Walpurgisnacht

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Walpurgisnacht
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Gustav Meyrink

Walpurgisnacht

Walpurgisnacht, in der die alten Werte in erster Linie durch Hexen und übernatürliche dunkle Kräfte zerstört

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Schauspieler Zrcadlo

Die neue Welt

Hungerturm

Im Spiegel

Aweysha

Jan Zizka von Trocnov

Abschied

Die Reise nach Pisek

Die Trommel Luzifers

Impressum neobooks

Der Schauspieler Zrcadlo

Ein Hund schlug an.

Einmal. Ein zweites Mal.

Dann lautlose Stille, als ob das Tier in die Nacht hineinhorche, was

geschehen werde.

"Mir scheint, der Brock hat gebellt", sagte der alte Baron Konstantin

Elsenwanger, "wahrscheinlich kommt der Herr Hofrat."

"Das ist doch, meiner Seel', kein Grund nicht zum Bellen", warf die Gräfin

Zahradka, eine Greisin mit schneeweißen Ringellocken, scharfer Adlernase

und buschigen Brauen über den großen, schwarzen, irrblickenden Augen,

streng hin, als ärgere sie sich über eine solche Ungebührlichkeit, und mischte

einen Stoß Whistkarten noch schneller, als sie es ohnehin bereits eine halbe

Stunde hindurch getan hatte.

"Was macht er eigentlich so den ganzen lieben Tag lang?" fragte der

kaiserliche Leibarzt Thaddäus Flugbeil, der mit seinem klugen, glattrasierten,

faltigen Gesicht über dem altmodischen Spitzenjabot wie ein schemengleicher

Ahnherr der Gräfin gegenüber in einem Ohrenstuhl kauerte, die unendlich

langen, dürren Beine affenhaft fast bis zum Kinn emporgezogen.

Den "Pinguin" nannten ihn die Studenten auf dem Hradschin und lachten

immer hinter ihm drein, wenn er Schlag 12 Uhr mittags vor dem Schloßhof in

eine geschlossene Droschke stieg, deren Dach erst umständlich auf- und

wieder zugeklappt werden mußte, bevor seine fast zwei Meter hohe Gestalt

darin Platz gefunden hatte. – Genauso kompliziert war der Vorgang des

Aussteigens, wenn der Wagen sodann einige hundert Schritte weiter vor dem

Gasthaus "Zum Schnell" haltmachte, wo der Herr kaiserliche Leibarzt mit

ruckweisen, vogelhaften Bewegungen ein Gabelfrühstück aufzupicken pflegte.

"Wen meinst du", fragte der Baron Elsenwanger zurück, "den Brock oder

den Herrn Hofrat?"

"Den Herrn Hofrat natürlich. Was macht er so den ganzen Tag?"

"No. Er spielt sich halt mit den Kindern in den Choteks-Anlagen."

"Mit 'die' Kinder", verbesserte der Pinguin.

"Er – spielt – sich – mit – denen – Kindern", fiel die Gräfin verweisend ein

und betonte jedes Wort mit Nachdruck. Die beiden alten Herren schwiegen

beschämt.

Wieder schlug der Hund im Park an. Diesmal dumpf, fast heulend.

Gleich darauf öffnete sich die geschweifte, dunkle, mit einer Schäferszene

bemalte Mahagonitür, und der Herr Hofrat Kaspar Edler von Schirnding trat

ein – wie gewöhnlich, wenn er zur Whistpartie ins Palais Elsenwanger kam,

mit engen schwarzen Hosen angetan und den ein wenig rundlichen Leib in

einen Biedermeiergehrock von hellem Braun aus wunderbar weichem Tuch

gehüllt. Hastig wie ein Wiesel und ohne ein Wort zu verlieren, lief er auf einen

Sessel zu, stellte seinen gradkrempigen Zylinderhut darunter auf den Teppich

und küßte sodann der Gräfin zeremoniell die Hand zur Begrüßung.

"Warum er jetzt noch immer bellt?" brummte der Pinguin nachdenklich.

"Diesmal meint er den Brock", erläuterte die Gräfin Zahradka mit einem

zerstreuten Blick auf Baron Elsenwanger.

"Herr Hofrat sehen so schweißbedeckt aus. Daß Sie sich nur nicht

verkühlen!" rief dieser besorgt, machte eine Pause und krähte dann plötzlich in

arienhaften Schwingungen in das finstere Nebenzimmer, das sich daraufhin

wie durch Zauberschlag erhellte:

"Božena, Božena, Bo–schenaah, bitt' Sie, bring Sie, prosim, das Supperläh!"

Die Gesellschaft begab sich in den Speisesaal und nahm um den großen

Eßtisch herum Platz.

Nur der Pinguin stolzierte steif an den Wänden entlang, betrachtete

bewundernd, als sähe er sie heute zum erstenmal, die Kampfszenen zwischen

David und Goliath auf den Gobelins und betastete die prachtvollen,

geschweiften Maria-Theresia-Möbel mit Kennerhänden.

"Ich war unten! In der Welt!" platzte der Hofrat von Schirnding heraus und

betupfte seine Stirn mit einem riesigen, rot-gelb-gefleckten Taschentuch. "Und

bei der Gelegenheit hab' ich mir die Haare schneiden lassen." – er fuhr sich mit

dem Finger hinter den Kragen, als jucke ihn der Hals.

Derartige auf einen angeblich nur schwer zu bändigenden Haarwuchs

abzielende Bemerkungen pflegte er jedes Vierteljahr zu machen, in dem Wahn,

man wisse nicht, daß er Perücken trage – einmal langlockige, dann wieder

kurzgeschorene –, und immer bekam er auch in solchen Fällen staunenerfülltes

Gemurmel zu hören. Aber diesmal blieb es aus: Die Herrschaften waren zu

verblüfft, als sie vernahmen, wo er gewesen sei.

"Was? Unten? In der Welt? In Prag? Sie?" Der kaiserliche Leibarzt Flugbeil

war erstaunt herumgefahren. "Sie?"

Den beiden anderen blieb der Mund offen. "In der Welt! Unten! In Prag!"

"Da – da haben Sie ja ieber die Brücke missen!" brachte die Gräfin endlich

stockend heraus. "Was denn, wenn sie eingestirzt wäre?!"

"Eingestirzt!! No servus!" krächzte Baron Elsenwanger und wurde blaß.

"Unberufen" – er ging zittrig zur Ofennische, vor der noch aus der Winterszeit

her ein Scheit Holz lag, nahm es, spuckte dreimal darauf und warf es in den

kalten Kamin – "Unberufen."

Božena, das Dienstmädchen, in zerlumpten Kittel, ein Kopftuch um und

barfuß, wie es in altmodischen Prager Patrizierhäusern üblich ist, brachte eine

prunkvolle Schüssel aus schwerem getriebenem Silber herein.

"Aha! Wurstsuppe!" brummte die Gräfin und ließ befriedigt ihre Lorgnette

fallen. – Sie hatte die Finger des Mädchens, die in viel zu weiten, weißen

Glacéhandschuhen staken und in die Brühe hineinhingen, für Würste gehalten.

"Ich bin mit – der Elektrischen gefahren", stieß der Herr Hofrat gepreßt

hervor, immer noch voll Aufregung des überstandenen Abenteuers eingedenk.

Die anderen wechselten einen Blick: Sie fingen an, seine Worte zu

bezweifeln. Nur der Leibarzt zeigte ein steinernes Gesicht.

"Ich war vor dreißig Jahren das letztemal unten – in Prag!" stöhnte der Baron

Elsenwanger und band sich kopfschüttelnd die Serviette um; die beiden Zipfel

standen hinter seinen Ohren hervor und verliehen ihm das Aussehen eines

furchtsamen, großen, weißen Hasen. "Damals, als mein Bruder selig in der

Teinkirche beigesetzt wurde."

"Ich war ieberhaupt mein Lebtag noch nicht in Prag", erklärte Gräfin

Zahradka schaudernd. "Das könnt' mich so haben! – Wo sie meine Vorfahren

auf dem Altstädter Ring hingerichtet haben!"

"Nun, das war damals im Dreißigjährigen Krieg, Gnädigste", suchte sie der

Pinguin zu beruhigen. "Das ist schon lange her."

"Ach was – ich denk' es noch wie heite. Ieberhaupt die verfluchten Preißen!"

– Die Gräfin starrte geistesabwesend in ihren Suppenteller, befremdet, daß

keine Würste darin waren; dann funkelte sie durch ihre Lorgnette über den

Tisch, ob die Herren sie ihr vielleicht weggeschnappt hätten.

Einen Augenblick lang versank sie in tiefes Nachdenken und murmelte vor

sich hin: "Blut, Blut. Wie das herausspritzt, wenn man einem Menschen den

Kopf abhaut. – – – Daß Sie sich nicht gefirchtet haben, Herr Hofrat?! Was,

wenn Sie unten in Prag den Preißen in die Hände gefallen wären?" fuhr sie

laut, zu dem Edlen von Schirnding gewendet, fort.

"Den Preißen? – Wir gehen doch jetzt Hand in Hand mit den Preißen!"

"So? Ist der Krieg also endlich aus! No ja, der Windischgrätz, der hat's ihnen

halt wieder amal gegeben."

"Nein, Gnädigste, wir sind mit die Preißen" – meldete sich der Pinguin –

"will sagen: mit 'denen' Preißen – schon seit drei Jahren gegen die Russen

verbündet und –" ("Ver–bin–dät!" – bekräftigte der Baron Elsenwanger. –) "–

und kämpfen Schulter an Schulter mit ihnen. – Er ist – – –" Er brach höflich

ab, als er das ironische, ungläubige Lächeln der Gräfin bemerkte.

Das Gespräch stockte, und man hörte eine halbe Stunde lang nur noch das

Klappern der Messer und Gabeln oder das leise klatschende Geräusch, wenn

Božena mit ihren nackten Füßen um den Tisch herumging und neue Speisen

auftrug. – – –

Baron Elsenwanger wischte sich den Mund: "Herrschaften! Wollen wir jetzt

 

zum Whist – –?"

Ein dumpfes, langgezogenes Geheul klang durch die Sommernacht aus dem

Garten herauf und schnitt ihm die Rede ab – – –:

"Jesus, Maria – ein Vorzeichen! Der Tod ist im Haus!" –

"Brock! Mistvieh, verflucht's. Kusch dich!" hörte man die halblaute Stimme

eines Dieners unten im Park schimpfen, als der Pinguin die schweren

Atlasvorhänge beiseite geschoben und die Glastür dahinter, die auf die

Veranda führte, geöffnet hatte. –

Eine Flut von Mondlicht ergoß sich in das Zimmer, und kühler Luftzug voll

Akazienduft machte die Kerzenflammen in den gläsernen Kronleuchtern

flackern und schwelen.

Auf dem kaum handbreiten Sims der hohen Parkmauer, hinter der ein

Dunstmeer aus dem tief unten jenseits der Moldau schlummernden Prag

rötlichen Dunst empor zu den Sternen hauchte, schritt langsam und aufrecht

ein Mann, die Hände tastend vorgestreckt wie ein Blinder – bald gespenstisch

halb verdeckt durch die silhouettenhafte Schlagschatten der Baumäste, daß es

schien, als sei er aus glitzerndem Mondlicht geronnen, dann wieder grell

beschienen, wie frei schwebend über dem Dunkel.

Der kaiserliche Leibarzt Flugbeil traute seinen Augen nicht: Eine Sekunde

lang glaubte er, er träume, dann brachte ihn das plötzliche, wütende Aufbellen

des Hundes zur Besinnung – er hörte einen gellenden Schrei, sah die Gestalt

auf dem Sims schwanken und, wie von einem lautlosen Windstoß weggeweht,

verschwinden.

Das Prasseln und Brechen von Zweigen und Gebüsch verriet ihm, daß der

Mann in den Garten gefallen war. –

"Mörder, Einbrecher! – Man muß die Wache holen!" zeterte der Edle von

Schirnding, der auf den Schrei hin mit der Gräfin aufgesprungen und zur Tür

geeilt war.

Konstantin Elsenwanger hatte sich wimmernd auf die Knie geworfen, das

Gesicht in den Sitzpolstern seines Lehnstuhls vergraben, und betete, in den

gefalteten Händen noch ein gebratenes Hühnerbein, das Vaterunser.

Auf die schrillen Befehle des kaiserlichen Leibarztes, der wie ein riesiger

nächtlicher Vogel mit federlosen Flügelstümpfen von der Verandabrüstung

hinab in die Finsternis gestikulierte, kam die Dienerschaft aus dem

Portierhäuschen in den Park gelaufen und durchsuchte mit Windlichtern, wild

durcheinanderrufend, die dunklen Bosketts. Der Hund schien den Eindringling

gestellt zu haben, denn er bellte laut und anhaltend in regelmäßigen

Intervallen.

"No alsdann, was ist denn, habts den preißischen Kosaken endlich?" zürnte

die Gräfin, die von Anfang an nicht die Spur von Aufregung oder Angst

gezeigt hatte, durch ein offenes Fenster hinunter.

"Heilige Muttergottes, er hat den Hals gebrochen!" hörte man das

Dienstmädchen Božena jammernd aufkreischen; dann trugen die Leute den

leblosen Körper eines Menschen von dem Fuß der Mauer her in den

Lichtschein, den das helle Zimmer hinaus auf den Rasenplatz warf.

"Bringt ihn herauf! Rasch! Bevor er verblutet", befahl die Gräfin kalt und

ruhig, ohne auf das Gewinsel des Hausherrn zu achten, der entsetzt dagegen

protestierte und verlangte, man solle den Toten über die Mauern den Abhang

hinunterwerfen – – ehe er wieder lebendig werden könne.

"Bringt ihn wenigstens hier hinein ins Bilderzimmer", flehte Elsenwanger,

drängte die Greisin und den Pinguin, der einen der brennenden Armleuchter

ergriffen hatte, in den Ahnensaal und verschloß die Tür hinter ihnen.

Außer ein paar geschnitzten Stühlen mit hohen vergoldeten Lehnen und

einem Tisch standen keinerlei Möbel in dem langgezogenen, gangartigen

Raum – der dumpfe morsche Geruch und die Staubschicht auf dem Steinboden

verrieten, daß er nie gelüftet wurde und seit langem nicht mehr betreten

worden war.

Die lebensgroßen Gemälde darin waren ohne Rahmen in die Täfelungen der

Wände eingelassen: Porträts von Männern in Lederkollern, Pergamentrollen

gebieterisch in den Händen haltend – Frauen dazwischen mit Stuartkragen und

Puffen an den Ärmeln – ein Ritter in weißem Mantel mit Malteserkreuz, eine

aschblonde junge Dame im Reifrock, Schönheistpflästerchen auf Wange und

Kinn, ein grausames, wollüstig-süßes Lächeln in den verderbten Zügen, mit

wundervollen Händen, schmaler, gerader Nase, feingeschnittenen Nüstern und

feinen, hochgeschwungenen Brauen über den grünlichen Augen – eine Nonne

im Habit der Barnabiterinnen – ein Page – ein Kardinal mit asketischen,

mageren Fingern, bleigrauen Lidern und versunkenem, farblosem Blick. So

standen sie in ihren Nischen, daß es aussah, als kämen sie aus dunklen Gängen

herbei ins Zimmer, aufgeweckt nach jahrhundertelangem Schlaf infolge des

flackernden Glanzes der Kerzen und der Unruhe im Haus. – Bald schienen sie

sich heimlich verbeugen zu wollen voll Vorsicht, daß nicht ein Rascheln der

Kleider sie verrate – schienen die Lippen zu bewegen und lautlos wieder zu

schließen, mit den Fingern zu zucken oder die Mienen hochzuziehen, um

sofort in Starrheit zu versinken, als hielten sie den Atem an und ließen ihr Herz

stillstehen, wenn der Blick der beiden Lebenden sie flüchtig streifte.

"Sie werden ihn nicht retten können, Flugbeil", sagte die Gräfin und sah

wartend unverwandt zur Tür. "Es ist wie damals. Wissen Sie! Er hat den Dolch

im Herzen stecken. – Sie werden wieder sagen: Hier ist leider jede

menschliche Kunst am Ende."

Der kaiserliche Leibarzt verstand im ersten Moment nicht, was sie meinte.

Dann begriff er mit einemmal. – Er kannte das an ihr. Sie verwechselte die

Vergangenheit mit der Gegenwart – pflegte dergleichen zuweilen zu tun.

Dasselbe Erinnerungsbild, das ihr Gedächtnis verwirrte, wurde plötzlich

auch in ihm lebendig: Vor vielen, vielen Jahren hatte man in ihrem Schloß auf

dem Hradschin ihren Sohn erstochen ins Zimmer hineingetragen. Und vorher

ein Schrei im Garten, das Bellen eines Hundes – alles genau wie heute. Wie

jetzt hier im Raum waren auch damals Ahnenbilder an den Wänden gehangen

und war ein silberner Armleuchter auf dem Tisch gestanden. – Einen

flüchtigen Augenblick lang war der Leibarzt so verwirrt, daß er nicht mehr

wußte, wo er war. Die Erinnerung hielt ihn so gefangen, daß es ihm gar nicht

wie Wirklichkeit vorkam, als man den Verunglückten zur Tür hereinbrachte

und vorsichtig niederlegte. Er suchte unwillkürlich nach Worten des Trostes

für die Gräfin wie einst, bis ihm mit einem Schlag klar bewußt wurde, daß es

doch nicht ihr Sohn war, der hier lag, und daß statt ihrer jugendlichen

Erscheinung von damals eine Greisin mit weißen Ringellocken am Tisch stand.

Eine Erkenntnis, schneller als ein Gedanke und schneller, als daß er sie

richtig hätte erfassen können, durchzuckte ihn und ließ das dumpfe, rasch

verdämmernde Gefühl in ihm zurück, daß die "Zeit" nichts als eine diabolische

Komödie sei, die ein allmächtiger unsichtbarer Feind dem menschlichen

Gehirn vorgaukelt.

Nur die einzige Furcht blieb ihm als Ernte: daß er blitzartig mit dem inneren

Empfinden einen Moment lang begriffen hatte – was er früher niemals richtig

zu verstehen fähig gewesen war –, nämlich die seltsamen befremdlichen

Seelenzustände der Gräfin, die bisweilen sogar historische Ereignisse aus der

Zeit ihrer Ahnen als gegenwärtig empfand und mit ihrem Alltagsleben

unentwirrbar zu verknüpfen pflegte.

Er empfand es wie einen unwiderstehlichen Zwang, daß er sagen mußte:

Wasser bringen! Verbandzeug! – daß er sich wieder, wie damals, herabbeugte

und nach den Aderlaßschnepper in seiner Brusttasche griff, den er aus alter,

längst überflüssig gewordener Gewohnheit immer bei sich trug.

Erst als der Atemhauch aus dem Munde des Ohnmächtigen seine prüfenden

Finger traf und sein Blick zufällig auf die nackten, weißen Schenkel Boženas

fiel, die mit der den böhmischen Bauernmädchen eigentümlichen, schamfreien

Ungeniertheit sich mit emporgerutschtem Rock niedergekauert hatte, um

besser sehen zu können – kam er wieder völlig ins Gleichgewicht: Das Bild der

Vergangenheit löste sich angesichts der fast schreckhaften Gegensätze

zwischen blühendem jungen Leben, der Totenstarre des Bewußtlosen, den

schemenhaften Gestalten der Ahnengemälde und den greisenhaft gefurchten

Zügen der Gräfin wie ein verdunstender Schleier von der Gegenwart.

Der Kammerdiener stellte den Leuchter mit den brennenden Kerzen auf den

Boden, und ihr Schein erhellte das eigentümlich charakteristische Gesicht des

Verunglückten, der – die Lippen unter dem Einfluß der Ohnmacht aschfarben

und widernatürlich abstechend von den grellrot geschminkten Wangen – eher

der wächsernen Figur einer Schaubude als einem Menschen glich.

"Heiliger Wenzel, es ist der Zrcadlo!" rief das Dienstmädchen und zog – wie

unter der Empfindung, als habe das Pagenporträt in der Wandnische infolge

des Lichtflackerns plötzlich ein begehrliches Auge auf sie geworfen – züchtig

ihren Rock über die Knie.

"Wer ist's?" fragte die Gräfin erstaunt.

"Der Zrcadlo – der 'Spiegel'", erklärte der Kammerdiener, den Namen

Zrcadlo aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzend, "mir nennt ihn so

hier heroben auf dem Hradschin, aber mir weiß nicht, ob er wirklich so heißt. –

Er ise sich Aftermeister bei der – –" er stockte verlegen, "bei der – no, halt bei

der 'böhmischen Liesel'."

"Bei wem?"

Das Dienstmädchen kicherte in den vorgehaltenen Arm, und auch das übrige

Gesinde verbiß mühsam das Lachen. Die Gräfin stampfte mit dem Fuße auf:

"Bei wem, will ich wissen!"

"Die 'böhmische Liesel' war in früheren Jahren eine berühmte – – Hetäre",

nahm der Leibarzt das Wort und richtete sich an dem Verunglückten auf, der

bereits die ersten Lebenszeichen von sich gab und mit den Zähnen knirschte.

"Ich wußte gar nicht, daß sie noch lebt und sich auf dem Hradschin

herumtreibt; sie muß ja uralt sein. Sie wohnt wohl – –" – – "in der Totengasse,

da, wo die schlechten Madeln alle beisamm' sind", bekräftigte Božena eifrig.

"So geh sie das Frauenzimmer holen!" befahl die Gräfin. Dienstbeflissen

eilte das Mädchen hinaus.

Inzwischen hatte sich der Mann aus seiner Betäubung erholt, starrte eine

Weile in die Kerzenflammen und stand dann langsam auf, ohne die geringste

Notiz von seiner Umgebung zu nehmen.

"Glaubt ihr, daß er hat einbrechen wollen?" fragte die Gräfin halblaut das

Gesinde.

Der Kammerdiener schüttelte den Kopf und tupfte sich vielsagend auf die

Stirn, um anzudeuten, daß er ihn für wahnsinnig halte.

"Meines Erachtens handelt es sich um einen Fall von Schlafwandeln",

erklärte der Pinguin. "Solche Kranke pflegen bei Vollmond von einem

unerklärlichen Wandertrieb befallen zu werden, in dem sie dann, ohne sich

dessen bewußt zu sein, allerhand seltsame Handlungen begehen, Bäume,

Häuser und Mauern erklettern und oft auf den schmalsten Stegen und in

schwindelnder Höhe, zum Beispiel auf Dachrinnen, mit einer Sicherheit

einherzuschreiten, die ihnen bestimmt mangeln würde, wenn sie wach wären. –

– Holla, Sie, Pane Zrcadlo", wandte er sich an den Patienten, "glauben Sie,

sind Sie jetzt so weit bei sich, daß Sie nach Hause gehen können?"

Der Mondsüchtige gab keine Antwort; trotzdem schien er die Frage gehört,

wenn auch nicht verstanden zu haben, denn er drehte langsam den Kopf nach

dem kaiserlichen Leibarzt und blickte ihm mit leeren, unbeweglichen Augen

ins Gesicht.

Der Pinguin fuhr unwillkürlich zurück, strich sich ein paarmal nachdenklich

über die Stirn, als stöberte er in seinen Erinnerungen, und murmelte: "Zrcadlo?

Nein. Der Name ist mir fremd. – Aber ich kenne diesen Menschen doch! – Wo

hab' ich ihn nur gesehen?!"

Der Eindringling war hochgewachsen, hager und dunkelhäutig; langes,

trockenes, graues Haar hing ihm wirr um den Schädel. Das schmale, bartlose

Gesicht mit der scharfgeschnittenen Hakennase, der fliehenden Stirn, den

eingesunkenen Schläfen und dem verkniffenen Lippen, dazu die Schminke auf

den Wangen und der schwarze, abgetragene Samtmantel – alles das wirkte

durch die Schroffheit des Widerspiels, als habe ein wüster Traum und nicht das

Leben selbst diese Gestalt in den Raum gestellt.

 

"Er sieht aus wie ein Pharao der alten Ägypter, der die Verkleidung eines

Komödianten gewählt hat, um zu verbergen, daß seine Mumie unter der Maske

steckt", schoß dem kaiserlichen Leibarzt ein krauser Gedanke durch den Kopf.

"Unbegreiflich, daß ich mich nicht entsinnen kann, wo ich diesen doch so

auffallenden Zügen begegnet bin?"

"Der Kerl ist tot", brummte die Gräfin, halb für sich, halb zu dem Pinguin

gewendet, und studierte furchtlos und ungeniert, als handle es sich um die

Betrachtung einer Statue, in unmittelbarster Nähe durch ihre Lorgnette das

Antlitz des aufrecht vor ihr stehenden Mannes – "solche verschrumpelte

Augäpfel kann nur eine Leiche haben. – Mir scheint, er kann sie ieberhaupt

nicht bewegen, Flugbeil! – – – So fircht Er sich doch nicht, Konstantin, wie ein

altes Weib!" rief sie laut zur Speisezimmertür, in deren langsam sich öffnender

Spalte die bleichen, erschreckten Gesichter des Hofrats Schirnding und des

Barons Elsenwanger aufgetaucht waren, "kommen Sie doch beide herein, Sie

sehen ja: Er beißt nicht."

Der Name Konstantin wirkte wie eine seelische Erschütterung auf den

Fremden. Er zitterte einen Augenblick heftig von Kopf bis Fuß, und der

Ausdruck seiner Züge wechselte blitzartig gleich dem eines Menschen, der, in

unglaublicher Weise Herr seiner Gesichtsmuskeln, vor einem Spiegel Fratzen

schneidet. – Als seien die Nasen-, Backen- und Kinnknochen unter der Haut

plötzlich weich und biegsam geworden, verwandelte sich sein Mienenspiel aus

der soeben hochmütig dreinblickenden starren Maske eines ägyptischen

Königs, eine ganze Reihe sonderbarer Phasen durchlaufend, nach und nach in

eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Familientypus der Elsenwanger.

Kaum eine Minute später hatte eine gewisse bleibende Physiognomie sein

bisheriges Aussehen derart verdrängt und sich in seinen Zügen festgesetzt, daß

die Anwesenden zu ihrem größten Staunen momentelang glaubten, einen völlig

anderen vor sich zu haben.

Den Kopf auf die Brust gesenkt und die eine Wange wie von einer

Zahngeschwulst zum linken Auge, das darunter klein und stechend erschien,

emporgezogen, trippelte er eine Weile mit krummen Knien, die Unterlippe

vorstreckend, unschlüssig auf dem Tisch herum, tastete dann an seinem Körper

nach Taschen und wühlte scheinbar darin.

Endlich erblickte er den Baron Elsenwanger, der sich, sprachlos vor

Entsetzen, an den Arm seines Freundes Schirnding geklammert hielt, nickte

ihm zu und meckerte: "Konstantindl, gut, daß du kommst, den ganzen Abend

hab' ich dich schon gesucht."

"Jezis, Maria und Josef", heulte der Baron und floh zur Tür, "der Tod ist im

Haus. Hilfe, Hilfe, da ist ja mein seliger Bruder Bogumil!"

Auch der Edle von Schirnding, der Leibarzt und die Gräfin, die alle drei den

verstorbenen Baron Bogumil Elsenwanger bei dessen Lebzeiten gekannt

hatten, waren bei dem Ton der Stimme des Schlafwandlers zusammengezuckt,

so überaus ähnlich klang sie der des Verbliebenen.

Ohne sich im geringsten um sie zu kümmern, eilte Zrcadlo jetzt geschäftig

im Zimmer hin und her und rückte an eingebildeten Gegenständen, die

offenbar nur er sah, die aber vor dem geistigen Auge der Zuschauer leibhaftige

Gestalt anzunehmen schienen, so plastisch und eindringlich waren seine

Bewegungen, mit denen er sie anfaßte, hob und wegstellte.

Als er dann plötzlich aufhorchte, die Lippen spitzte, zum Fenster trippelte

und ein paar Takte einer Melodie pfiff, als säße dort ein Star in einem Käfig –

aus einer imaginären Kassette einen ebenso unsichtbaren Mehlwurm nahm und

ihn seinem Liebling hinhielt, standen bereits alle so unter dem Bann des

Eindrucks, daß sie vorübergehend ganz vergaßen, wo sie waren und sich in die

Umgebung zurückversetzt wähnten, in der der tote Baron Bogumil noch hier

gehaust hatte.

Erst als Zrcadlo, vom Fenster zurückkommend, wieder in den Lichtschein

trat und der Anblick seines schäbigen schwarzen Samtmantels die Illusion für

einen Augenblick zerstörte, faßte sie das Grauen an, und sie warteten stumm

und widerstandslos, was er weiter beginnen werde.

Zrcadlo überlegte eine Weile, während der er wiederholt aus einer

unsichtbaren Dose schnupfte, rückte sodann einen der geschnitzten Sessel in

die Mitte des Zimmers vor einen eingebildeten Tisch, setzte sich und begann,

vorgebeugt und den Kopf schief gelegt, in der Luft zu schreiben, nachdem er

vorher eine imaginäre Gänsefeder genommen, geschnitten und gespalten hatte

– wiederum mit so erschreckend das Leben nachahmender Deutlichkeit, daß

man sogar das Knirschen des Messers zu hören vermeinte. Mit angehaltenem

Atem sahen ihm die Herrschaften zu – das Gesinde hatte bereits vorher auf

einen Wink des Pinguins das Zimmer auf Zehenspitzen verlassen –; nur von

Zeit zu Zeit unterbrach ein angstvolles Stöhnen des Barons Konstantin, der von

seinem "toten Bruder" den Blick nicht zu wenden vermochte, die tiefe Stille.

Endlich schien Zrcadlo mit dem Brief, oder was er sonst zu schreiben sich

einbildete, fertig zu sein, denn man sah ihn einen komplizierten Schnörkel –

offenbar unter seinen Namenszug – setzen. Geräuschvoll schob er den Stuhl

zurück, ging zur Wand, suchte lange in einer Bildernische, in der er tatsächlich

einen – wirklichen Schlüssel fand, drehte an einer Holzrosette an der Täfelung,

sperrte ein dahinter sichtbar werdendes Schloß auf, zog ein Fach heraus, legte

seinen "Brief" hinein und drückte die Schublade in die Wand zurück.

Die Spannung der Zuschauer hatte sich so gesteigert, daß niemand die

Stimme Boženas hörte, die draußen vor der Tür halblaut rief: "Milostpane!

Gnä' Herr! Dirfen wir herein?"

"Haben – haben Sie's gesehen? Flugbeil, haben Sie's auch gesehen? War das

nicht eine wirkliche Schublade, was mein Bruder selig da aufgemacht hat?"

brach Baron Elsenwanger stockend und schluchzend vor Aufregung das

Schweigen; "ich hab' doch gar nicht geahnt, daß da eine Schublad ist."

Jammernd und die Hände ringend, brach er los: "Bogumil, um Gottes willen,

ich hab' dir doch nichts getan! Heiliger Václav, vielleicht hat er mich enterbt,

weil ich seit dreißig Jahren nicht in der Teinkirche war!"

Der kaiserliche Leibarzt wollte zur Wand gehen und nachsehen, aber ein

lautes Klopfen an der Tür hielt ihn davon ab.

Gleich darauf stand eine hohe, schlanke, in Fetzen gehüllte Weibsperson im

Zimmer, die von Božena als die "böhmische Liesel" vorgestellt wurde.

Ihr Kleid, ehemals kostbar und mit Schmelz besetzt gewesen, verriet noch

immer durch seinen Schnitt und wie es sich um Schultern und Hüften legte,

welche Sorgfalt auf seine Herstellung verwandt worden war. Der bis zur

Unkenntlichkeit zerknüllte und von Schmutz starrende Besatz an Hals und

Ärmeln bestand aus echten Brüsseler Spitzen.

Das Frauenzimmer mochte hoch in den Siebzigern sein, aber immer noch

wiesen ihre Züge trotz der grauenhaften Verwüstung durch Leid und Armut die

Spuren einstiger großer Schönheit auf.

Eine gewisse Sicherheit im Benehmen und die ruhige, beinahe spöttische

Art, mit der sie die drei Herren ansah – die Gräfin Zahradka würdigte sie

überhaupt keines Blickes – ließen darauf schließen, daß ihr die Umgebung in

keiner Weise imponierte.

Sie schien sich eine Zeitlang an der Verlegenheit der Herren, die sie offenbar

aus ihrer Jugendzeit her genauer kannten, als sie vor der Gräfin merken lassen

wollten, zu weiden, denn sie schmunzelte vielsagend, kam aber dann dem

kaiserlichen Leibarzt, der etwas Unverständliches zu stottern begann, mit der

höflichen Frage zuvor:

"Die Herrschaften haben nach mir geschickt; darf man wissen, worum es

sich handelt?"

Verblüfft über das ungewöhnlich reine Deutsch und die wohlklingende,

wenn auch ein wenig heisere Stimme, nahm die Gräfin ihre Lorgnette vor und

musterte mit funkelnden Augen die alte Prostituierte. Aus der Befangenheit der

Herren schloß sie mit richtigem weiblichem Instinkt sofort auf die wahre

Ursache und rettete die peinlich gewordene Situation mit einer Reihe rascher,

scharfer Gegenfragen:

"Dieser Mann dort" – sie deutete auf Zrcadlo, der, das Gesicht zur Wand

gekehrt, regungslos vor dem Bildnis der blonden Rokokodame stand – ist

vorhin eingedrungen. Wer ist er? Was will er? Er wohnt, här' ich, bei Ihnen? –

Was is mit ihm? Is er wahnsinnig? Oder besoff – –?" – sie brachte das Wort

nicht heraus – bei der bloßen Erinnerung, was sie vor kurzem mit angesehen,

packte sie wieder das Grausen. – "Oder – oder, ich meine – hat er Fieber? – – –

Ist er vielleicht krank?" milderte sie den Ausdruck.

Die "böhmische Liesel" zuckte die Achseln und drehte sich langsam zu der

Fragerin; in ihren wimpernlosen, entzündeten Augen, die in die leere Luft zu

schauen schienen, als stünde dort, woher die Worte gekommen waren,

überhaupt niemand, lag ein Blick, so hochfahrend und verächtlich, daß der

Gräfin unwillkürlich das Blut ins Gesicht stieg.

"Er ist von dem Gartentor heruntergefallen", mischte sich der kaiserliche

Leibarzt schnell ein. "Wir glaubten anfangs, er sei tot, und haben deshalb nach

Ihnen geschickt. – – Wer und was er ist" – fuhr er krampfhaft fort, um zu

verhindern, daß sich die Sachlage weiter unangenehm zuspitze, "tut ja nichts

zur Sache. Allem Anschein nach ist er ein Schlafwandler. – Sie wissen doch,

was das ist? – Nun, sehen Sie, ich hab' mir gleich gedacht, daß Sie wissen, was

das ist. – Ja. Hm. – Und da müssen Sie halt des Nachts auf ihn ein bissel

achtgeben, damit er nicht wieder ausbricht. – Vielleicht haben Sie die Güte, ihn

jetzt wieder heimzubringen? Der Diener oder die Božena kann Ihnen dabei

behilflich sein. Hm. Ja. – Nicht wahr, Baron, Sie geben doch die Erlaubnis?"

"Jaja. Nur hinaus mit ihm!" wimmerte Elsenwanger. "O Gott, nur fort, nur

fort."

"Ich weiß bloß, daß er Zrcadlo heißt und wahrscheinlich ein Schauspieler

ist", sagte die "böhmische Liesel" ruhig. "Er geht des Nachts in den

Weinstuben herum und macht den Leuten etwas vor. – Freilich, ob er" – sie

schüttelte den Kopf – "ob er selber weiß, wer er ist, hat wohl noch keiner

herausgebracht. – Und ich kümmere mich nicht darum, wer und was meine

Mieter sind. – Ich bin nicht indiskret. – Pane Zrcadlo! Kommen Sie! So

kommen Sie doch! – Sehen Sie denn nicht, daß hier keine Gastwirtschaft ist?"