Große Brüder und kleine Prinzessinnen ...

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Große Brüder und kleine Prinzessinnen ...
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Hanna Backhaus

Große Brüder und

kleine Prinzessinnen ...

Geschwisterfolge:

Schlüssel zur eigenen Persönlichkeit


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783865065407

© 2013 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia

Satz: Brendow PrintMedien, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort zur Neuauflage

Einführung

Kapitel 1 Über die Bedeutung des Familienverbandes für den Menschen

Geschwisterverhältnisse: Beziehungen fürs Leben

Was wir in unserer ersten Familie lernen

Eltern sind auch Geschwister

Kapitel 2 Wie die Geschwisterposition das Leben beeinflusst

Das erstgeborene Kind

Das Einzelkind

Das zweitgeborene Kind

Zwillinge

Das mittlere Kind

Das jüngste Kind

Weitere Faktoren, die die Geschwisterkonstellation beeinflussen

Kapitel 3 Wie mich meine Familie geprägt hat

Die Beziehung zu den Eltern (vertikale Beziehung)

Die Beziehung zu den Geschwistern (horizontale Beziehung)

Soziale Kompetenz

Meine Lebenseinstellung

Übung 1: Mein Familientisch

Übung 2: Familienatmosphäre

Übung 3: Kindheitserinnerung

Übung 4: Interaktionsmuster

Übung 5: Selbstbefragung – Wie sehe ich mich und wie sehen mich die anderen?

Korrektur der Lebenseinstellung

Kapitel 4 Der Einfluss der Eltern auf ihre Kinder

Die Familie – ein lebendiges und dynamisches System

Belastende Erwartungen der Eltern

Elterliche Streitmuster

Emotionale Erbmasse – Kinder imitieren ihre Eltern

Perspektivwechsel – Familienaufstellung und Familienstammbaum

Selbst Verantwortung übernehmen

Unrat im Keller, Schätze auf dem Dachboden

Rituale

Was Eltern tun können

Literaturverzeichnis

Vorwort zur Neuauflage

Für eine Neuauflage dieses Buchs habe ich es einer kritischen Lektüre unterzogen und, wo nötig, korrigiert, aktualisiert und verschiedene Ergänzungen eingearbeitet. Nach wie vor bin ich überzeugt, dass dieses Buch dazu beiträgt, sich selbst besser kennenzulernen und die Hintergründe der eigenen Verhaltensmuster zu erkennen und somit an Souveränität zu gewinnen.

Obwohl jeder Mensch das Bedürfnis verspürt, sich selbst besser verstehen zu lernen, wird meiner Meinung nach das Thema „Geschwisterkonstellationen“ zu selten als Schlüssel zur eigenen Persönlichkeit genutzt. Dieses Buch soll Mut machen, die eigene Familienprägung anzuschauen und die „Schätze auf dem Dachboden“ und den „Unrat im Keller“ wahrzunehmen, den es in jeder Familie gibt.

Die Lektüre dieses Buches kann nach dem Sortieren und Entrümpeln der Kindheit zu einer Ermutigung werden, die eigenen Eltern und Geschwister von einem ganz neuen Standpunkt aus zu sehen und eine andere Wertschätzung für sie zu bekommen.

Das wünsche ich Ihnen und viel Freude beim Sortieren und Entrümpeln, auch wenn es Schweiß und Tränen kostet.

Hanna Backhaus

Einführung

Wenn man heute Kindheit beschreiben will, muss man Rücksicht darauf nehmen, dass Kindheit heute anders beschrieben werden muss. Andererseits gibt es Probleme, die seit hundert oder tausend Jahren gleich sind, zum Beispiel die Stellung der Geschwisterreihe in der Familie. (Paul Maar)

„Mamaaaa! Maaama!!“, schrie ich schon im Flur durchs ganze Haus. Keine Antwort. Kein Mensch zu Hause. Mir, die ich zum ersten Mal von meinem Studienort nach Hause kam, machte diese Leere schmerzlich bewusst: Hier gehöre ich nicht mehr hin. Ich bin von nun an auf mich allein gestellt. Für mich war das ein ganz persönliches Aha-Erlebnis.

Die momentane Leere meines Elternhauses machte mir schlagartig klar: Meine Eltern, meine sieben Geschwister, in deren Verbund ich bis dahin einen festen Platz eingenommen hatte, waren nicht mehr mein Umfeld. Diese Familie war sozusagen meine Startrampe gewesen. Jetzt aber war sie nicht mehr das unlösliche Geflecht, in dem ich meinen Platz ausfüllen musste.

Ich bin das dritte Kind meiner Eltern, in ihrem dritten Ehejahr wurde ich geboren. Innerhalb der nächsten neun Jahre kamen noch fünf weitere Kinder dazu. In einer solch großen Geschwisterschar bilden sich immer Untergruppen; sozusagen Familien in der Familie. So war ich einerseits die jüngere Schwester eines Bruders und einer Schwester, andererseits war ich die ältere Schwester für eine jüngere Schwester und vier Brüder. Ich habe also die Züge eines jüngsten, eines mittleren und eines ältesten Kindes. Mit diesem Potenzial wurde ich in mein Leben entlassen, das ich von nun an selbst gestalten wollte. An jenem Tag, an dem ich allein im Flur stand, kam ich mir wie ein aus dem Nest geschubster Vogel vor, der auf dem Erdboden sitzt, sich umblickt und merkt: Jetzt muss ich fliegen lernen.

Natürlich erlebt jeder die Loslösung vom Elternhaus auf seine Weise. Der eine ist froh, die Enge des Nestes verlassen zu können, in dem alle um die Wette piepen und schreien, damit ihre Bedürfnisse wahrgenommen und befriedigt werden.

Der andere merkt schmerzlich: Jetzt hilft kein Schreien und Fordern mehr, jetzt bin ich auf mich selbst gestellt.

Manche bleiben gleich im Nest sitzen und lassen sich bedienen im Hotel Mama, genießen die Vorteile und blenden die Nachteile aus.

Auf meinem Weg ins Erwachsenenleben musste ich mich zunächst mir selbst stellen, meinen Ängsten, meinen Abneigungen, meinen lieb gewonnenen Gewohnheiten. Diese inneren Auseinandersetzungen halten an und dringen nach außen, zum Beispiel in der Ehe mit einem Mann, der ganz anders ist. Oder im Zusammenleben mit meinen drei Kindern, die mir deutlicher als jeder andere vor Augen führen, wo meine Begabungen, aber auch meine Grenzen sind.

Im Zusammenleben mit diesen vier Menschen wurden Spuren, die meine Kindheit hinterlassen hatte, aufgedeckt. Dazu kommt das große Beziehungsgeflecht in Verwandtschaft, Beruf und Kirchengemeinde. In alldem begegne ich nicht nur den anderen, sondern auch immer wieder mir selbst.

Erst wenn wir unserer Ursprungsfamilie weitgehend eigenständig gegenüberstehen, werden wir zu selbstbewussten und selbstbestimmten Menschen. Wir erleben sie als Schutz, als Begrenzung und immer wieder als Konfliktpotenzial. Jeder hat aus den Erfahrungen seiner Kindheit sein ganz eigenes Lebenshaus gebaut und selbstverständlich muss er auch darin leben.

 

Dieses Buch beschreibt das Baumaterial, das die Geschwisterkonstellation einer Person liefert. Mit diesem Material baut ein Mensch je nach dem ihm mitgegebenen Talent und Temperament sein Lebenshaus.

Dieses Buch gibt Ihnen die Möglichkeit, sich mit sich selbst unter dem Aspekt der Geschwisterkonstellation auseinanderzusetzen. Es ist auch interessant, die Entwicklung der eigenen Kinder aus diesem Blickwinkel zu sehen. Eine solche Betrachtungsweise kann zeigen: Eltern sind nicht an allem „schuld“; auch die Geschwister erziehen sich untereinander, allein schon durch die Position, in die sie hineingeboren werden.

Eltern sind nicht an allem „schuld“; auch die Geschwister erziehen sich untereinander, allein schon durch die Position, in die sie hineingeboren werden.

Wozu kann eine solche Selbstanalyse dienen? Wie kann ich dieses neu gewonnene Wissen über mich verwerten, sodass es gute Früchte trägt in meinem alltäglichen Leben und die Menschen, die mit mir leben, davon profitieren können?

Es ist in unserer Zeit wichtiger denn je, dass die Familie der Ort der Geborgenheit und die Zukunftswerkstatt unserer Gesellschaft ist. Ich bin überzeugt: Es ist ein lohnendes Unternehmen, wenn wir in dieser Keimzelle der eigenen Familie ansetzen und uns fragen: Wie kann ich mit meiner eigenen Prägung – und vielleicht trotz meiner eigenen Prägung – Familie so gestalten, dass aus ihr wiederum lebensfähige Menschen hervorgehen? Sie mögen unvollkommen, aber lebenstüchtig sein und das auch ihren Kindern weitergeben. Was macht solche Lebenstüchtigkeit aus?

Ich glaube an einen Gott, der uns zu seinem Ebenbild und Gegenüber geschaffen hat. Ich gehe davon aus, dass wir in unserem Menschsein Gott ähnlicher sind, als wir meinen. Wir nehmen in der Regel an, dass unsere Unvollkommenheit uns von ihm trennt. Ich bin überzeugt, dass uns weniger unsere Unvollkommenheit als unsere Überheblichkeit von ihm trennt. Wir sind überheblich, wenn wir Gott nicht anerkennen als den, der er ist, nämlich der Einzige, der unser Leben wirklich durchblickt und infolgedessen auch den Maßstab für dieses Leben geben darf. Wenn ich aber glaubend davon ausgehe, dass einzig Gott mein Leben in der Hand hält, dann ist es sinnvoll und ertragreich, mir Gedanken zu machen, wie ich mit der Prägung in meiner Familie so leben und umgehen kann, dass es für mich und die anderen ein Gewinn ist. Darin erfüllt sich Lebenstüchtigkeit im besten Sinn.

Nicht zuletzt soll das Buch auch Hilfestellungen zur Gestaltung des Familienlebens geben. Denn in jeder Familie herrscht eine eigene Atmosphäre, die von Eltern und Kindern geprägt wird. Wenn wir im Bild des Lebenshauses bleiben, ist das Miteinander in der Familie der Mörtel. Es fügt das Baumaterial, das die Geschwisterposition liefert, zusammen. Die Geborgenheit in einem tragenden Beziehungsgeflecht gibt einem Menschen die Stabilität, die ihn in der Auseinandersetzung mit sich und anderen lebenslang bestimmt.

Kapitel 1
Über die Bedeutung des
Familienverbandes für den Menschen

Die Neigung gibt den Freund,

es gibt der Vorteil den Gefährten.

Wohl dem, dem die Geburt den Bruder gab.

(Friedrich Schiller)

Wenn ein Baby kurz nach der Geburt seinen ersten Schrei ausstößt, sind seine Eltern dabei. Kurz danach lernt es auch seine älteren Geschwister kennen. Die ersten Menschen, die es wahrnimmt, sind Eltern und Geschwister. Sie gehören zu jedem Menschenleben dazu.

Kein Mensch kann sich die Familie aussuchen, in die er hineingeboren wird. Sie ist ein wesentlicher Faktor, der sein Charakterbild und seinen Lebensverlauf entscheidend beeinflusst.

Selbst Einzelkinder sind irgendwann einmal konfrontiert mit Geschwistern, nämlich dann, wenn es heißt: „Du bist wie Tante Erna!“ So spielt es für das Kind eine Rolle, dass die eigene Mutter eine Schwester hat, auch wenn es selbst ohne Geschwister aufwächst. Durch die Eltern ist es mit deren Geschwisterposition konfrontiert, die auch das Zusammensein mit den Eltern und damit auch sein Leben prägt. Kein Mensch kann sich die Familie aussuchen, in die er hineingeboren wird. Sie ist ein wesentlicher Faktor, der sein Charakterbild und seinen Lebensverlauf entscheidend beeinflusst.

Geschwisterverhältnisse: Beziehungen fürs Leben

Geschwister werden heute für viele Menschen wieder wichtiger, weil andere zwischenmenschliche Beziehungen allzu lustbetont und kurzlebig geworden sind. Man muss aufgrund der Arbeitsmarktlage öfter den Wohnort wechseln, sodass Freundschaften keine Zeit zum Wachsen haben. Wenn dann noch der Partner bloß als „Lebensabschnittsgefährte“ begriffen wird, gewinnen die gewachsenen Beziehungen der Ursprungsfamilie wieder an Bedeutung.

Deswegen sind Geschwister mehr als interessant, denn unabhängig von der Qualität der Geschwisterbeziehung haben die meisten Menschen bis ins hohe Alter Kontakt zu ihnen. Das Verhältnis zu den Geschwistern wird damit zur längsten Beziehung unseres Lebens und verdient als solche eine Menge Aufmerksamkeit.

Die Familienforschung legt ein großes Gewicht auf die Eltern-Kind-Beziehung. Welch bedeutende Rolle die Geschwister für die Entwicklung eines Kindes haben, ist dabei allzu häufig vernachlässigt worden. Schließlich sind es die Geschwister, die in erster Linie den Alltag miteinander verbringen. Sie spielen miteinander, helfen sich gegenseitig, trösten sich, und natürlich sind sie auch eifersüchtig aufeinander und streiten oft und verbissen. Dennoch halten sie im Ernstfall zusammen gegen die Übermacht der Eltern und die der ganzen Welt.

Geschwister haben durch ihre ständige Präsenz großen Einfluss aufeinander. Ihre oft ähnliche Körpergröße, Motorik, Mimik und Stimmlage macht sie füreinander zum Spiegelbild. Schon bei Kindern unter einem Jahr lässt sich beobachten, dass sie voller Interesse auf andere Kinder reagieren, mit ihnen Kontakt aufnehmen und sie berühren wollen und anders auf sie zugehen als auf Erwachsene. Manchmal können wir auch beobachten, dass sich ein Kleinkind, das weint, eher von einem Geschwisterkind als von Mutter oder Vater trösten lässt. Es kann passieren, dass ein Geschwisterkind den Eltern erklärt, was dem Kleineren fehlt.

Was wir in unserer ersten Familie lernen

Eltern sind der Dreh- und Angelpunkt im Leben eines Kindes. Die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu lenken, das ist Sinn und Ziel der meisten Unternehmungen eines kleinen Kindes. Sobald es Geschwister bekommt, beginnt der Kampf um die elterliche Zuwendung. In der Familie erleben Geschwister erstmals Konkurrenz.

Die Angst, dass der andere von den Eltern besser behandelt oder die andere in irgendeiner Weise bevorzugt wird, erzeugt eifersüchtige Gerechtigkeitsfans und echte Neidhammel. Und immer dreht sich der Streit der Geschwister um den besseren Platz unter der elterlichen Sonne. Im Mittelalter war es vielleicht noch das größere Stück Brot, das diese Angst hervorrief, heute ist es das bessere Weihnachtsgeschenk des Bruders.

Jedes Kind entwickelt in diesem „Überlebenskampf“ seine eigene Strategie.

Weil Erstgeborene sich am Vorbild der Eltern orientieren, übernehmen sie die Rolle eines Erziehers für die jüngeren Geschwister. Die Erkenntnis, die Liebe der Eltern teilen zu müssen, schmerzt sie und macht sie reizbar. Eigenschaften wie Eifersucht, Rachegelüste, die Neigung zur Gewalttätigkeit, aber auch Disziplin und Verantwortungsbewusstsein zeichnen sie aus, während die später geborenen Kinder gezwungen sind, eine eigene Nische zu suchen, die ihrem Temperament und ihren Begabungen entspricht. Darum zeichnet sie eine Flexibilität aus, mit welcher die älteren Geschwister häufig nicht aufwarten können. Meist sind sie kreativ, friedlich und freundlich, genauso haben sie einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, der sie immer wieder in die Rebellion treibt oder sie zu sanften Widerständlern macht: Sanfte Widerständler tragen ihre Rebellion nicht nach außen, sondern gehen still, wenn es sein muss, auch gegen den Widerstand der Eltern und Geschwister ihren eigenen Weg.

Der Wissenschaftshistoriker Frank J. Sulloway hat in seinem Buch „Der Rebell der Familie“ dargelegt, dass in diesem Konkurrenzkampf der Kinderstube das Potenzial für Kreativität und Innovation liegt. Mit dem Kampf ums Überleben wird ein Mensch also konfrontiert, sobald er in den Kreis seiner Familie eintritt. Hier erlebt er die engsten und intimsten Beziehungen seines Lebens, bis er später eine eigene Familie gründet. Niemals aber ist er prägenderen Einflüssen ausgesetzt als denen seiner ersten Familie.

Dies beruht allein schon auf der Tatsache, dass ein Menschenkind bei seiner Geburt unfähig ist, sich selbst am Leben zu erhalten. Es ist also total abhängig von der Fürsorge der Erwachsenen. Diese Phase extremer Abhängigkeit zeichnet sich aus durch ungeheure Prägbarkeit. Das Kind lernt in erster Linie durch Nachahmung, zu einem lebenstüchtigen Individuum zu werden.

Die Beziehung zu den Eltern ist aber nicht nur von immenser Bedeutung, sie gestaltet sich auch fließend und dynamisch. Sobald ein neues Kind in die Familie hineingeboren wird, verschiebt sich das gesamte Familiengefüge. Die Karten werden neu gemischt, das Spiel beginnt von vorne. Jeder Mitspieler muss nun aus dem Blatt, das er in der Hand hält, das Beste machen. Er (oder sie) bekämpft dabei andere, verbündet sich mit dem nächsten, preist sich an, teilt sich mit, kombiniert, täuscht und gewinnt oder verliert am Ende mehr oder weniger für sich. Einen wesentlichen Anteil am Ausgang des Spiels für das einzelne Familienmitglied haben die Eltern. Ihre Träume, ihre Vorstellungen, ihre Prägung bestimmen den Umgang miteinander.

Natürlich trägt auch das angeborene Temperament eines jeden Mitspielers dazu bei, wie sich die Familie entwickelt. Was ein Kind an innerfamiliären Verhaltensmustern geerbt und erlebt hat, wendet es später in seinen außerfamiliären sozialen Beziehungen wieder an. Je größer die Ähnlichkeit zwischen frühesten und späteren Beziehungen, desto besser ist die Aussicht auf Erfolg und Bestand der letzteren. So nimmt schon mit dem allerersten Schrei das seinen Anfang, was sich im späteren Leben abspielt.

Eltern sind auch Geschwister

Wer sich mit der eigenen Rolle im Familienverband auseinandergesetzt hat, hat ganz andere Chancen, seine Kinder bei der Entwicklung positiver geschwisterlicher Beziehungen zu unterstützen.

Wer selbst Vater oder Mutter ist, hat einen zusätzlichen Grund, sich intensiv mit dem Thema „Geschwister“ zu befassen. Wer sich mit der eigenen Rolle im Familienverband auseinandergesetzt hat, hat ganz andere Chancen, seine Kinder bei der Entwicklung positiver geschwisterlicher Beziehungen zu unterstützen. Die Erinnerungen an eigene Erlebnisse und Emotionen mit Geschwistern helfen, die eigenen Kinder in ihrer Situation besser zu verstehen. Dabei muss uns bewusst bleiben, dass wir das eigene Erleben immer auch auf unsere Kinder übertragen.

Untersuchungen belegen: Elternteile identifizieren sich am ehesten mit demjenigen Kind, das die gleiche Geschwisterposition wie sie selbst einnimmt. Sie können sich einfach viel besser in dieses Kind hineindenken und hineinfühlen. Sie übertragen so auch die eigenen Erfahrungen auf ihre Kinder.

Auf diese Weise spielt die eigene Geschwisterposition mit ihrem ganz individuellen Erleben in die Erziehung eigener Kinder mit hinein.

Kapitel 2
Wie die Geschwisterposition
das Leben beeinflusst
Das erstgeborene Kind

Fällt die jüngere Schwester,

so richtet die ältere sie wieder auf;

fällt aber die ältere,

so lacht die jüngere sie nur aus.

(Vietnamesische Redewendung)

Das erste Kind macht aus einem Paar ein Elternpaar. Weil die zukünftige Phase mit vielen unbekannten Größen verbunden ist, gerät das Paar unter mehr oder weniger freudigen Stress. Um unliebsame Überraschungen zu vermeiden, plant und organisiert man alles bis ins kleinste Detail. Ein Geburtsvorbereitungskurs und ein Kurs für Babypflege gehören zu den Selbstverständlichkeiten. Besonders wenn die werdenden Eltern selbst Erstgeborene sind, die alles richtig machen wollen, legen sie möglichst vor der Geburt ein Sparbuch für ihr Kind an. Alles soll perfekt vorbereitet sein.

 

Die Geburt naht. Statt sanfter Unterwassergeburt wird es ein Kaiserschnitt, und das Stillen klappt auch nicht so wie im Stillbuch beschrieben; trotzdem wird vom ersten Moment an alles konsequent im Bild festgehalten. Schauen Sie doch mal in Ihr Familienalbum, das erste Kind ist fast immer im Bilde.

Weil man bei anderen Elternpaaren schon gesehen hat, wie Erziehung nicht laufen sollte, starten die frischgebackenen Eltern die ersten Erziehungsversuche. Nicht alles läuft so, wie es sollte, also probiert man dies oder jenes aus. Das Kind wird zum Versuchskaninchen der Eltern.

In der Regel ist ein Elternteil übervorsichtig und ängstlich, während der andere eher auf das Einhalten bestimmter Regeln und Leistungen achtet. Die Erziehungsstile der Elternteile ist noch nicht aufeinander abgestimmt, deshalb muss das erste Kind flexibel sein.

Viele Erstgeborene haben daher zwei Gesichter: Einerseits sind sie aufgeschlossene und vertrauensvolle Menschen, andererseits können sie zugeknöpft und abweisend sein. Sie wollen die Erwartungen der Eltern erfüllen, müssen sich aber immer wieder verschließen, weil sie nicht wissen, welchem der beiden Elternteile sie folgen sollen.

Erstgeborene sind frühzeitig wie kleine Erwachsene, denn sie möchten gerne den Ansprüchen ihres Umfeldes genügen.

Erstgeborene nehmen die Eltern zum Vorbild, eifern ihnen nach und versuchen, ihren Erwartungen gerecht zu werden. In der Regel lernen sie früher als ihre nachfolgenden Geschwister laufen und sprechen, wahrscheinlich als Antwort auf den Ehrgeiz der Eltern, aus reiner Selbstverteidigung. Auf jeden Fall nehmen sie die Anforderungen der Eltern (und des Lebens) sehr ernst und versuchen, ihnen gerecht zu werden. Dabei entwickeln sie Eigenschaften wie Gewissenhaftigkeit, Pünktlichkeit, Organisationstalent und Konzentrationsfähigkeit. Erstgeborene sind frühzeitig wie kleine Erwachsene, denn sie möchten gerne den Ansprüchen ihres Umfeldes genügen. Dafür nehmen sie auch das Privileg für sich in Anspruch, ein Wörtchen im Familiengeschehen mitreden zu dürfen. Gerne geben sie ihren Eltern Ratschläge, wie man die jüngeren Kinder am besten erzieht.

Sie sind gut vorbereitet, um später leitende Funktionen zu übernehmen, denn sie wissen, wo es langgeht. Sie selbst sind ausgesprochen kritisch gegenüber Leuten, die ihnen Vorschriften machen oder ihnen die Führung aus der Hand nehmen wollen.

Erstgeborene kommen gut zurecht mit Menschen aus jüngeren Geschwisterpositionen, denn die sind es gewohnt, sich etwas sagen zu lassen. Um Durchblick zu haben, brauchen Älteste klare Strukturen. Diese erarbeiten sie sich, bevor sie eine Aufgabe angehen. Dabei sind ihnen Listen und Statistiken eine große Hilfe. Erstgeborene behalten übrigens auch den Überblick, wenn ihr Schreibtisch oder ihr Büro im Chaos zu versinken scheinen.

Erstgeborene schaffen sich gerne Besitz, einmal in Form von materiellen Sicherheiten, aber auch in Form von Wissen. Sie wollen alles gern ganz genau wissen. Daher studieren erste Kinder oft lange und intensiv auch mehrere Studiengänge und sind sicher mehr als andere Geschwistertypen in Forschung und Wissenschaft anzutreffen. (Übrigens war der erste Mensch, der den Mond betrat, ein Erstgeborener, und auch sonst sind überdurchschnittlich viele Erstgeborene in der Raumfahrt tätig.)

Herausragende Merkmale von Erstgeborenen sind: Leistungsbereitschaft und Leistungsstärke, Organisationstalent, Gewissenhaftigkeit, Forschungsdrang und Genauigkeit.

Aber nicht alle Erstgeborenen wirken auf den ersten Blick so leistungsorientiert, es gibt unter ihnen auch Typen, die eher nachgiebig und warmherzig sind und allen gern gefallen möchten. Solche Menschen verwenden ihre Energie in erster Linie darauf, im zwischenmenschlichen Bereich anerkannt zu sein. Diese Anerkennung verdienen sie sich selbstverständlich auch mit den oben erwähnten Eigenschaften.

Erstgeborene haben die Sehnsucht, den Eltern zu gefallen. Immer wieder lassen sie sich von den Eltern versichern, dass sie noch richtigliegen mit ihrer Art, das Leben anzugehen. Sie brauchen die Anerkennung von Vater und Mutter. Wird ihnen diese versagt, können sie leicht resignieren. Manche entwickeln aus diesem Grund ein überstarkes Anpassungsbedürfnis. Sie sind sehr tolerant anderen gegenüber und sind der Gefahr ausgesetzt, sich ausnutzen zu lassen oder alles widerspruchslos hinzunehmen. Wenn ihnen alles zu viel wird, grenzen sie sich auf manchmal unerwartet heftige Weise ab oder resignieren, teilweise werden sie sogar depressiv, weil sie den Ärger über die anderen gegen sich selbst richten.

Diese Erstgeborenen sind Heger und Pfleger. Deshalb treffen wir sie, mehr als andere, in sozialen und pflegerischen Berufen an. Solche Menschen wirken vertrauenerweckend auf andere, man schließt sich ihnen gerne an und lässt sich von ihnen leiten. Es gibt unter ihnen auch ausgesprochen willensstarke Typen, die sehr dominant auftreten und ein starkes Bedürfnis haben, im Mittelpunkt zu stehen. Dabei muss alles in ihrer Umgebung nach ihrer Vorstellung funktionieren; möglichst auch die Menschen.

Probleme Erstgeborener

Die große Menge an Aufmerksamkeit, die einem ersten Kind zuteilwird, bedeutet für das Kind auch Druck; wer im Rampenlicht steht, muss stets sein Bestes geben. Erstgeborene müssen einfach ein bisschen schneller groß werden, von ihnen erwartet man, dass sie sich früh wie Erwachsene benehmen, denn auch ihre Eltern orientieren sich zuerst am Maßstab der Erwachsenen, es sind eben noch keine dem Kind vergleichbaren Familienmitglieder vorhanden. Unausgesprochen wissen Erstgeborene, was man von ihnen erwartet.

Es ist übrigens statistisch erwiesen, dass das Einhalten von Regeln und Gesetzen von jedem weiteren Kind weitaus weniger gefordert wird als von dem ersten. Erstgeborene müssen auch mehr als die anderen Geschwister im Haushalt und bei der Betreuung jüngerer Geschwister mithelfen.

Auffallend ist, dass Erstgeborene oft Hilfe in Beratungsstellen suchen. Sie geben stets ihr Bestes, sind zuverlässig und gewissenhaft, aber sie wollen auch vollkommen und perfekt sein. Gelingt ihnen das nicht, geraten sie in Gewissenskonflikte, sie sind frustriert und werden von Schuldgefühlen geplagt. In dieser Situation suchen sie nach Menschen, die ihnen helfen können.

Tipps für Erstgeborene

Als Erstgeborener sind Sie sicher ein zuverlässiger und gewissenhafter Mensch; das ist zuerst einmal ein großer Vorteil. Sie neigen besonders dazu, in allem perfekt sein zu wollen oder sich gelegentlich zu viele Aufgaben auf einmal aufzuladen. Denken Sie auch mal an sich selbst und vergessen Sie nicht, das Leben immer wieder dankbar zu genießen. Einfach so! Perfektionismus ist eine Art Selbstmord auf Raten. Sie brauchen Zeit für sich selbst, um tun und lassen zu können, was Ihnen Spaß macht.

Denken Sie daran, Freizeit bewusst einzuplanen. Üben Sie sich im Neinsagen, wenn man Ihnen das fünfte Ehrenamt anträgt. Sie wollen alles genau wissen. Lassen Sie sich nicht beirren, dieser Charakterzug ist Ihre Art, Struktur in eine Sache zu bringen.

Wenn Sie Entscheidungen treffen müssen, lassen Sie sich Zeit. Setzen Sie sich nicht dem Druck Ihrer Mitmenschen aus, um dann Dinge übers Knie zu brechen, für die Sie normalerweise mehr Zeit benötigen. Und entdecken bzw. entwickeln Sie Ihren etwas zu tief liegenden Sinn für Humor; lachen Sie auch mal über Fehler, am besten über Ihre eigenen.

Tipps für die Erziehung Erstgeborener

Wenn ein weiteres Kind in der Familie erwartet wird, stimmen Sie Ihr Ältestes frühzeitig darauf ein. Beziehen Sie es in die Vorbereitungen mit ein und schenken Sie ihm auch nach der Geburt des zweiten Kindes bewusst Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Das Jüngere bekommt naturgemäß allein durch das häufige Füttern und Wickeln genug Zuwendung.

Machen Sie Ihre Verwandten und Bekannten beim Antrittsbesuch für das neue Baby darauf aufmerksam, dass Sie schon ein Kind haben, das auch beachtet werden möchte. Bei der Bewunderung des Babys ist den Erwachsenen oft nicht bewusst, dass da ein Kind im Hintergrund steht, welches vor Eifersucht und Neid kocht, wenn es die Entzückensschreie der Erwachsenen hört.

Auch wenn die Versuchung groß ist, bürden Sie Ihrem älteren Kind nicht zu viele Pflichten auf, es könnte sonst für sich zu dem Eindruck kommen: Nur wenn ich etwas leiste, bin ich anerkannt und geliebt. Zudem könnte der ohnehin in ihm angelegte Perfektionismus gefördert werden. Benutzen Sie Ihr älteres Kind nicht gegen seinen Willen als Kindermädchen. Kinder sind ungleichmäßige und ungerechte Erzieher. Älteste sollten nicht nur Pflichten haben, sondern auch besondere Rechte, die ihrem Alter entsprechen.

Mitunter muss man die Rechte des Älteren gegen die Jüngeren verteidigen und ihnen klarmachen, dass sie zu gegebener Zeit auch noch in den Genuss dieser Vorzüge kommen werden. Dies wird dem Erstgeborenen helfen, nicht ständig eifersüchtig seine Position verteidigen zu müssen.

Machen Sie sich als Eltern immer wieder bewusst, dass der Hang zum Perfektionismus in Ihrem ältesten Kind stets vorhanden ist. Deshalb lassen Sie auch mal fünf gerade sein und gehen Sie mit Fehlern und Versagen nicht zu pingelig und engstirnig um.

Aus Unsicherheit reagieren Eltern bei ihrem ersten Kind oft überängstlich und übertragen diese Angst auch auf das Kind. Vermitteln Sie die Grundstimmung: Jeder macht Fehler und in jedem Leben geht mal etwas schief, aber davon geht die Welt nicht unter. Falls Sie selbst Erstgeborene/r sind, sollten Sie auf diesen Punkt besonders achten.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?