Guy de Maupassant: Bel Ami (Deutsche Ausgabe)

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Es war zehn Uhr vorbei, als er bei seinem Freunde klingelte.

Der Diener antwortete: »Der Herr ist bei der Arbeit.«

Duroy hatte gar nicht gedacht, dass der Mann überhaupt zu Hause sein könnte. Trotzdem ließ er sich nicht abweisen. »Sagen Sie ihm, ich wäre es und käme in einer dringlichen Angelegenheit.«

Nachdem er fünf Minuten gewartet hatte, wurde er in das Arbeitszimmer geführt, in dem er einen so schönen Morgen verbracht hatte. Auf dem Platz, wo er gesessen hatte, saß jetzt Forestier im Schlafrock und Pantoffeln, auf dem Kopf ein leichtes englisches Barett, und schrieb, während seine Frau in demselben weißen Morgenkleide am Kamin lehnte und eine Zigarette rauchte. Sie diktierte.

Duroy blieb an der Schwelle stehen und murmelte:

»Ich bitte sehr um Verzeihung, wenn ich störe ...«

Sein Freund drehte sich mit wütendem Gesicht um und brummte:

»Was willst du denn noch? Beeile dich, wir haben zu tun.«

Duroy wusste nicht, was er sagen sollte. Er stotterte:

»Nein, es ist: nichts, Verzeihung.«

Forestier wurde wütend:

»Zum Donnerwetter, lass uns keine Zeit verlieren! Du bist nicht etwa hier eingedrungen, bloß um uns guten Tag zu sagen?«

Duroy wurde ganz verwirrt; endlich entschloss er sich:

»Nein ... es ist nur... ich bringe den Artikel nicht fertig ... du warst ... Sie waren ... Sie waren so ... so ... so liebenswürdig das letzte Mal ... dass ich hoffte ... ich wagte zu kommen ...«

Forestier fiel ihm ins Wort:

»Du schämst dich wohl gar nicht. Also du bildest dir ein, ich würde deine Arbeit machen und du brauchtest nur am Ende des Monats an die Kasse zu gehen? Nein, das ist ein bisschen zuviel verlangt!«

Die junge Frau rauchte ruhig weiter, ohne ein Wort zu sagen und lächelte nur immer ein geheimnisvolles Lächeln, das wie eine liebenswürdige Maske ihre Gedanken zu verbergen schien.

Duroy errötete und stotterte:

»Entschuldigen Sie ... ich hatte geglaubt ... ich dachte ...«

Dann fuhr er plötzlich mit sicherer Stimme fort:

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, gnädige Frau, und danke Ihnen nochmals aufs Herzlichste für den reizenden Aufsatz, den Sie mir gestern geschrieben haben.«

Dann sagte er zu Forestier: »Ich werde um drei Uhr bei der Redaktion sein«, und ging fort.

Rasch kehrte er nach Hause zurück und brummte:

»Nun gut, ich mache es jetzt selbst und ganz allein, sie sollen sehen ...«

Kaum war er in seinem Zimmer, setzte er sich, von Zorn erregt, an die Arbeit. Er setzte die Geschichte fort, die Madame Forestier begonnen hatte, häufte Einzelheiten im Stil eines Zeitungsromans, erstaunliche Geschehnisse und schwülstige Beschreibungen aufeinander. Er schrieb in ungeschicktem Schülerstil mit Unteroffiziersausdrücken. In einer Stunde war der Aufsatz beendet, der einem Wirrwarr von Torheiten glich, und trug ihn selbstsicher auf die ›Vie Française‹. Der erste Mensch, der ihm hier begegnete, war Saint-Potin, der ihm mit der Herzlichkeit eines Mitschuldigen die Hand schüttelte.

»Haben Sie meine Unterredung mit dem Chinesen und dem Inder gelesen?« fragte der Reporter. »Ist sie nicht spaßig? Ganz Paris hat sich über die Sache amüsiert. Und dabei habe ich nicht einmal ihre Nasenspitze gesehen.«

Duroy hatte noch nichts gelesen; er nahm sofort die Zeitung und durchflog den langen Artikel mit dem Titel ›Indien und China‹, während ihm der Reporter die interessantesten Stellen zeigte.

Forestier kam eilig, schnaufend, mit geschäftigem Gesichtsausdruck herein:

»Ah, gut, ich brauche euch beide.«

Und er gab ihnen eine Reihe politischer Erkundigungen auf, die er bis zum Abend haben müsste.

Duroy überreichte ihm seinen Artikel.

»Hier hast du die Fortsetzung über Algier.«

»Sehr schön. Gib her, ich werde sie dem Chef geben.«

Das war alles.

Saint-Potin zog seinen neuen Kollegen mit hinaus, und als sie im Flur waren, fragte er ihn:

»Waren Sie schon an der Kasse?«

»Nein, warum?«

»Warum? Um sich Ihr Gehalt auszahlen zu lassen. Sehen Sie, man muss stets einen Monat im Voraus nehmen. Man weiß nie, was kommen kann.«

»Aber natürlich ... um so besser.«

»Ich will Sie dem Kassierer vorstellen. Er wird keine Schwierigkeiten machen. Man zahlt hier gut.«

Duroy erhielt seine zweihundert Francs sowie achtundzwanzig Francs für seinen gestrigen Artikel, sodass er zusammen mit dem Rest seines Gehaltes von der Nordbahn dreihundertundvierzig Francs bar in der Tasche hatte. Noch nie hatte er soviel auf einmal in den Händen gehabt, und er glaubte, er wäre reich für ewige Zeiten.

Dann führte ihn Saint-Potin in die Redaktionen von vier oder fünf Konkurrenzblättern und plauderte dort und schwatzte, in der Hoffnung, dass die Nachrichten, die er einholen sollte, schon von anderen ermittelt waren, und dass es ihm gelingen würde, sie ihnen mit Hilfe seines wortreichen und listigen Geplauders abzulocken.

Als der Abend kam, beschloss Duroy, der nichts weiter zu tun hatte, wieder einmal nach den Folies Bergère zu gehen. Er hoffte, mit Dreistigkeit durchzudrängen und ging zum Kontrolleur:

»Ich heiße Georges Duroy und bin Redakteur der ›Vie Française‹. Ich war neulich mit Herrn Forestier hier, der versprochen hat, mir einen freien Eintritt zu verschaffen. Ich weiß nicht, ob er es getan hat?«

Man sah im Verzeichnis nach. Sein Name stand nicht darin. Doch sagte der Kontrolleur, ein sehr freundlicher Mann:

»Treten Sie ruhig ein und wenden Sie sich mit Ihrer Bitte an den Herrn Direktor, der Ihren Wunsch gewiss gern erfüllen wird.«

Er trat ein und begegnete fast sofort Rahel, dem Mädchen, das er neulich nach Hause begleitet hatte. Sie kam sofort auf ihn zu:

»Guten Tag, mein lieber Junge, wie geht es dir?«

»Ausgezeichnet, und dir?«

»Nicht schlecht. Denke dir, ich habe seit jenem Abend schon zweimal von dir geträumt.«

Duroy lächelte geschmeichelt.

»Ah! Ah! Und was soll das beweisen?«

»Das beweist, dass du mir gefallen hast, dummes Schaf, und dass wir von Neuem anfangen wollen, wenn es dir passt.«

»Heute, wenn es dir recht ist?«

»Oh, ich will sehr gern.«

»Gut, aber höre ...«

Er zögerte, etwas verwirrt durch sein Vorhaben.

»Diesmal nämlich habe ich gar kein Geld. Ich komme aus dem Klub, wo ich alles vermöbelt habe.«

Sie blickte ihm tief in die Augen und fühlte instinktiv seine Lüge mit der Erfahrung einer Dirne, die an die Gaunereien und das Feilschen der Männer gewöhnt ist.

»Schwindler! Du weißt doch ... das ist nicht nett von dir.«

Er lächelte verlegen:

»Wenn du zehn Francs willst, das ist alles, was ich habe.«

Sie murmelte mit der Gleichgültigkeit einer Kurtisane, die sich eine Laune erlaubt:

»Was du geben willst, mein Liebling, ich will ja nur dich.«

Sie richtete ihre verführerischen Augen auf den Schnurrbart des jungen Mannes, nahm seinen Arm und stützte sich verliebt darauf.

»Komm, wir trinken zuerst Grenadine. Dann bummeln wir etwas. Ich möchte mit dir in die Oper gehen, um dich zu zeigen. Und dann wollen wir bald nach Hause gehen, nicht wahr?«

Er blieb lange bei diesem Mädchen. Es war schon Tag, als er fortging. Sofort dachte er daran, sich die ›Vie Française‹ zu kaufen. Mit zitternden Händen schlug er die Zeitung auf; seine Fortsetzung stand nicht darin. Vergebens blieb er auf dem Bürgersteig stehen und überflog ängstlich die bedruckten Spalten, in der Hoffnung, das Gesuchte doch noch zu finden. Er fühlte sich vollständig niedergedrückt, und infolge seiner Mattigkeit nach der Liebesnacht traf ihn diese Enttäuschung um so härter.

Er ging nach Hause, legte sich angekleidet auf sein Bett und schlief sofort ein. — Ein paar Stunden später war er auf dem Redaktions-Bureau und ging zu Herrn Walter:

»Ich bin sehr erstaunt, Herr Walter, dass mein zweiter Artikel über Algier nicht erschienen ist.«

Der Direktor hob seinen Kopf und sagte trocken:

»Ich gab ihn Ihrem Freund Forestier zum Durchlesen. Er fand ihn unzureichend. Er muss umgearbeitet werden.«

Duroy ging wütend hinaus, ohne ein Wort zu erwidern. Er stürmte ins Arbeitszimmer seines Freundes:

»Warum hast du heute früh meinen Artikel nicht gebracht?«

Der Journalist rauchte eine Zigarre; er saß hintenübergelehnt in seinem Lehnstuhl und hatte die Füße auf den Tisch gelegt, sodass die Stiefelabsätze einen halbgeschriebenen Artikel beschmutzten. Er erwiderte ruhig mit gleichgültiger und gelangweilter Stimme, die von fernher, wie aus einem tiefen Loch zu kommen schien:

»Der Chef hat ihn schlecht gefunden und mich beauftragt, ihn dir zurückzugeben, damit du ihn noch einmal schreibst. Da ist er.«

Und er wies mit dem Finger auf die Blätter, die zusammengefaltet unter dem Briefbeschwerer lagen.

Duroy war verwirrt und wusste nicht, was er erwidern sollte. Als er seinen Aufsatz in die Tasche steckte, fuhr Forestier fort:

»Heute begibst du dich zunächst zur Polizeipräfektur.«

Und wieder gab er ihm eine ganze Menge Geschäftsgänge und Recherchen auf, die er erledigen sollte.

Duroy ging, ohne dass ihm das beißende und verletzende Wort einfiel, nach dem er suchte.

Am nächsten Tag brachte er seinen Aufsatz wieder. Er bekam ihn abermals zurück. Als er ihn zum dritten Mal geschrieben und zurückerhalten hatte, begriff er, dass er zu schnell vorwärts wollte und dass nur Forestiers Hand ihm helfen konnte. Er sprach nicht mehr von seinen ›Erinnerungen eines afrikanischen Jägers‹, und nahm sich vor, schlau und gewandt zu sein, da es nicht anders ging. Und in Erwartung besserer Tage widmete er sich in vollem Eifer seinem Beruf als Reporter.

 

Er lernte bald die Kulissen der Theater und der Politik, die Wandelgänge und Warteräume der Staatsmänner und des Parlaments, die wichtigtuenden Mienen der Ministerialbeamten und die mürrischen Gesichter der schläfrigen Gerichtsdiener kennen.

Er hatte dauernd zu tun mit Ministern, Portiers, Generalen, Geheimpolizisten, Fürsten, Zuhältern, Dirnen, Botschaftern, Bischöfen, Kupplern, Männern der besten Gesellschaft, Falschspielern, Droschkenkutschern, Kellnern und vielen anderen Leuten; er war der berechnende und gleichgültige Freund aller geworden, achtete alle gleich hoch und gleich niedrig, maß sie mit demselben Maße, beurteilte sie mit demselben Blick, denn er musste sie an jedem Tag und zu jeder Stunde in derselben Stimmung begrüßen und mit ihnen über alles, was seinen Beruf anging, sprechen. Er selbst kam sich dabei wie ein Mensch vor, der unmittelbar hintereinander von allen möglichen Weinen kosten muss und schließlich den feinsten Chateau-Margaux von Argenteuil nicht mehr unterscheiden kann.

Er wurde in kurzer Zeit ein achtbarer Reporter, zuverlässig in seinen Nachrichten, listig, schnell und genau, eine wertvolle Kraft für die Zeitung, wie der alte Walter behauptete, der sich in Redakteuren auskannte.

Da er aber außer seinem festen Gehalt von zweihundert Francs nur zehn Centimes für die Zeile bekam und da das Leben in den Boulevards, in den Cafés und Restaurants teuer war, so hatte er nie einen Sous in der Tasche und war verzweifelt über seine Armut.

Es steckt irgendein Kniff dahinter, dachte er, wenn er manche seiner Kollegen mit geldgefüllten Taschen sah, ohne je zu begreifen, welche geheimen Mittel sie wohl anwandten, um sich diesen Wohlstand zu verschaffen. Er witterte voller Neid irgendwelche heimlichen und verdächtigen Abmachungen, ein gegenseitiges Schmuggelsystem. Auch er musste hinter das Geheimnis kommen, auch er wollte Mitglied dieser verschwiegenen Genossenschaft werden und sich den Kollegen, die ohne ihn die Beute teilten, aufdrängen. Und wenn er abends an seinem Fenster die Eisenbahnzüge vorüberfahren sah, dann träumte er oft von den Mitteln, die ihn diesem Ziele näherbringen konnten.

V.

So waren zwei Monate vergangen. Der September rückte heran, aber das schnelle Glück, das Duroy erhofft hatte, schien nur sehr langsam heranzukommen. Am meisten quälte ihn die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit seiner Stellung, und er sah keinen Weg, auf dem er zu den Höhen hinaufklettern konnte, wo man Ansehen, Macht und Geld findet.

Der unbedeutende Beruf eines Reporters umfing ihn wie eine Fessel; er war darin wie vermauert und konnte nicht hinaus. Zwar achtete man seine Tüchtigkeit, aber man schätzte ihn nach seiner Stellung. Selbst Forestier, dem er tausend Dienste leistete, lud ihn zum Diner nicht mehr ein und behandelte ihn wie einen Untergebenen, obwohl er ihn noch freundschaftlich duzte.

Freilich gelang es Duroy von Zeit zu Zeit, auch einen kleinen Artikel in seinem Blatt anzubringen, und da er durch seine Lokalnachrichten einen flotten Zeitungsstil und Schreibart gelernt hatte, was ihm bei der Abfassung seines zweiten Artikels über Algier absolut fehlte, so lief er keine Gefahr mehr, dass seine Artikel abgewiesen würden. Aber von da bis zu einem aus eigenen Gedankengängen und eigener Phantasie geschaffenen Feuilleton oder einem ernsten politischen Aufsatz bestand ein ebenso großer Unterschied wie zwischen einem Kutscher und einem selbstkutschierenden Herrn, der in den Avenues du Bois de Boulogne spazieren fährt. Was ihn besonders demütigte, war, dass ihm die Türen der Gesellschaft verschlossen blieben und dass er keinen Verkehr hatte, wo er als Gleichberechtigter auftreten konnte, und vor allen Dingen, dass er keine näheren, intimen Beziehungen zu Damen hatte, obgleich ihn mehrere bekannte Schauspielerinnen mit auffallender Liebenswürdigkeit empfangen hatten.

Er wusste übrigens aus Erfahrung, dass alle Frauen, ob sie nun den guten oder schlechten Gesellschaftskreisen angehörten, eine merkwürdige Zuneigung und eine spontane Sympathie für ihn verspürten. Die Tatsache jedoch, dass er gerade diese Wesen, von denen doch seine Zukunft abhängen konnte, nicht kannte, machte ihn ungeduldig und nervös wie ein Rennpferd, dem man nicht freie Bahn gibt.

Oft genug hatte er daran gedacht, Frau Forestier zu besuchen, doch die Erinnerung an die letzte Begegnung demütigte ihn und hielt ihn davon zurück, und außerdem erwartete er, dass ihn der Mann einladen würde. Dann fiel ihm wieder Madame de Marelle ein; sie hatte ihn ja gebeten, er möchte sie doch mal besuchen. So ging er eines Nachmittags, an dem er nichts anderes zu tun hatte, zu ihr hin.

»Ich bin bis drei Uhr immer zu Hause«, hatte sie gesagt.

Um halb drei klingelte er an der Tür.

Sie wohnte Rue de Verneuil, im vierten Stock. Auf das Klingelzeichen öffnete ein Dienstmädchen mit zerzaustem Haar die Tür; sie setzte ihre kleine Haube zurecht und antwortete:

»Ja, die gnädige Frau ist zu Hause, aber ich weiß nicht, ob sie auf ist.«

Sie öffnete die Salontür, die nicht verschlossen war. Duroy trat ein. Das Zimmer war ziemlich groß, aber nicht reich möbliert und sah etwas verwahrlost aus. Die alten abgenutzten Sessel standen an der Wand entlang, so wie sie das Dienstmädchen hatte stehen lassen, nirgends spürte man die sorgsame Hand der eleganten Hausfrau, die sich ihr Heim gemütlich zu gestalten liebt. Vier armselige Bilder, die einen Kahn auf dem Fluss, ein Schiff auf dem Meer, eine Mühle in einer Ebene, einen Holzhauer im Wald darstellten, hingen in der Mitte der vier Wände an Stricken verschiedener Länge, und alle vier hingen schief. Man erriet, dass sie wahrscheinlich schon lange so schief hingen unter den nachlässigen Augen der gleichgültigen Besitzerin.

Duroy setzte sich und wartete. Er wartete lange. Endlich öffnete sich die Tür und Madame de Marelle trat eilig herein. Sie trug ein japanisches Morgenkleid aus rosa Seide, das mit goldenen Landschaften, blauen Blumen und weißen Vögeln bestickt war.

»Denken Sie, ich war noch im Bett«, rief sie aus. »Das ist aber nett, dass Sie sich auch mal bei mir sehen lassen. Ich dachte bestimmt, Sie hätten mich vergessen.«

Mit strahlendem Gesicht streckte sie ihm beide Hände entgegen, und Duroy, dem die verwahrloste Einrichtung des Zimmers seine volle Sicherheit wiedergab, ergriff sie und küsste die eine Hand, wie er es einmal von Norbert de Varenne gesehen hatte.

Sie bat ihn, Platz zu nehmen. Dann musterte sie ihn vom Kopf bis zu den Füßen und sagte: »Sie haben sich sehr zu Ihrem Vorteil verändert. Paris hat Ihnen gut getan. Erzählen Sie mir, was gibt es Neues?«

Damit begannen sie zu plaudern, als ob sie alte Bekannte wären. Und sie fühlten, wie zwischen ihnen eine unmittelbare Vertraulichkeit entstand, ein Überströmen von Zuneigung, Herzlichkeit und gegenseitigem Verständnis, das in wenigen Minuten zwei Wesen von gleicher Art und Charakter zu Freunden macht. Plötzlich stockte die junge Frau und rief ganz erstaunt:

»Es ist merkwürdig, wie wir übereinstimmen. Mir ist's, als kenne ich Sie seit zehn Jahren. Wir werden sicherlich gute Freunde werden. Wollen Sie?«

»Aber natürlich«, erwiderte er mit vielsagendem Lächeln.

Er fand sie höchst verführerisch in ihrem weichen, leuchtenden Gewand, vielleicht weniger zärtlich und fein als Frau Forestier in ihrem weißen Morgenkleid, weniger zierlich und graziös, dafür aber entzückender und aufreizender.

Bei Madame Forestier mit ihrem unveränderlichen, zärtlichen Lächeln, das gleichzeitig anzog und abstieß, das zu sagen schien »Du gefällst mir« und auch »Nimm dich in acht«, und dessen wirklichen Sinn er nie erraten konnte, empfand er in erster Linie das Bedürfnis, sich ihr zu Füßen zu legen oder die zierlichen Spitzen zu küssen, die ihre zarte Haut bedeckten, und langsam den warmen, parfümierten Duft einzuatmen, der von ihrer Brust strömte. Bei Madame de Marelle empfand er ein etwas brutaleres und bestimmteres Verlangen, eine Begierde, die seine Finger zucken ließ, wenn er die runden Formen ihres Körpers unter der leichten Seide sah.

Sie sprach immer weiter, und fast aus jedem Satz sprühte dieser leichte, geistreiche Witz, den sie so routiniert beherrschte, wie ein Meister sein Handwerk beherrscht und mit einem rechten Griff eine schwierige Arbeit mit erstaunlicher Gewandtheit ausführt. Er hörte zu und dachte: »Das müsste man sich merken. Man könnte die hübschesten Feuilletons schreiben, wenn man sie über die Pariser Tagesereignisse plaudern hört.«

Jetzt klopfte es ganz leise an der Tür. Madame de Marelle rief:

»Du kannst hereinkommen, Kleine!«

Das kleine Mädchen erschien, ging direkt auf Duroy zu und reichte ihm die Hand.

Die Mutter murmelte erstaunt:

»Das ist ja eine Eroberung. Ich erkenne sie nicht wieder.«

Der junge Mann küsste das Kind, setzte es neben sich und erkundigte sich ernst und liebenswürdig nach allem, was es in der letzten Zeit getan hatte. Sie antwortete mit ihrer dünnen Flötenstimme und mit der ernsten Miene einer erwachsenen Dame.

Die Uhr schlug drei. Der Journalist erhob sich.

»Kommen Sie recht oft«, bat Madame de Marelle, »wir plaudern dann wie heute. Sie werden mir stets willkommen sein. Aber warum sieht man Sie nie mehr bei Forestiers?«

»Ein Zufall«, erwiderte er, »ich hatte so viel zu tun. Ich hoffe aber, dass wir uns demnächst dort einmal wieder treffen werden ...«

Und er ging, innerlich voller Hoffnung, ohne recht zu wissen, warum.

Forestier sagte er nichts über diesen Besuch, aber die Erinnerung daran wich während des ganzen folgenden Tages nicht von ihm; es war mehr als bloß Erinnerung, ein Gefühl der unwirklichen, andauernden Gegenwart dieser Frau. Ihm war es, als hätte er einen Teil von ihr fortgetragen, als wäre das Bild ihres Körpers in seinen Augen und der Reiz ihres Wesens in seinem Herzen geblieben. Und er blieb im Banne dieser Vorstellung, wie es manchmal geschieht, wenn man schöne Stunden mit einem Menschen verbracht hat. Man meint dann, man wäre von etwas Fremdartigem, Holdem, Köstlichem vollständig eingenommen, das um so verwirrender und reizender erscheint, je weniger wir es deuten können.

Nach ein paar Tagen wiederholte er seinen Besuch.

Die Zofe führte ihn in den Salon und gleich darauf erschien Laurine. Sie hielt ihm nicht ihre Hand, sondern ihre Stirn hin und sagte:

»Mama lässt Sie bitten, etwas zu warten. Es wird eine Viertelstunde dauern, denn sie ist noch nicht angezogen. Ich leiste Ihnen solange Gesellschaft.«

Duroy, dem das würdige Benehmen der Kleinen Spaß machte, sagte:

»Vortrefflich, mein kleines Fräulein, ich bin entzückt, mit Ihnen eine Viertelstunde zu verbringen. Aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass ich gar nicht so ernst bin; ich spiele den ganzen Tag und schlage Ihnen daher vor, wir spielen ein bisschen Haschen.«

Die Kleine schien zuerst erstaunt, dann lächelte sie wie eine Dame über diesen Einfall, der sie ein bisschen ärgerte und ein bisschen überraschte und murmelte:

»Das Zimmer ist nicht zum Spielen eingerichtet.«

»Das ist mir ganz egal«, erwiderte er. »Ich spiele überall. Also los! Haschen Sie mich!«

Und er begann um den Tisch herumzulaufen; sie folgte ihm und lächelte, als täte sie das nur aus Höflichkeit. Hin und wieder streckte sie die Hand aus, um ihn zu haschen, ohne sich jedoch zum Laufen hinreißen zu lassen. Er blieb stehen, duckte sich, und wenn sie mit ihrem kleinen, zögernden Schritt ankam, sprang er in die Höhe, wie ein Teufel aus dem Kasten, und lief dann bis ans andere Ende des Zimmers. Sie fand Gefallen daran und fing an zu lachen; sie lief nun eifrig hinter ihm her und kreischte halb fröhlich, halb ängstlich auf, wenn sie ihn gefasst zu haben glaubte. Er schob die Stühle hin und her, um ihr Hindernisse in den Weg zu legen. Bald ließ er sie eine Minute lang um einen und denselben Stuhl herumlaufen, bald sprang er von einem zum andern. Laurine lief jetzt richtig und gab sich ganz dem Vergnügen dieses Spieles hin. Mit rosigem Gesichtchen und echt kindlicher Begeisterung stürzte sie bei jeder Flucht, bei jeder List und jedem Scheinmanöver ihres Spielgefährten mit Schwung hinter ihm her.

 

Jetzt glaubte sie ihn endlich fassen zu können, da ergriff er sie mit beiden Armen, hob sie bis zur Decke empor und rief:

»Gefangen, gefangen!«

Die Kleine strampelte entzückt mit den Beinchen, um sich zu befreien, und lachte dabei aus vollem Herzen.

Als Madame de Marelle eintrat, war sie verblüfft:

»Aber Laurine! ... du spielst? Sie sind ja ein Zauberer, mein Herr!«

Er setzte die Kleine wieder zu Boden und küsste der Mutter die Hand. Sie setzten sich, die Kleine saß dazwischen. Sie wollten plaudern, aber Laurine, die sonst immer schwieg, war wie berauscht und schwatzte unaufhörlich, sodass die Mutter sie auf ihr Zimmer schicken musste. Sie gehorchte, ohne zu antworten, aber mit Tränen in den Augen.

Sobald sie allein waren, sagte Madame de Marelle mit gedämpfter Stimme:

»Sie wissen noch nicht, ich habe eine große Sache vor und ich habe an Sie gedacht. Sie wissen, ich speise jede Woche einmal bei Forestiers und ich revanchiere mich von Zeit zu Zeit, indem ich sie in ein Restaurant einlade. Ich sehe nicht gern Gesellschaft bei mir, ich bin dafür nicht geschaffen, außerdem kann ich keinen Haushalt führen und von der Küche verstehe ich absolut gar nichts. Ich lebe gern ins Blaue hinein. Deshalb lade ich sie hin und wieder in ein Restaurant ein, aber wenn wir nur zu dritt sind, ist die Sache nie recht lustig. Und meine Bekannten passen gar nicht zu ihnen. Ich sage Ihnen das, um Ihnen meine etwas außergewöhnliche Einladung zu erklären. Sie fassen es also nicht falsch auf, wenn ich Sie bitte, am Sonnabend um acht im Café Riche zu speisen. Sie kennen doch das Restaurant?«

Er nahm die Einladung erfreut an und sie fuhr fort:

»Wir werden nur zu viert sein, eine richtige Partie carré. Solche kleine Feste sind sehr amüsant für uns Frauen, die wir selten in die Restaurants kommen.«

Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das ihre Taille, ihre Hüften, ihre Brust und ihre Arme in aufreizender und verführerischer Weise hervortreten ließ, und Duroy fühlte ein verwirrtes Erstaunen, ja fast eine Verlegenheit, deren Grund er sich nicht erklären konnte, über das Missverhältnis zwischen dieser sorgfältig gepflegten Eleganz ihrer Toilette und der sichtlichen Verwahrlosung ihrer Wohnung, in der sie lebte.

Alles, was ihren Körper umgab, was sie unmittelbar berührte, war fein, zart und peinlich sauber, aber um ihre weitere Umgebung schien sie sich gar nicht zu kümmern.

Er verließ sie und bewahrte noch stärker als das erste Mal das Gefühl ihrer fortdauernden Gegenwart in einer Art Fieberwahn seiner Sinne. Er wartete mit wachsender Ungeduld auf den verabredeten Tag.

Er lieh sich zum zweiten Mal einen Frackanzug, da seine Mittel ihm noch immer nicht erlaubten, einen solchen zu kaufen. Er erschien als erster einige Minuten vor der Zeit.

Man ließ ihn zum zweiten Stockwerk hinaufsteigen und führte ihn in einen kleinen, rot tapezierten Salon, dessen einziges Fenster nach dem Boulevard hinausging.

Auf einem viereckigen Tisch mit blendend weißem Tischtuch waren vier Kuverts gedeckt, und die Gläser, das Tafelsilber und der Schüsselwärmer blitzten lebhaft im Schein von zwölf Kerzen, die von zwei hohen Leuchtern getragen wurden.

Vor dem Fenster sah man einen sehr großen, hellgrünen Fleck, der von den Baumblättern herrührte, auf die aus den einzelnen Separés helles Licht fiel.

Duroy setzte sich auf ein niedriges Sofa, das ebenso rot war wie die Tapete. Die abgenutzten Federn gaben stark nach, sodass er das Gefühl hatte, als stürze er in ein Loch hinein. In dem ganzen, großen Gebäude vernahm er ein verworrenes Getöse, das Geräusch der großen Restaurants mit ihrem Geschirr und Tellergeklapper, dem Klingen von Silberzeug, den schnellen Schritten der Kellner auf den Gängen, deren Schall durch die Läufer gedämpft wird, dem Knarren der Türen, die sich einen Augenblick öffneten und den Stimmenlärm aller Insassen der engen Salons herausdringen ließen.

Nach einer Weile kam Forestier und drückte ihm die Hand mit einer herzlichen Vertraulichkeit, wie er sie ihm niemals auf der ›Vie Française‹ gezeigt hatte.

»Die beiden Damen kommen zusammen«, sagte er, »solche Diners sind immer sehr nett.«

Dann besah er sich den Tisch, ließ eine Gasflamme, die wie ein Nachtlicht brannte, ganz ausdrehen, schloss einen Fensterflügel wegen des Luftzuges, suchte sich den geschütztesten Platz aus und sagte:

»Ich muss mich sehr in Acht nehmen. Seit einem Monat ging es mir besser, aber vor einigen Tagen habe ich einen Rückfall bekommen. Ich muss mich am Dienstag erkältet haben, als ich aus dem Theater kam.«

Die Tür ging auf und die beiden Frauen erschienen, gefolgt von dem Oberkellner. Sie waren verschleiert und eingehüllt, mit jenem reizenden geheimnisvollen Wesen, wie es Frauen an Orten, die einen fragwürdigen Ruf besitzen, so gern anzunehmen pflegen.

Als Duroy Madame Forestier begrüßte, machte sie ihm heftige Vorwürfe, warum er sie nicht besucht hätte. Dann sah sie ihre Freundin lächelnd an und fügte hinzu:

»Natürlich, Sie ziehen Madame de Marelle mir vor; für sie haben Sie also Zeit übrig.«

Man setzte sich, und als der Oberkellner Forestier die Weinkarte reichte, rief Madame de Marelle:

»Geben Sie den Herren, was sie wollen; uns bringen Sie Champagner in Eis, aber süßen Champagner, bitte, die beste Sorte, die Sie haben; sonst nichts!«

Als der Mann gegangen war, erklärte sie mit aufgeregtem Lachen:

»Heute will ich mir einen Schwips antrinken. Wir wollen ein Gelage veranstalten, ein richtiges Gelage.«

Forestier, der anscheinend nicht zugehört hatte, fragte:

»Würde es Ihnen recht sein, wenn ich das Fenster schlösse. Seit ein paar Tagen habe ich wieder Schmerzen in der Brust.«

»Aber bitte, selbstverständlich!«

Er stand auf, machte auch den zweiten Fensterflügel zu und setzte sich dann beruhigt und vergnügt wieder auf seinen Platz. Seine Frau sagte nichts; ihre Gedanken schienen ganz woanders zu sein. Ihre Augen waren gesenkt, ihre Blicke fielen auf die Gläser. Sie lächelte; ihr Gesichtsausdruck schien viel zu versprechen, ohne jemals etwas zu halten.

Es wurden Ostender Austern serviert. Sie waren klein und fett, sie sahen in ihren Schalen wie Ohren aus und schmolzen zwischen Zunge und Gaumen wie salzige Bonbons. Nach der Suppe gab es Lachsforelle, rosig wie das Fleisch eines jungen Mädchens, und nun begann die Unterhaltung in Fluss zu kommen. Man sprach zuerst über einen Stadtklatsch, der damals überall besprochen wurde; es war die Geschichte einer Dame der Gesellschaft, die vom Freund ihres Mannes dabei überrascht wurde, wie sie mit einem ausländischen Fürsten im Séparée soupierte.

Forestier lachte sehr über das Abenteuer, die beiden Damen aber erklärten den indiskreten Schwätzer für einen Lümmel und Feigling. Duroy schloss sich ihrer Meinung an und erklärte laut und deutlich, in derartigen Fällen wäre für den Ehrenmann strengste Diskretion geboten, gleichgültig, ob er Beteiligter, Vertrauter oder bloß zufälliger Mitwisser sei. Er fügte hinzu, wie voll von wundervollen Dingen das Leben wäre, wenn wir immer auf eine gegenseitige, unbedingte Verschwiegenheit rechnen könnten. Was die Frauen nur zu oft, ja fast immer zurückschreckt, ist die Enthüllung des Geheimnisses. Er lächelte und fuhr fort:

»Nicht wahr? — Wie viele würden sich, dem heftigen Verlangen und der vorübergehenden Laune gehorchend, zur Liebe hinreißen lassen, wenn sie nicht fürchteten, ein leichtes, kurzes Glück mit ewiger Schande und schmerzlichen Tränen bezahlen zu müssen. Er sprach mit ansteckender Überzeugungskraft, als plädierte er für sich selbst, als wollte er sagen: »Bei mir hat man derartige Gefahren nicht zu fürchten! Bitte, probieren Sie es nur einmal!«

Die beiden Frauen sahen ihn an und ihre Blicke schienen ihm zuzustimmen. Sie fanden, er spräche gut und zutreffend, und verrieten durch ihr wohlwollendes, zustimmendes Schweigen, dass ihre unbeugsame Pariser Moral nicht lange anhalten würde, wenn absolute Verschwiegenheit im Voraus garantiert wäre.

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