Guy de Maupassant: Bel Ami (Deutsche Ausgabe)

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Frau Forestier zuckte leicht mit den Achseln und erhob die Augenbrauen mit einer einzigen, vielsagenden Bewegung.

»Oh! Er ist Inspektor der Nordbahn. Er verbringt im Monat acht Tage in Paris, das, was seine Frau die Arbeitswoche oder auch die heilige Woche nennt. Wenn Sie sie besser kennten, würden Sie sehen, wie klug und nett sie ist. Machen Sie ihr doch nächstens mal einen Besuch.«

Duroy dachte überhaupt nicht mehr ans Fortgehen. Ihm war zumute, als müsste er immer hierbleiben, als wäre er hier zu Hause.

Da ging die Tür geräuschlos auf und ein großer Herr trat unangemeldet ein. Er stutzte, als er den Mann sah. Madame Forestier schien einen Augenblick verlegen zu sein; dann sagte sie mit natürlicher Stimme, trotzdem eine leichte Röte von ihren Schultern zum Gesicht emporstieg:

»Kommen Sie doch näher, mein Lieber. Ich will Ihnen einen guten Freund von Charles vorstellen; Herr Georges Duroy, auch ein zukünftiger Journalist.« Dann setzte sie mit etwas anderem Ton hinzu:

»Unser bester und intimster Freund, Graf de Vaudrec.«

Die beiden Männer grüßten sich und betrachteten sich genau. Duroy verabschiedete sich gleich darauf. Sie hielt ihn nicht zurück.

Er stotterte noch einige Dankesworte, drückte die hingestreckte Hand der jungen Frau, verbeugte sich vor dem Grafen, der das kühle und ernste Gesicht eines Mannes aus der besten Gesellschaft bewahrte, und ging in höchster Verwirrung fort, als ob er eben eine Dummheit begangen hätte.

Auch auf der Straße fühlte er sich bedrückt und unbehaglich und hatte die dunkle Empfindung eines verborgenen Kummers. Er schritt vor sich hin und fragte sich nach dem Grund dieser plötzlichen Schwermut. Er fand keinen, aber die ernste Gestalt des schon etwas alten Grafen de Vaudrec mit dem grauen Haar und dem ruhigen, anmaßenden Gesicht eines unabhängigen, sehr reifen Mannes, trat ihm immer wieder vor die Augen.

Es wurde ihm klar, dass der Eintritt dieses Fremden nicht bloß das reizende Zusammensein gestört hatte, an das sein Herz sich schon zu gewöhnen begann, sondern in ihm auch diesen Eindruck von Kälte und Verzweiflung hervorgerufen hatte, wie es oft ein aufgefangenes Wort oder der flüchtige Anblick von Elend oder sonst irgendeine Kleinigkeit in uns auslöst.

Außerdem schien ihm auch, ohne dass er sagen konnte, warum, als ob dieser Mann unzufrieden gewesen sei, ihn dort zu treffen.

Bis drei Uhr hatte er nichts mehr zu tun, und es war noch nicht Mittag. Er hatte noch 6 Francs 50 in der Tasche. Er ging in die Bouillon Duval frühstücken. Dann trieb er sich auf dem Boulevard herum und Punkt drei Uhr stieg er die große prunkhafte Treppe zur ›Vie Française‹ hinauf. Die Laufburschen saßen mit gekreuzten Armen auf einer Bank und warteten, während hinter einem kleinen Katheder ein Beamter die soeben angekommene Post sortierte. Die ganze Aufmachung war vortrefflich und musste jedem Besucher imponieren. Alles hatte Haltung und Würde, wie es sich für den Warteraum einer großen Zeitung gebührt.

Duroy fragte:

»Ist Herr Walter zu sprechen?«

Der Diener antwortete:

»Der Herr Direktor hat eben eine wichtige Konferenz. Wenn der Herr einen Augenblick Platz nehmen will.«

Und er wies auf ein Wartezimmer, das schon voller Menschen war.

Man sah dort ernste, würdige Männer mit Ordensband, und auch etwas vernachlässigte Gestalten mit unsichtbarer Wäsche, deren bis zum Halse zugeknöpfte Röcke eine wahre Landkarte von Flecken zeigten.

Zwischen den Wartenden befanden sich drei Frauen; eine von ihnen war hübsch, elegant und lächelte freundlich; es schien eine Kokotte zu sein. Ihre Nachbarin blickte düster, ihr Gesicht war voller Runzeln; auch sie war besser gekleidet, doch sie hatte etwas Verbrauchtes, künstlich Erhaltenes, wie man es manchmal bei alternden Schauspielern sieht, eine Art falscher, abgestandener Jugend, die an ranzig gewordenes Parfüm d'Amour erinnert.

Die dritte Frau trug Trauer und saß in der Ecke, mit der Haltung einer untröstlichen Witwe. Duroy hielt sie für eine Bittstellerin.

Indessen wurde niemand vorgelassen, obgleich über zwanzig Minuten verstrichen waren.

Da hatte Duroy eine gute Idee; er ging nochmals zum Diener hinaus und sagte:

»Herr Walter hat mich um drei Uhr herbestellt. Sehen Sie bitte nach, ob mein Freund Forestier hier ist?«

Man führte ihn jetzt durch einen langen Flur in einen großen Saal, in dem vier Herren um einen großen grünen Tisch saßen und schrieben.

Forestier stand vor dem Kamin, rauchte eine Zigarette und spielte Bilboquet (Fangball). Er war ein vortrefflicher Spieler und fing die Kugel aus gelbem Buchsbaum mit der kleinen Holzspitze fast jedesmal richtig auf. Er zählte: »22 ... 23 ... 24 ... 25.«

»26!« rief Duroy.

Da blickte sein Freund auf, ohne seine regelmäßige Armbewegung einzustellen.

»Ah, da bist du ja«, rief er. »Gestern habe ich siebenundfünfzigmal hintereinander getroffen. Nur Saint-Potin kann es noch besser als ich. Hast du den Chef gesprochen? Nichts ist komischer, als diesen alten Norbert Fangball spielen zu sehen. Er reißt den Mund auf, als wollte er die Kugel runterschlucken.«

Einer der Redakteure drehte den Kopf nach ihm um.

»Weißt du, Forestier, ich kenne ein ausgezeichnetes Bilboquet aus Antillenholz, das zu verkaufen ist. Es soll der Königin von Spanien gehört haben. Man verlangt dafür sechzig Francs, das ist nicht teuer.«

»Wo ist es zu haben?« fragte Forestier.

Da er seinen 37. Wurf verfehlt hatte, öffnete er den Schrank, in dem Duroy gegen zwanzig wunderbare Bilboquets sah, die alle geordnet und nummeriert waren, wie Kostbarkeiten aus einer Kunstsammlung. Forestier stellte das Instrument auf seinen richtigen Platz und wiederholte die Frage:

»Wo steckt dieses Kleinod?«

Der Journalist antwortete:

»Bei einem Billetthändler beim Vaudeville-Theater. Wenn du willst, bringe ich dir das morgen mit.«

»Ja gut. Wenn es wirklich schön ist, nehm' ich es. Man kann nie zuviel Bilboquets besitzen.«

Dann wandte er sich zu Duroy.

»Komm jetzt, ich führe dich zum Chef, sonst kannst du hier warten bis zum späten Abend.«

Sie gingen wieder durch den Wartesaal, wo dieselben Personen genau in derselben Reihenfolge saßen. Als Forestier erschien, erhoben sich die junge Dame und die alte Schauspielerin und gingen schnell auf ihn zu. Er führte eine nach der andern in die Fensternische, und trotzdem sie sich ganz leise unterhielten, hörte Duroy, dass er beide duzte.

Dann stießen sie zwei Polstertüren auf und kamen zum Direktor.

Die wichtige Konferenz, die schon eine Stunde dauerte, bestand in einer Partie Écarté mit einigen Herren, die Duroy gestern wegen ihrer flachen Zylinderhüte aufgefallen waren.

Herr Walter spielte mit angespannter Aufmerksamkeit und vorsichtigen, abgemessenen Bewegungen, während sein Gegner die leichten, bunten Blätter mit Gewandtheit, Geschicklichkeit und Anmut eines geübten Spielers nahm, ausspielte und durch seine Finger gleiten ließ. Norbert de Varenne saß im großen Lehnstuhl des Direktors und schrieb einen Artikel, Jaques Rival lag mit geschlossenen Augen lang ausgestreckt auf einem Sofa und rauchte eine Zigarre.

Es roch hier in dem abgeschlossenen Zimmer nach dem Leder der Möbel, nach altem Tabak und nach Druckerschwärze. Man spürte den eigenartigen Duft der Redaktionszimmer, der jedem Journalisten bekannt ist.

Auf dem schwarzen, kupferbeschlagenen Tisch lag ein gewaltiger Papierhaufen, Briefe, Karten, Zeitungen, Rechnungen der Lieferanten, Drucksachen aller Art. Forestier schüttelte den Wettenden, die hinter den Spielern standen, die Hand und sah dann schweigend der Partie zu. Sobald Vater Walter gewonnen hatte, stellte er vor:

»Hier ist mein Freund Duroy.«

Der Chef warf über die Gläser seiner Brille einen raschen Blick auf den jungen Mann und fragte:

»Sie bringen mir meinen Artikel? Er kommt heute gerade recht zur Diskussion Morel.«

Duroy zog die zusammengefalteten Blätter aus der Tasche.

»Hier, Herr Walter.«

Der Chef schien entzückt und sagte lächelnd: »Sehr schön, sehr schön. Sie halten Wort. Sie müssen mir das wohl durchsehen, Forestier.«

»Das ist nicht notwendig, Herr Walter«, erwiderte schleunigst Forestier, »ich habe den Bericht mit ihm zusammen geschrieben, um ihm eine Anleitung zu geben. Der Artikel ist tadellos.«

Der Direktor erhielt eben die Karten von einem großen, mageren Herrn, einem Abgeordneten des linken Zentrums. Er fügte gleichgültig hinzu:

»Dann ist also alles in Ordnung.«

Noch ehe er die neue Partie beginnen konnte, beugte sich Forestier zu ihm hinab und sagte:

»Sie wissen, Sie haben mir zugesagt, Duroy an Stelle von Marambot zu engagieren. Soll ich unter denselben Bedingungen mit ihm abschließen?«

»Ja natürlich.«

Der Journalist nahm seinen Freund beim Arm und zog ihn fort, während Herr Walter weiterspielte.

Norbert de Varenne hatte nicht den Kopf erhoben; er schien Duroy nicht gesehen oder nicht wiedererkannt zu haben. Jaques Rival dagegen hatte ihm demonstrativ die Hand kräftig geschüttelt, um zu zeigen, dass er ein guter Kamerad sei, auf den man sich, verlassen könne.

Sie gingen wieder durch das Wartezimmer. Alle blickten auf, und Forestier sagte zu der jungen Frau so laut, dass auch die anderen Wartenden es hören könnten:

»Der Direktor wird Sie sogleich empfangen. Er hat jetzt gerade eine Konferenz mit zwei Mitgliedern der Budgetkommission.«

Dann ging er rasch weiter mit wichtiger und eiliger Miene, als wollte er eine Depesche von äußerster Wichtigkeit redigieren.

 

Als sie wieder in dem großen Redaktionssaal anlangten, griff Forestier sofort wieder zu seinem Bilboquet, vertiefte sich in das Spiel und sagte zu Duroy, indem er zwischen den Worten die Treffer zählte:

»Also: du kommst jeden Tag um drei Uhr hierher und ich werde dir sagen, welche Gänge und Besuche du am Tag, am Abend und am nächsten Morgen machen musst. — Eins. — Zunächst werde ich dir ein Empfehlungsschreiben für den ersten Bureau-Chef in der Polizeipräfektur geben. — Zwei. — Der wird dich zu einem seiner Beamten weisen. Mit ihm setzt du dich in Verbindung über alle wichtigen — drei — Polizeinachrichten, offiziell und halboffiziell. Verstanden? Wegen aller Einzelheiten wendest du dich an Saint-Potin, der Bescheid weiß. — Vier. — Du wirst ihn gleich oder morgen kennenlernen. Vor allen Dingen kommt es darauf an, die Leute, die du besuchst, zum Reden zu bringen — fünf — und überall Zutritt zu finden trotz verschlossener Türen. — Sechs. — Dafür bekommst du ein monatliches Gehalt von zweihundert Francs, außerdem zwei Sous pro Zeile für alle Neuigkeiten, die du selbst entdeckt hast. — Sieben. — Ebenso zwei Sous pro Zeile für alle Artikel, die du über vermischte Nachrichten zu schreiben hast. — Acht.«

Dann kümmerte er sich nur noch um sein Spiel und fuhr langsam fort zu zählen. Neun — zehn — elf — zwölf — dreizehn. Den vierzehnten Wurf verfehlte er, und er begann zu fluchen: »Die verfluchte Dreizehn bringt mir immer Pech. Verdammt noch einmal, am 13. sterbe ich sicher.«

Einer der Redakteure, der mit seiner Arbeit fertig war, nahm jetzt ebenfalls ein Bilboquet aus dem Schrank. Es war ein winziger Mensch mit einem Kindergesicht, obgleich er schon 35 Jahre zählte. Mehrere andere Journalisten kamen auch herein und gingen einer nach dem andern zum Schrank, um das Spielzeug zu holen, das ihnen gehörte. Bald waren es sechs, die mit den Rücken gegen die Wand nebeneinander standen und mit der gleichen regelmäßigen Bewegung die je nach der Holzart roten, gelben und schwarzen Kugeln in die Luft warfen. Es begann ein Wettkampf, und die beiden anderen Redakteure, die noch arbeiteten, standen auch auf, um als Schiedsrichter die Treffer zu zählen. Forestier gewann mit 11 Points. Der kleine Mann mit dem Kindergesicht hatte verloren. Er klingelte und rief dem eintretenden Boten zu: »Neun Bier!«. Dann begannen sie wieder zu spielen, in Erwartung des erfrischenden Getränks.

Duroy trank ein Glas Bier mit seinen neuen Kollegen und dann fragte er seinen Freund:

»Was soll ich jetzt tun?«

»Heute habe ich nichts mehr für dich«, erwiderte der andere, »du kannst gehen, wenn du willst.«

»Und ... unser ... unser Artikel, wird er noch heute Abend gedruckt?«

»Ja, aber du brauchst dich darum nicht zu kümmern, ich werde die Korrektur lesen. Mache morgen den zweiten Artikel fertig und sei, wie heute, um drei Uhr hier.«

Duroy schüttelte allen die Hände, ohne die Namen der dazu gehörenden Personen zu kennen und stieg dann wieder mit frohem Mut und leichtem Herzen die schöne Treppe hinab.

IV.

Georges Duroy hatte schlecht geschlafen. Die Sehnsucht, seinen Artikel gedruckt zu sehen, gab ihm keine Ruhe. Schon bei Tagesanbruch stand er auf und ging in den Straßen herum, lange bevor die Zeitungsträger von einem Kiosk zum andern die großen Papierbündel herumtrugen. Dann ging er zum Bahnhof, denn er wusste, dass die ›Vie Française‹ dort eher eintreffen würde als in seinem Viertel. Aber es war immer noch zu früh und wieder musste er in den Straßen auf und ab wandern.

Er sah die Zeitungshändlerin ankommen und ihr Glashäuschen aufschließen, und dann bemerkte er auch einen Mann mit einem dicken Zeitungsbündel auf dem Kopf. Er stürzte drauflos; es war der ›Figaro‹, der ›Gil Blas‹, der ›Gaulois‹, das ›Evénements‹ und noch ein paar andere Morgenblätter, aber die ›Vie Française‹ war nicht dabei.

Da ergriff ihn eine Furcht: »Wenn man die ›Erinnerungen eines afrikanischen Jägers‹ auf den nächsten Tag verschoben hätte oder womöglich hätten sie im letzten Augenblick Vater Walter missfallen?«

Als er nach dem Kiosk zurückkehrte, sah er, dass man jetzt das Blatt verkaufte, ohne dass er es hatte bringen sehen. Er stürzte darauf, warf drei Sous hin, entfaltete die Zeitung und las das Inhaltsverzeichnis auf der ersten Seite rasch durch. — Nichts. — Sein Herz begann heftig zu klopfen. Er schlug die zweite Seite auf und las in heftiger Erregung unter einer Spalte dick gedruckt: ›Georges Duroy.‹ Also doch. Welche Freude!

Ganz verwirrt, den Zylinder aufs Ohr gedrückt, die Zeitung in der Hand, ging er los. Er fühlte ein Verlangen, die Passanten anzuhalten und ihnen zu erklären: »Kaufen Sie sich das, kaufen Sie sich das. Da steht ein Artikel von mir!« — Am liebsten hätte er wie die Straßenhändler abends auf den Boulevards aus voller Kehle geschrien: »Lest die ›Vie Française‹, lest den Artikel von Georges Duroy, Erinnerungen eines afrikanischen Jägers«.

Und plötzlich empfand er das Bedürfnis, selbst den Artikel zu lesen, und zwar öffentlich in irgendeinem Café, wo alle es sehen konnten. Er wollte ein besuchtes Lokal finden; er musste aber lange suchen, bis er endlich an eine Weinschenke kam, wo sich schon einige Gäste befanden. Er bestellte sich einen Rum in einem Ton, als ob er einen Absinth bestellt hätte, ohne an die Tageszeit zu denken. Dann rief er: »Kellner, geben Sie mir die ›Vie Française‹.«

Ein Mann mit weißer Schürze eilte herein. »Wir haben sie nicht, mein Herr, wir bekommen nur ›Le Rappel‹, ›Le Siecle‹, ›La Lanterne‹ und ›Le Petit Parisien‹.«

Duroy erwiderte wütend und entrüstet: »Das ist eine nette Bude; kaufen Sie mir das Blatt sofort.«

Der Kellner lief hinaus und brachte die Zeitung. Duroy begann seinen Artikel zu lesen, ein paarmal sagte er dabei ganz laut: »Vortrefflich, ausgezeichnet«, um die Aufmerksamkeit seiner Nachbarn auf sich zu lenken und ihnen den Wunsch einzuflößen, auch zu wissen, was im Blatte stand. Dann ließ er es auf dem Tisch liegen und ging fort. Der Wirt merkte es:

»Mein Herr, mein Herr, Sie haben Ihre Zeitung vergessen.«

Duroy antwortete: »Ich lasse sie Ihnen, ich habe sie schon gelesen. Übrigens steht heute etwas sehr Interessantes drin.«

Er nannte seinen Artikel nicht, aber er sah, als er fortging, wie einer der Gäste die Zeitung vom Tisch nahm.

Er dachte nach: »Was soll ich jetzt anfangen?« Und er entschloss sich, auf sein Bureau zu gehen, sich sein Gehalt zu holen, und seinen Abschied zu nehmen. Er zitterte im Voraus vor Freude bei dem Gedanken an das Gesicht, das sein Chef und seine Kollegen machen würden. Vor allem freute ihn die Aussicht, seinen Vorgesetzten wütend zu machen.

Er ging langsam, um nicht vor halb zehn an Ort und Stelle zu sein, denn die Kasse wurde erst um zehn geöffnet.

Sein Bureau war ein dunkles, großes Zimmer, in dem man im Winter fast den ganzen Tag Gas brennen musste. Die Fenster gingen auf einen engen Hof, gegenüber lagen andere Bureaus. In dem seinen arbeiteten acht Angestellte und der Vorgesetzte, der in der Ecke hinter einem Wandschirm saß.

Duroy ging zuerst, seine 118 Francs und 25 Centimes abzuholen, die in einem gelben Briefumschlag in der Schublade des Kassierers bereitlagen. Dann trat er übermütig und triumphierend in den Arbeitsraum, wo er so manchen Tag verbracht hatte. Kaum war er eingetreten, da rief ihn sein Vorgesetzter, Herr Potel:

»Ach, Sie sind es, Herr Duroy? Der Chef hatte mehrfach nach Ihnen gefragt. Sie wissen doch, dass es nicht gestattet ist, zwei Tage nacheinander krankheitshalber ohne ärztliches Attest fortzubleiben.«

Duroy stand mitten im Zimmer und bereitete seine Überraschung vor. Er antwortete mit lauter Stimme:

»Ich pfeife darauf, wahrhaftig!«

Unter den Beamten schlug das wie eine Bombe ein, und das verblüffte Gesicht des Herrn Potel tauchte über dem Wandschirm auf, der ihn wie ein Kasten umgab. Er litt an Rheumatismus und hatte sich aus Furcht vor Zugluft dahinter verbaut. Er hatte nur zwei Löcher durch das Papier gebohrt, um sein Personal zu überwachen.

Es war so still, dass man die Fliegen summen hörte. Endlich fragte der Vorsteher zögernd:

»Was sagten Sie?«

»Ich sagte, ich pfeife darauf. Ich komme heute nur, um meine Entlassung zu nehmen. Ich habe eine Stellung als Redakteur der ›Vie Française‹ angenommen mit 500 Francs monatlichem Gehalt und besonderem Zeilenhonorar. Heute früh wurde schon mein erster Artikel veröffentlicht.

Er hatte sich zwar vorgenommen, das Vergnügen in die Länge zu ziehen, konnte jedoch nicht dem Drang widerstehen, ihnen alles auf einmal an den Kopf zu werfen. Übrigens war die Wirkung großartig; niemand wagte einen Ton von sich zu geben.

Darauf erklärte Duroy:

»Ich werde Herrn Perthuis benachrichtigen und mich dann verabschieden.«

Damit ging er zum Bureau-Chef. Als dieser ihn erblickte, rief er aus:

»Ah, da sind Sie, Sie wissen doch, ich wünsche nicht ...«

Duroy unterbrach ihn:

»Sie können sich Ihr Geschrei ersparen ...«

Herr Perthuis, ein dicker Mann, dessen Gesicht rot wie ein Hahnenkamm wurde, erstickte fast vor Überraschung. Duroy fuhr fort:

»Ich habe genug von Ihrer Bude, heute morgen habe ich mich als Journalist eingeführt und bereits eine glänzende Stellung gefunden. Ich empfehle mich!«

Er ging hinaus. Er war gerächt.

Er ging dann wirklich hin, um seinen bisherigen Kollegen die Hand zu schütteln. Sie wagten übrigens kaum mit ihm zu sprechen, aus Angst, sich zu kompromittieren, denn sie hatten durch die offene Tür seine ganze Unterhaltung mit dem Chef gehört.

Nun stand er wieder auf der Straße mit seinem Gehalt in der Tasche. Er leistete sich ein üppiges Frühstück in einem guten Restaurant zu mäßigen Preisen, das er kannte. Dann kaufte er sich wieder die ›Vie Française‹ und ließ sie auf dem Tisch liegen, an dem er gegessen hatte. Er ging in mehrere Läden und kaufte sich Kleinigkeiten, nur um sie sich schicken zu lassen und seinen Namen anzugeben — ›Georges Duroy‹. Dann fügte er hinzu: »Ich bin Redakteur der ›Vie Française‹. Dann nannte er Straße und Hausnummer und vergaß nie, zu bemerken:

»Geben Sie die Sachen beim Concierge ab.«

Da er noch genügend Zeit hatte, ging er in eine lithographische Anstalt, wo Besuchskarten in ein paar Minuten angefertigt wurden, während man darauf wartete. Er ließ sich sofort 100 Stück herstellen, die seinen Namen und seine neue Würde trugen.

Dann begab er sich in die Redaktion.

Forestier empfing ihn wie einen Untergebenen etwas von oben herab.

»Ah! da bist du, das ist sehr gut. Ich habe gerade ein paar Sachen für dich. Warte zehn Minuten. Ich muss noch meine Arbeit beenden.«

Er schrieb einen begonnenen Brief zu Ende. Am andern Ende des Tisches saß ein kleiner, sehr dicker Mann mit ganz flachem, aufgedunsenem Gesicht. Sein Kopf war völlig kahl und glänzte. Er war sehr kurzsichtig und schrieb, die Nase dicht ans Papier gedrückt.

Forestier fragte ihn:

»Sag' mal, Saint-Potin, um welche Zeit willst du unsere Leute interviewen?«

»Um vier Uhr.«

»Dann kannst du hier den jungen Duroy mitnehmen und ihn in die Geheimnisse des Berufes einweihen.«

»Sehr gern.«

Nun wandte sich Forestier zu seinem Freund und fuhr fort:

»Hast du die Fortsetzung über Algier mitgebracht? Der Anfang hat heute einen großen Erfolg gehabt.«

Duroy stotterte verlegen: »Nein ... ich dachte, es hätte Zeit bis heute Nachmittag ... ich hatte die Hände voll zu tun ... ich bin noch nicht dazu gekommen ...«

Der andere zuckte missvergnügt die Achseln.

»Wenn du nicht zuverlässiger bist als jetzt, wirst du dir deine Zukunft verderben. Vater Walter rechnete auf dein Manuskript. Ich sage ihm, du bringst es morgen. Du bist sehr im Irrtum, wenn du glaubst, du wirst hier bezahlt, um nichts zu tun.«

Nach einer Pause setzte er hinzu. »Zum Teufel, man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist.«

Saint-Potin stand auf.

»Ich bin fertig!« sagte er.

Dann lehnte sich Forestier in seinen Stuhl zurück, nahm eine feierliche Haltung an, um seine Weisungen zu geben und begann, sich an Duroy wendend:

»Also: wir haben in Paris seit zwei Tagen den chinesischen General Li-Theng-Fao, der im Hotel Continental abgestiegen ist, und den Rajah Taposahib Ramaderao Pali, der im Hotel Bristol wohnt. Ihr werdet die beiden um eine Unterredung ersuchen.«

 

Dann wandte er sich zu Saint-Potin:

»Vergiss nicht die hauptsächlichsten Punkte, die ich dir angegeben habe. Frage den General und den Rajah nach ihrer Meinung über die politische Haltung Englands im Fernen Osten, nach ihrer Auffassung über das Regierungssystem und die Kolonisation, und nach ihren Hoffnungen auf ein Eingreifen Europas, insbesondere Frankreichs, in ihre Angelegenheiten.«

Er schwieg, dann setzte er, ins Leere sprechend, hinzu:

»Für unsere Leser wird es natürlich ungeheuer interessant sein, zu erfahren, wie man in China und Indien über diese Fragen denkt, die augenblicklich bei uns die öffentliche Meinung so lebhaft beschäftigen.«

Und zu Duroy gewendet:

»Achte genau auf alles, was Saint-Potin tut; er ist ein ausgezeichneter Reporter, und von ihm kannst du lernen, wie man in fünf Minuten aus einem Menschen alles herausholt, was man wissen will.«

Dann begann er wieder höchst würdig zu schreiben, mit der offenbaren Absicht, die Distanz zu wahren und seinem ehemaligen Kameraden und jetzigen Kollegen den richtigen Platz anzuweisen.

Kaum waren sie über die Schwelle, so sagte Saint-Potin lachend zu Duroy:

»Das ist ein Wichtigtuer. Er spielt uns Theater vor, als ob wir seine Leser wären.«

Sie gingen den Boulevard hinab und der Reporter fragte:

»Trinken Sie etwas?«

»Ja, gern, es ist sehr heiß heute.«

Sie gingen in ein Café und ließen sich etwas Erfrischendes bringen; und Herr Saint-Potin begann zu reden und wusste über die Zeitung und über jedermann eine Fülle erstaunlicher Einzelheiten zu erzählen.

»Der Chef? Der richtige Jude! Die Juden kann man nie ummodeln. Das ist eine Rasse!« Und er führte die merkwürdigsten Beispiele von seinem Geiz an, diesen eigentümlichen Geiz der Kinder Israels, der sich um zehn Centimes streitet, mit der Köchin schachert, in schamlosester Weise Abzüge bei Zahlungen durchsetzt und auf Pfänder leiht und wuchert.

»Dabei ist er ein pfiffiger Kopf, der an nichts glaubt und alle Welt übers Ohr haut. Seine Zeitung ist offiziös, katholisch, liberal, republikanisch und orleanistisch zugleich, ein Kramladen für alles; er hat sie nur gegründet, um seine Börsenspekulationen und sonstigen Unternehmungen zu stützen. Darin ist er großartig; er verdient Millionen durch Gesellschaften, die nicht vier Sous Kapital haben.«

So ging es weiter, wobei er Duroy immer »Mein lieber Freund« nannte.

»Und dabei hat dieser Geizhals Ausdrücke wie Balzac. Denken Sie, neulich war ich in seinem Arbeitszimmer, mit dem alten Narren de Norbert und diesem Don Quichotte Rival; da kommt Montelin, unser Verwalter, mit seiner Aktenmappe aus Saffian-Leder, die ganz Paris übrigens kennt. Walter hob die Nase und fragte: ›Was gibt es Neues?‹ Montelin erwiderte ganz harmlos: ›Ich habe gerade die siebzehntausend Francs bezahlt, die wir dem Papierlieferanten schuldeten.‹ Da sprang der Chef wütend in die Höhe:

›Was sagten Sie?‹

›Ich habe eben Herrn Privas bezahlt.‹

›Sie sind wohl verrückt?‹

›Wieso?‹

›Wieso ... wieso ... wieso!‹ Er nahm seine Brille ab und putzte die Gläser. Dann verzog er das Gesicht zu einem sonderbaren Lächeln, das jedesmal seine dicken Backen umspielt, wenn er ein boshaftes oder kräftiges Wort sagen will, und dann sagte er mit spöttischem, überzeugtem Ton: ›Wieso? Wir hätten darauf noch einen Rabatt von viertausend bis fünftausend Francs erzielen können!‹

Montelin entgegnete erstaunt: ›Aber Herr Direktor, sämtliche Rechnungen waren in Ordnung. Sie waren von mir nachgeprüft und von Ihnen für richtig befunden.‹

Der Chef war wieder ernst geworden; er erklärte:

›Nicht alle sind so naiv wie Sie. Merken Sie sich, Herr Montelin, man muss hohe Schulden stets anwachsen lassen, um sie nachher herunterhandeln zu können.‹

Saint-Potin setzte mit dem erhabenen Gesicht eines Kenners hinzu:

»Na, ist das nicht der reine Balzac?«

Duroy hatte nie Balzac gelesen, aber er antwortete mit Überzeugung: »Weiß der Teufel, ja.«

Dann erzählte der Reporter über Madame Walter. Er nannte sie eine dumme Pute, Norbert de Varenne einen alten Narren und Rival eine Neuauflage von Fervacques.

Endlich war er bei Forestier angelangt:

»Was diesen Mann angeht, er hatte nur das Glück, seine Frau geheiratet zu haben. Das ist alles!«

Duroy fragte:

»Was ist eigentlich seine Frau?«

Saint-Potin rieb sich die Hände: »Oh, ein ganz gerissenes und raffiniertes Weib! Sie ist die Mätresse eines alten Lebemannes namens Vaudrec, Graf de Vaudrec, der ihr eine Mitgift gegeben und sie verheiratet hat.«

Duroy überfiel plötzlich ein Gefühl der inneren Kälte, eine Art Nervenkrampf; er hatte das Verlangen, diesen Schwätzer zu beschimpfen und zu ohrfeigen. Aber er unterbrach ihn einfach mit der Frage:

»Ist Saint-Potin Ihr richtiger Name?«

»Nein«, erwiderte der andere ruhig, »ich heiße Thomas. Für die Zeitung führe ich den Beinamen Saint-Potin.«

Duroy beglich die Zeche und sagte:

»Mir scheint, es ist spät geworden und wir haben noch die beiden hohen Herrschaften zu besuchen?«

Saint-Potin begann zu lachen:

»Sie sind noch sehr naiv. Glauben Sie denn wirklich, ich ginge zu diesem Chinesen und Inder fragen, was sie über England denken? Ich weiß es viel besser als sie, was sie für die Leser der ›Vie Française‹ denken müssen. Ich habe schon gegen fünfhundert von diesen Chinesen, Persern, Indern, Chilenen, Japanern und dergleichen interviewt. Nach meiner Meinung antworten sie immer dasselbe. Ich brauche nur meinen Artikel vom letzten Mal nachzusehen und ihn Wort für Wort abzuschreiben, es ändern sich nur ihr Aussehen, ihr Name, ihre Titel, ihr Alter, ihr Gefolge. Oh, dabei darf kein Irrtum unterlaufen, sonst würden mich der ›Figaro‹ oder der ›Gaulois‹ einfach festnageln. Doch wird mich der Portier des Hotels Bristol und Continental über alles das in fünf Minuten aufs genaueste aufgeklärt haben. Wir rauchen noch eine Zigarre und gehen dann zu Fuß hin. Und nachher berechnen wir der Zeitung hundert Sous Droschkenspesen. So machen's, mein Lieber, die praktischen Leute.«

Duroy fragte: »Es muss sehr viel einbringen, unter solchen Bedingungen Reporter zu sein.«

Der Journalist antwortete geheimnisvoll: »Jawohl, aber nichts bringt soviel ein wie die Lokalnachrichten wegen der verschleierten Reklame!«

Sie standen auf und gingen den Boulevard herunter, der Madeleine zu. Plötzlich sagte Saint-Potin zu seinem Begleiter :

»Wissen Sie, wenn Sie noch etwas vorhaben, brauche ich Sie nicht mehr.«

Duroy drückte ihm die Hand und ging. Der Gedanke an den Artikel, den er abends noch schreiben sollte, gab ihm keine Ruhe, und er begann darüber nachzudenken. Er suchte nach neuen Ideen, Einfällen, nach Anekdoten und Schilderungen und gelangte schließlich zur Avenue des Champs Elysées, wo er nur vereinzelte Spaziergänger erblickte, denn Paris war zu dieser heißen Jahreszeit fast unbelebt.

Er aß in einer Weinstube in der Nähe der Arc de Triomphe de l'Etoile, ging über die äußeren Boulevards langsam nach Hause und setzte sich an den Schreibtisch, um zu arbeiten. Doch sobald er den großen weißen Bogen Papier vor Augen hatte, entfloh ihm all der Stoff, den er in Gedanken gesammelt hatte, und es war so, als ob sein Gehirn sich verflüchtigt hätte. Er versuchte, Einzelheiten aus seinen Erinnerungen hervorzuholen und sie festzuhalten. Aber auch sie entschlüpften ihm, sobald er ihrer habhaft werden wollte; er wusste nicht, wie er sich ausdrücken und womit er beginnen sollte.

Nach einer Stunde vergeblicher Anstrengung waren fünf Seiten vollgeschmiert. Es waren aber nur Einleitungssätze und auch diese ohne jeden inneren Zusammenhang. Er sagte sich: »Ich bin in dem Beruf noch nicht genug bewandert, ich muss eine neue Lektion nehmen.« Und sofort machte ihn die Aussicht auf einen neuen Arbeitsmorgen bei Madame Forestier und die Hoffnung auf ein langes intimes und herzliches Beisammensein vor Sehnsucht erzittern. Er ging rasch zu Bett, denn er fürchtete fast, es könnte ihm plötzlich doch gelingen, wenn er sich nochmals an die Arbeit setzte. Am nächsten Morgen stand er ziemlich spät auf und genoss im voraus die Freude dieses Besuches, den er absichtlich hinausschob.