha verdiente in einem Erholungsheim als Köchin Geld, da die Hufschmiede vom alten Schmied nicht mehr betrieben werden konnte und der Sohn und Erbe im Krieg geblieben war.

Ein weiteres Motiv für mein Engagement war jedoch auch, dass ich mir nicht nachsagen lassen wollte, dass ich inzwischen ein Stadtmensch geworden sei und mich für zu fein hielt, bäuerliche Drecksarbeit zu machen. Auf keinen Fall wollte ich diesen Verdacht rechtfertigen, denn das hätte bedeutet, dass ich hier nicht mehr dazu gehörte und mein vermeintliches Heimatrecht verwirkt war.

Ich musste von Jahr zu Jahr allerdings immer mehr gegen meine eigenen inneren Empfindungen anarbeiten, denn natürlich spürte ich, dass ich mich mit meinen Interessen und Vorstellungen von den Dorfbewohnern entfernte. Auch Bertha konnte ich mit der Lektüre meiner mitgebrachten Ferienbücher nicht so begeistern, wie ich selbst es war.

So wurde mein Osterferienbesuch 1950 ein zweiter und dieses Mal bewusst erlebter innerer Abschied von Wildberg, das ich später nur noch gelegentlich anlässlich von Fahrten in den Schwarzwald besuchte.

Nie wieder habe ich bei den zahlreichen Umzügen in meinem weiteren Leben den Abschied von einem Ort so schmerzlich erlebt wie den von Wildberg, da nichts wieder so sehr Heimat für mich geworden ist. Seit dem Wegzug von Wildberg 1940 erlebte ich nie wieder, dass Häuser, die ich bewohnte, und Umgebungen, die ich mir vertraut gemacht habe, Bestand für mich haben.

Obwohl ich entscheidende Jahre mit der Familie, nämlich fünf Kriegs- und drei Nachkriegsjahre, bis zur Währungsreform 1948, in Aalen erlebte, habe ich dort nicht mehr so tief Wurzeln geschlagen. In Aalen und an weiteren Orten später lebten wir, weil sie durch Vaters Tätigkeit bedingt waren.

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