Das grüne Gesicht

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vor einem am Wege auftauchenden Gespenst scheu gewordene Ausbrechen" der sonst so geduldig schreitenden Zeit

in die Dunkelheit geistiger Nacht hinein.

Hauberrisser fühlte, daß er wieder einen Schritt weiter hinabgeglitten war in jenes unheimliche Reich, in dem die

Dinge der Welt um so schneller sich in wesenlosem Schein schemenhafter Unwirklichkeit auflösen, je krasser sie sind.

Er betrat eine der beiden schmalen Seitengäßchen, die links und rechts das Tingeltangel umgaben, und schritt gleich

darauf auf einem Laubengang aus Glas vorüber, der ihm merkwürdig bekannt vorkam.

Als er um die Ecke bog, stand er vor dem mit Rollblech verschlossenen Laden Chidher Grüns; das Lokal, das er

soeben verlassen, war nur der rückwärtige Teil des sonderbaren, turmähnlichen Hauses in der Jodenbreetstraat mit

dem flachen Dach, das schon nachmittags seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Er blickte empor zu den beiden trüben Fenstern, – auch hier wieder der befremdende Eindruck von Unwirklichkeit:

Das ganze Gebäude glich täuschend in der Dunkelheit einem ungeheuern menschlichen Schädel, der mit den Zähnen

des Oberkiefers auf dem Pflaster ruhte.

Unwillkürlich verglich er auf dem Wege zu seiner Wohnung das phantastische Durcheinander im Innern dieses

Schädels aus Mauerwerk mit den vielerlei krausen Gedanken in dem Kopf eines Menschen, und Mutmaßungen, als

könnten hinter der finstern steinernen Stirne da oben Rätsel schlafen, von denen Amsterdam sich nichts träumen ließ,

verdichten sich in seiner Brust zu einem beklemmenden Vorgefühl gefährlicher, an der Schwelle des Geschickes

lauernder Ereignisse.

War die Vision des Gesichtes aus grünem Erz im Laden des Vexiersalons wirklich nur ein Traum gewesen?

überlegte er.

Die regungslose Gestalt des alten Juden vor dem Pulte nahm plötzlich in seiner Erinnerung alle Merkmale einer

schattenhaften Luftspiegelung an, – schien weit eher einem Traum entsprungen zu sein als das erzene Gesicht.

Hatte der Mann tatsächlich mit den Füßen auf dem Boden gestanden? Je schärfer er sich das Bild zu

vergegenwärtigen suchte, um so mehr zweifelte er, daß es der Fall gewesen war.

Er wußte mit einemmal haargenau, daß er die Schubladen des Pultes durch den Kaftan hindurch deutlich gesehen

hatte.

Ein jähes Mißtrauen gegenüber seinen Sinnen und der anscheinend so fest begründeten Stofflichkeit der Außenwelt

flammte, tief aus der Seele hervorbrechend wie ein blitzartiges Licht, einen Augenblick in ihm auf, und gleichsam als

Schlüssel zu den Geheimnissen derartiger unerklärlicher Vorgänge fiel ihm ein, was er schon als Kind gelernt: daß das

Licht gewisser, unfaßbar weit entfernter Sterne in der Milchstraße am Himmel siebzigtausend Jahre braucht, um zur

Erde zu gelangen, und man daher (gäbe es so scharfe Fernrohre, um jene Weltenkörper dicht vors Auge zu rücken)

dort oben nur Begebenheiten schauen könnte, die seit siebzigtausend Jahren bereits in das Reich der Vergangenheit

versunken sind. Es mußte also – ein Gedanke von erschütternder Furchtbarkeit! – in der unendlichen Ausdehnung des

Weltenraumes jedes Geschehen, das einmal geboren worden, ewig als Bild, aufbewahrt im Licht, bestehenbleiben. "So

gibt es also – wenn auch außerhalb des Bereiches menschlicher Macht – eine Möglichkeit", schloß er, "Vergangenes

zurückzubringen?"

Als hinge die Erscheinung des alten Juden vor dem Pulte mit diesem Gesetze einer gespenstischen Wiederkunft

irgendwie zusammen, gewann sie plötzlich für ihn ein schreckhaftes Leben.

Er fühlte das Phantom gleichsam in Armesnähe neben sich hergehen, unsichtbar für die äußern Augen und doch weit

gegenwärtiger als jener leuchtende, ferne Stern dort oben in der Milchstraße, den alle Menschen sehen konnten Nacht

für Nacht und der trotzdem schon seit siebzigtausend Jahren am Himmel erloschen sein konnte – – –

Vor seiner Wohnung, einem engen, zweifenstrigen altertümlichen Hause mit einem Vorgärtchen, blieb er stehen und

sperrte das schwere eichene Tor auf.

So deutlich war seine Empfindung geworden, als ginge jemand neben ihm, daß er sich unwillkürlich umblickte, bevor

er eintrat.

Er klomm die kaum brustbreite Treppe empor, die, wie fast in allen holländischen Häusern, steil wie eine Feuerleiter

in einer ununterbrochenen Flucht von ebener Erde bis hinauf unter das Dach lief, und ging in sein Schlafzimmer.

Ein Raum, schmal und langgezogen, die Decke getäfelt, nur ein Tisch und vier Stühle in der Mitte; alles andere:

Schränke, Kommoden, Waschtisch, sogar das Bett, eingebaut in die mit gelber Seide bespannten Wände.

Er nahm ein Bad und legte sich schlafen.

Beim Auslöschen des Lichtes fiel sein Blick auf den Tisch, und er sah dort einen würfelförmigen grünen Karton

stehen.

"Aha, das Delphische Orakel aus Papiermaché, das man mir aus dem Vexiersalon geschickt hat", legte er sich mit

bereits entschwindendem Bewußtsein zurecht.

Eine Weile später fuhr er halb aus dem Schlummer auf; er glaubte ein merkwürdiges Geräusch gehört zu haben, als

schlüge eine Hand mit kleinen Stäben auf den Fußboden.

Es mußte jemand im Zimmer sein!

Aber er hatte doch die Haustür fest zugeschlossen! Er erinnerte sich genau.

Vorsichtig tastete er an der Wand hin nach dem Drücker des elektrischen Lichtes, da berührte ihn etwas, das sich

anfühlte wie ein kleines Brett, mit leisem, schnellen Schlag am Arm. Gleichzeitig hörte er ein Klappern in der Mauer,

und ein leichter Gegenstand rollte über sein Gesicht.

Im nächsten Augenblick blendete ihn die aufleuchtende Glühbirne.

Wieder ertönte das Geräusch der klopfenden Stäbe.

Es kam aus dem Innern der grünen Schachtel auf dem Tisch.

"Der Mechanismus in dem albernen pappendeckelnen Totenkopf wird losgegangen sein; das ist alles", brummte

Hauberrisser ärgerlich. Dann griff er nach dem Ding, das ihm übers Gesicht gekollert war und auf seiner Brust lag.

Es war eine zusammengebundene Rolle Schreibpapier, mit engen, verwischten Schriftzeichen bedeckt, wie er mit

halbwachen Augen erkannte.

Er warf sie aus dem Bett hinaus, drehte das Licht ab und schlief wieder ein.

"Sie muß von irgendwo herabgefallen sein, oder bin ich an ein Klappfach in der Wand angekommen, in dem sie

gelegen hat", raffte er seine letzten klaren Gedanken zusammen, dann formten sie sich immer dichter und dichter zu

konfusen Phantasiegebilden, und schließlich stand als Traumgestalt, wahllos ausgebaut aus den Eindrücken des Tages,

ein Zulukaffer vor ihm, auf dem Kopf eine rotwollene Gockelhaube, die Füße geschmückt mit grünen Froschzehen,

hielt in der Hand die Visitenkarte des Grafen Ciechonski, und das schädelhafte Haus in der Jodenbreestraat stand

grinsend dabei und kniff zwinkernd bald das eine, bald das andere Auge zu.

Das ferne bange Heulen einer Schiffssirene im Hafen war das letzte Überbleibsel aus der Sinnenwelt, das

Hauberrisser noch eine kleine Strecke hinabbegleitete in die Abgründe des Tiefschlafs.

Viertes Kapitel

Baron Pfeill hatte in der Absicht, den Spätnachmittagszug nach Hilversum noch zu erreichen, wo sein Landhaus

"Buitenzong" lag, die Richtung nach Central Spoorweg-Station eingeschlagen und war bereits durch ein Gewimmel von

Zelten und Buden hindurch dem beginnenden abendlichen Kirmesgetriebe entronnen und in der Nähe der Hafenbrücke

angelangt, da verriet ihm der wie auf ein Zeichen des Orchesterdirigenten hereinbrechende, ohrenbetäubende Lärm der

hundert Glockenspiele auf den Kirchentürmen, daß es sechs Uhr war und er die Bahn nicht mehr erreichen konnte.

Rasch entschlossen ging er wieder in die Altstadt zurück.

Es war ihm fast eine Erleichterung, daß er den Zug versäumt hatte und ihm noch ein paar Stunden Zeit blieben, um

eine Angelegenheit in Ordnung zu bringen, die ihm unablässig im Kopf herumging, seit er Hauberrisser verlassen hatte.

Vor einem wundervollen, altertümlichen Barockbau aus rötlichen, weißumrahmten Ziegeln in der düsteren

Ulmenallee der Heerengracht blieb er stehen, sah einen Augenblick hinauf zu dem ungeheuren Schiebefenster, das fast

die ganze Höhe und Breite des ersten Stockes einnahm, und zog dann an dem schweren, bronzenen Türdrücker

inmitten des Portals, der zugleich die Hausglocke bildete.

Es verging eine Ewigkeit, bis ein alter livrierter Diener mit weißen Strümpfen und maulbeerfarbenen seidenen

Kniehosen öffnen kam.

"Ist Herr Doktor Sephardi zu Hause? – Sie kennen mich doch noch, Jan, wie?" Baron Pfeill suchte nach einer

Visitenkarte. "Bringen Sie, bitte, diese Karte hinauf und fragen Sie, ob –"

"Der gnädige Herr erwartet Sie bereits, Mynheer. Wenn ich bitten darf?" – Der Alte ging die schmale, mit indischen

Teppichen belegte und an den Wandseiten mit chinesischen Stickereien verkleidete Treppe voraus, die so steil war,

daß er sich an dem gewundenen Messinggeländer halten mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Ein stumpfer, betäubender Geruch nach Sandelholz erfüllte das ganze Haus.

"Erwartet mich? Wieso?" fragte Baron Pfeill erstaunt, da er seit Jahren Doktor Sephardi nicht mehr gesehen hatte

und ihm vor knapp einer halben Stunde erst der Einfall gekommen war, Sephardi aufzusuchen, um eine Erinnerung an

das Bild des "Ewigen Juden" mit dem olivgrünen Gesicht in gewissen Einzelheiten festzustellen, die in seinem

Gedächtnis einander seltsam widersprachen und merkwürdigerweise nicht übereinstimmen wollten mit dem, was er

 

Hauberrisser im Café erzählt hatte.

"Der gnädige Herr hat Ihnen heute vormittag nach Den Haag telegrafiert und Sie um Ihren Besuch gebeten,

Mynheer."

"Nach Den Haag? Ich wohne doch schon lange wieder in Hilversum. Es ist lediglich ein Zufall, daß ich heute

hergekommen bin."

"Ich werde den gnädigen Herrn sofort verständigen, daß Sie hier sind, Mynheer."

Baron Pfeill setzte sich und wartete.

Bis ins kleinste stand alles genau auf demselben Platze wie damals, als er zum letztenmal hier gewesen: auf den

Spitzen der schweren geschnitzten Stühle schillernde Samarkandseidenüberwürfe, die beiden überdachten

südniederländischen Sessel neben dem prachtvollen, säulengeschmückten Kamin mit den goldeingelegten moosgrünen

Nephritkacheln, in buntleuchtenden Farben Isfahanteppiche auf den schwarzweißen Steinquadern des Fußbodens, die

blaßrosa Porzellanstatuen japanischer Prinzessinnen in den Nischen der Täfelung, ein Wangentisch mit schwarzer

Marmorplatte, an den Wänden Rembrandtsche und andere Meister-Porträts von den Vorfahren Ismael Sephardis:

eingewanderte, vornehme portugiesische Juden, die das Haus im siebzehnten Jahrhundert von dem berühmten Hendrik

de Keyser bauen ließen, darin gelebt hatten und gestorben waren.

Pfeill verglich die Ähnlichkeit dieser Menschen einer vergangenen Epoche im Geiste mit den Zügen Doktor Ismael

Sephardis.

Es waren dieselben schmalen Schädel, dieselben großen, dunklen, mandelförmigen Augen, die gleichen dünnen

Lippen und leicht gebogenen scharfen Nasen, derselbe weltfremde, fast hochmütig verächtlich blickende Typus der

Spaniolen mit den unnatürlich schmalen Füßen und weißen Händen, der mit den gewöhnlichen Juden der Rasse

Gomers, den sogenannten Aschkenasi, kaum mehr gemein hat als die Religion.

Nirgends auch nur eine Spur der Anpassung an eine anders gewordene Zeit in diesem, sich durch die Jahrhunderte

ewig gleich bleibenden Gesichtsschnitte.

Eine Minute später wurde Baron Pfeill von dem eintretenden Doktor Sephardi begrüßt und einer jungen, blonden,

auffallend schönen Dame von etwa sechsundzwanzig Jahren vorgestellt.

"Haben Sie mir wirklich telegraphiert, lieber Doktor?" fragte Pfeill, "Jan sagte mir –"

"Baron Pfeill hat so feinfühlige Nerven", erklärte Sephardi lächelnd der jungen Dame, "daß es genügt, einen Wunsch

zu denken, und schon erfüllt er ihn. Es ist gekommen, ohne meine Depesche erhalten zu haben. – Fräulein van Druysen

ist nämlich die Tochter eines verstorbenen Freundes meines Vaters", wandte er sich an Pfeill, "und von Antwerpen

hergereist, um mich in einer Angelegenheit um Rat zu fragen, in der aber nur Sie Bescheid wissen. Es betrifft ein Bild, –

oder besser gesagt, könnte damit zusammenhängen, – von dem Sie mir einmal erzählten, Sie hätten es in Leyden in der

Oudhedenschen Sammlung gesehen, und es stelle den Ahasver dar."

Pfeill sah erstaunt auf. "Haben Sie mir deshalb telegrafiert?"

"Ja. Wir waren gestern in Leyden, um das Bild zu besichtigen, erfuhren jedoch, daß niemals ein ähnliches Gemälde

in der Sammlung existiert habe. Direktor Holwerda, den ich gut kenne, versicherte mir, es hingen überhaupt keine

Bilder dort, da das Museum nur ägyptische Altertümer und – – –"

"Erlauben Sie, daß ich dem Herrn erzähle, warum mich die Sache so interessiert?" mischte sich die junge Dame

lebhaft in das Gespräch. "Ich möchte Sie nicht mit einer breiten Schilderung meiner Familienverhältnisse langweilen,

Baron, ich will daher nur kurz sagen: in das Leben meines verstorbenen Vaters, den ich unendlich geliebt habe, spielt

ein Mensch, oder – es klingt vielleicht sonderbar – eine 'Erscheinung' hinein, die oft monatelang sein ganzes Denken

erfüllte.

Ich war damals noch zu jung – vielleicht auch zu lebenslustig –, um das Innenleben meines Vaters zu begreifen

(meine Mutter war schon lange tot), aber jetzt ist plötzlich alles von damals wieder in mir wach geworden, und eine

beständige Unruhe quält mich, Dingen nachzugehen, die ich längst hätte verstehen lernen sollen.

Sie werden denken, ich sei überspannt, wenn ich Ihnen sage, ich möchte lieber heute als morgen aufhören zu leben.

– Der blasierteste Genußmensch kann, glaube ich, dem Selbstmord nicht näher sein als ich"; – sie war mit einemmal

ganz verwirrt geworden und faßte sich erst, als sie sah, daß Pfeill ihr mit tiefem Ernst zuhörte und die Stimmung, in er

sie sich befand, sehr rasch zu verstehen schien. – "Ja, und das mit dem Bild, oder der 'Erscheinung': Welche

Bewandtnis es damit hatte? Ich weiß so gut wie nichts darüber. Ich weiß nur, mein Vater sagte oft, wenn ich – damals

noch ein Kind – ihn über Religion oder über den lieben Gott fragte, daß eine Zeit nahe bevorstünde, wo der

Menschheit die letzten Stützen fortgerissen würden und ein geistiger Sturmwind alles wegfegen würde, was jemals

Hände aufgebaut hatten.

Nur jene seien gefeit gegen den Untergang, die – das waren genau seine Worte – die das erzgrüne Antlitz des

Vorläufers, des Urmenschen, der den Tod nicht schmecken wird, in sich schauen können.

Als ich dann jedesmal neugierig in ihn drang und wissen wollte, wie dieser Vorläufer aussehe, ob er ein lebender

Mensch sei oder ein Gespenst oder der liebe Gott selbst, und woran ich ihn erkennen könne, wenn ich ihm auf dem

Wege zur Schule gelegentlich begegnen sollte, sagte er immer: Sei ruhig mein Kind, und grüble nicht. Es ist kein

Gespenst, und wenn er auch einmal zu dir kommen wird wie ein Gespenst, so fürchte dich nicht, er ist der einzige

Mensch auf Erden, der kein Gespenst ist. Auf der Stirne trägt er eine schwarze Binde, darunter ist das Zeichen des

ewigen Lebens verborgen, denn wer das Zeichen des Lebens offen trägt und nicht tief innen verborgen, der ist

gebrandmarkt wie Kain. Und schritte er auch im Glanz einher wie ein wandelndes Licht: er wäre ein Gespenst und ein

Raub der Gespenster. Ob er Gott ist, das kann ich dir nicht sagen; du würdest's nicht begreifen. Begegnen kannst du

ihm überall, am wahrscheinlichsten dann, wenn du es am wenigsten erwartest. Nur reif mußt du dazu sein. Auch Sankt

Hubertus hat den fahlen Hirsch mitten im Gerümpel der Jagd erblickt, und als er ihn mit der Armbrust töten wollte. –"

"Als dann viele Jahre später" – fuhr Fräulein van Druysen nach einer Pause fort – "der grauenhafte Krieg kam und

das Christentum sich so unsagbar blamierte –"

"Verzeihen Sie: die Christenheit! Das ist das Gegenteil", unterbrach Baron Pfeill lächelnd.

"Ja, natürlich. Das meine ich: die Christenheit; – da dachte ich, mein Vater hätte prophetisch die Zukunft geschaut

und auf das große Blutbad angespielt –"

"Sicher hat er den Krieg nicht gemeint", fiel Sephardi ruhig ein, "äußere Geschehnisse wie ein Krieg, und mögen sie

noch so entsetzlich sein, verhallen wie harmloser Donner an den Ohren all derer, die den Blitz nicht gesehen haben und

vor deren Füßen es nicht eingeschlagen hat; sie fühlen bloß das 'Gott sei Dank, mich hat's nicht getroffen'.

Der Krieg hat die Menschen in zwei Teile gerissen, die einander nie mehr verstehen können, – die einen haben in die

Hölle geblickt und tragen das Schreckbild stumm in der Brust ihr Leben lang, bei den andern ist es kaum mehr als

Druckerschwärze. Zu diesen gehöre ich auch.

Ich habe mich genau geprüft und mit Entsetzen an mir erkannt und sage es ohne Scheu offen heraus: das Leid der

Abermillionen ist spurlos an mir abgeglitten. Warum lügen?! Wenn andere von sich das Gegenteil sagen und sie

sprechen die Wahrheit, will ich gern und demütig vor ihnen den Hut ziehen; aber ich kann ihnen nicht glauben; es ist mir

unmöglich zu denken, daß ich so viel tausendmal verworfener bin als sie. – Aber entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein,

ich habe Sie unterbrochen."

"Er ist ein Mensch mit einer aufrechten Seele, der sich der Blöße seines Herzens nicht schämt", dachte Baron Pfeill

und warf einen Blick voll Freude in das dunkelhäutige stolze Gelehrtengesicht Sephardis.

"Da glaubte ich, mein Vater hätte auf den Krieg angespielt", nahm die junge Dame ihre Erzählung wieder auf, "aber

allmählich fühlte ich, was heute jeder spürt, der nicht von Stein ist, – daß eine würgende Schwüle aus dem Erdboden

steigt, die mit dem Tod nicht verwandt ist, und diese Schwüle, dieses Nicht-leben-und-nicht-sterben-Können, wird

mein Vater, denke ich, mit den Worten gemeint haben: Die letzten Stützen werden der Menschheit fortgerissen.

Als ich nun Doktor Sephardi von dem erzgrünen Gesicht des Urmenschen, wie ihn mein Vater nannte, erzählte und

ihn, da er doch in solchen Gebieten ein großer Forscher ist, bat, mir zu sagen, was ich von all dem halten solle und ob

nicht vielleicht mehr dahinterstecken könne als eine Wahnvorstellung meines Vaters, erinnerte er sich, von Ihnen,

Baron, gehört zu haben, Sie kennten ein Porträt – – –"

"Das leider nicht existiert", ergänzte Pfeill. "Ich habe Doktor Sephardi von diesem Bild erzählt, alles das stimmt; auch

daß ich – allerdings seit ungefähr einer Stunde nicht mehr – fest überzeugt war, das Bild vor Jahren, – wie ich annahm,

in Leyden, – gesehen zu haben, stimmt.

Jetzt stimmt für mich nur noch das eine: ich habe es sicher niemals im Leben gesehen. Weder in Leyden noch

irgendwo anders.

Heute nachmittag sprach ich noch mit einem Freund über das Bild, sah es in der Erinnerung in einem Rahmen an

einer Wand hängen; dann, als ich zum Bahnhof ging, um nach Hause zu fahren, erkannte ich plötzlich, daß dieser

Rahmen nur scheinbar, so wie hinzuphantasiert, das Bildnis des olivgrünen Gesichtes in meinem Gedächtnis umgab,

und ich ging sofort in die Heerengracht zu Doktor Sephardi, um mich zu überzeugen, ob ich ihn damals vor Jahren

wirklich von dem Porträt erzählte, oder auch das am Ende nur geträumt hatte.

Wie das Bild in meinem Kopf gekommen sein mag, ist mir ein unlösbares Rätsel. Es hat mich früher oft bis in den

Schlaf verfolgt; ob ich auch geträumt habe, es hinge in Leyden in einer Privatsammlung, und die Erinnerung an diesen

Traum dann für ein Begebnis der Wirklichkeit gehalten habe?

Noch verwickelter wird die Sache für mich dadurch, daß, während Sie, gnädiges Fräulein, vorhin von Ihrem Vater

erzählten, mir das Gesicht wieder mit geradezu betäubender Deutlichkeit erschien, – nur anders, lebendig, beweglich,

mit bebenden Lippen, als wolle es sprechen, nicht mehr tot und starr wie ein Gemälde – –."

Er brach plötzlich seine Rede ab und schien nach innen zu lauschen, so als ob das Bild ihm etwas zuflüstere.

Auch Sephardi und die junge Dame schwiegen betroffen.

Von der Heerengracht herauf ertönte klangvoll das Spiel einer der großen Orgeln, wie sie in Amsterdam auf ponybespannten

Wagen abends zuweilen langsam durch die Straßen fahren.

"Ich kann nur annehmen", begann Sephardi nach einer Weile, "daß es sich in diesem Falle bei Ihnen um einen

sogenannten hypnoiden Zustand handelt, – daß Sie einmal im Tiefschlaf, also ohne bewußte Wahrnehmung, irgend

etwas erlebt haben, das sich dann später unter der Maske eines Porträts in die Begebenheiten des Tages einschlich

und mit diesen zu scheinbarer Wirklichkeit verwuchs. – Sie müssen nicht fürchten, daß so etwas krankhaft oder

abnormal wäre", fügte er hinzu, als er sah, daß Pfeill eine abwehrende Handbewegung machte, "solche Dinge kommen

weit häufiger vor, als man glaubt, und wenn man ihren wahren Ursprung aufdecken könnte: – ich bin überzeugt, wie

Schuppen würde es uns von den Augen fallen, und wir wären mit einem Schlage eines zweiten fortzulaufenden Lebens

teilhaftig, das wir in unserem jetzigen Zustand im Tiefschlaf führen, ohne es zu wissen, weil es jenseits unseres

körperlichen Daseins liegt und während unseres Zurückwanderns über die Brücke des Traumes, die Tag und Nacht

verbindet, vergessen wird. – Was die Ekstatiker der christlichen Mystik von der 'Wiedergeburt' schreiben, ohne die es

unmöglich sei, 'das Reich Gottes zu schauen', scheint mir nichts anderes zu sein als ein Aufwachen des bis dahin wie tot

gewesenen Ichs in einem Reich, das unabhängig von den äußeren Sinnen existiert, – im 'Paradies', kurz und gut." – Er

holte ein Buch aus einem Spind und deutete auf ein Bild darin. "Der Sinn des Märchens vom Dornröschen hat

sicherlich darauf Bezug, und ich wüßte nicht, was diese alte, alchemistische illustrierte Darstellung der 'Wiedergeburt'

 

hier: ein nackter Mensch, der aus einem Sarge aufsteht, und daneben ein Totenschädel mit einer brennenden Kerze auf

dem Scheitel, anders bedeuten sollte? – Übrigens, da wir gerade von christlichen Ekstatikern sprechen: Fräulein van

Druysen und ich gehen heute abend zu einer solchen Versammlung, die am Zee Dyk stattfindet. Kurioserweise spukt

auch dort das olivgrüne Gesicht."

"Am Zee Dyk?" jubelte Pfeill, "das ist doch das Verbrecherviertel! Was hat man Ihnen denn da wieder

aufgebunden?"

"Es ist nicht mehr so schlimm wie früher, höre ich, nur eine einzige, allerdings sehr üble Matrosenschenke 'Zum Prins

van Oranje' ist noch vorhanden; sonst leben nur harmlose, arme Handwerker in der Gegend."

"Auch ein greiser Sonderling mit seiner Schwester, ein verrückter Schmetterlingssammler namens Swammerdam,

der sich in freien Stunden einbildet, der König Salomo zu sein. wir sind bei ihm zu Gast geladen", fiel die junge Dame

fröhlich ein; "meine Tante, ein Fräulein de Bourignon, verkehrt täglich dort. – Nun – was sagen Sie jetzt, was für

vornehme Beziehungen ich habe? – Um Irrtümern vorzubeugen: sie ist nämlich eine ehrwürdige Stiftsdame aus dem

Béginenkloster und von überschäumender Frömmigkeit."

"Was?! Der alte Jan Swammerdam lebt noch?" rief Baron Pfeill lachend, "der muß doch schon neunzig Jahre alt

sein! Hat er immer noch seine zweifingerdicken Gummisohlen?"

"Sie kennen ihn? Was ist das eigentlich für ein Mensch?" fragte Fräulein van Druysen lustig erstaunt. "Ist er wirklich

ein Prophet, wie meine Tante behauptet? Bitte erzählen Sie mir auch von ihm."

"Mit Vergnügen, wenn's Ihnen Spaß macht, mein Fräulein. Nur muß ich mich ein wenig eilen und quasi jetzt schon

Abschied von Ihnen nehmen, sonst versäume ich abermals meinen Zug. Jedenfalls adieu im voraus. Aber Sie dürfen

nichts Unheimliches oder dergleichen erwarten – die Sache ist lediglich komisch."

"Um so besser."

"Also: Ich kenne Swammerdam seit meinem vierzehnten Jahr, – später verlor ich ihn natürlich aus den Augen.

Ich war damals ein fürchterlicher Lausbub und betrieb alles, das Lernen selbstverständlich ausgenommen, wie ein

Besessener. Unter anderem den Terrariensport und das Insektensammeln.

Wenn's wo einen Ochsenfrosch oder eine asiatische Kröte von Handkoffergröße in einem Naturaliengeschäft gab,

schon daß ich sie besaß und in großen heizbaren Glaskästen bändigte.

Nachts war ein Gequake, daß in den Nachbarhäusern die Fenster klirrten.

Und was das Viehzeug an Ungeziefer zum Fressen brauchte! Säckeweis mußte ich es herbeischaffen.

Daß es heute in Holland nur noch so wenig Fliegen gibt, ist ausschließlich meiner damaligen Gründlichkeit beim

Futtersammeln zu verdanken.

Zum Beispiel die Schaben – die habe ich ausgerottet.

Die Frösche selbst bekam ich nie zu Gesicht; bei Tage waren sie unter den Steinen verkrochen, und nachts

bestanden meine Eltern hartnäckigerweise darauf, daß ich schliefe.

Schließlich riet mir meine Mutter, ich solle die Biester freilassen und bloß die Steine behalten – es käme auf dasselbe

heraus und sei einfacher – aber ich wies solche verständnislosen Vorschläge natürlich entrüstet zurück.

Meine Emsigkeit im Insektenfangen wurde allmählich Stadtgespräch und zog mir eines Tages das Wohlwollen des

entomologischen Vereins zu, der damals aus einem s-beinigen Barbier, einem Pelzhändler, drei pensionierten

Lokomotivführern und einem Präparator am naturwissenschaftlichen Museum bestand, der jedoch an den

Sammelausflügen nicht mitmachen durfte, da seine Frau es nicht erlaubte. Es waren lauter gebrechliche alte Herren, die

teils Käfer, teils Schmetterlinge sammelten und eine seidene Fahne verehrten, auf der die Worte eingestickt waren:

Osiris, Verein für biologische Forschung.

Trotz meiner Jugend wurde ich als Mitglied aufgenommen. Noch heute besitze ich das Diplom, das mit den Worten

schließt: 'Wir entbieten Ihnen unsern besten biologischen Gruß.'

Warum man auf meinen Eintritt in den Klub so versessen war, wurde mir bald klar. Sämtliche biologischen Greise

waren nämlich entweder halb blind und infolgedessen außerstande, die in Baumritzen versteckten Nachtfalter zu

erspähen, oder es machte sich ihnen das Vorhandensein von Krampfadern bei dem zur Käferjagd nicht zu missenden

Dünensandwaten störend bemerkbar. Andere wieder wurden regelmäßig – wahrscheinlich infolge der Aufregung –

beim Schwingen des Netzes nach dem hurtigen Pfauenauge im entscheidenden Augenblick von einem rasselnden

Hustenausbruch befallen, der sie der erhofften Beute jedesmal verlustig gehen ließ.

Von all diesen Bresthaftigkeiten besaß ich keine einzige, und eine Raupe mehrere Kilometer weit auf einem Blatt zu

entdecken, war mir eine Kleinigkeit; kein Wunder daher, daß die findigen Greise auf den Gedanken gekommen waren,

sich meiner und noch eines Schulkameraden von mir als Spür- und Jagdhund zu bedienen.

Nur einer von ihnen, ebenjener Jan Swammerdam, der damals bestimmt schon fünfundsechzig Jahre zählte, übertraf

mich weit, was das Auffinden von Insekten anbelangte. Er brauchte nur einen Stein umzudrehen, und schon lag eine

Käferlarve oder sonst etwas Ersehnenswertes darunter.

Er stand im Geruch, die Gabe des Hellsehens auf diesem Gebiet als Folge eines mustergiltigen Lebenswandels in

sich erweckt zu haben. – Sie wissen ja, Holland hält viel von Tugend!

Ich habe ihn nie anders gesehen als in einem schwarzen Gehrock, den kreisförmigen Abdruck eines unter die Weste

geschobenen Schmetterlingsnetzes zwischen den Schulterblättern und unter den Schößen, ein kurzes Stück

herausragend, den grünen Stiel davon.

Weshalb er nie einen Hemdkragen trug, sondern statt dessen um den Hals die zusammengefaltete Borte einer alten

Leinwandkarte, erfuhr ich, als ich ihn einmal in seiner Dachkammer besuchte. Ich kann nicht hinein, erklärte er mir und

deutete auf einen Schrank, der seine Wäsche enthielt. Hipocampa Milhauseri – das ist nämlich eine seltene Raupe –

hat sich dicht neben dem Scharnier verpuppt und braucht drei Jahre, bis sie auskriecht.

Bei unsern Exkursionen benutzten wir alle die Eisenbahn; nur Swammerdam ging hin und her zu Fuß, denn er war zu

arm, um die Kosten zu erschwingen, und damit er sich die Schuhsohlen nicht durchlief, bestrich er sie mit einer

geheimnisvollen Kautschuklösung, die im Laufe der Zeit zu einer mehrere Finger dicken Lavaschicht erhärtete. Ich

sehe sie heute noch vor mir.

Seinen Lebensunterhalt bestritt er durch den Verkauf seltener Schmetterlingsbastarde, die zu züchten ihm bisweilen

gelang, doch reichte der Erlös nicht, um zu verhindern, daß seine Gattin, die stets nur ein liebevolles Lächeln für seine

Marotten hatte und geduldig die Armut mit ihm trug, eines Tages an Entkräftung starb. –

Seit jener Nacht vernachlässigte Swammerdam die finanzielle Seite des Daseins ganz und gar und lebte nur noch

seinem Ideal, nämlich: einen gewissen grünen Mistkäfer zu finden, von dem die Wissenschaft behauptet, er kaprizierte

sich darauf, genau siebenunddreißig Zentimeter unter der Erde vorzukommen, und auch da nur an Orten, deren

Oberfläche mit Schafdünger bedeckt sei.

Mein Schulkamerad und ich bezweifelten dieses Gerücht aufs lebhafteste, waren aber in der Verworfenheit unserer

jugendlichen Herzen ruchlos genug, von Zeit zu Zeit Schafmist, den wir zu diesem Behuf immer in der Tasche zu tragen

pflegten, an besonders harten Stellen der Dorfstraßen, heimlich auszustreuen und uns indianerhaft zu freuen, wenn

Swammerdam bei seinem Anblick wie ein irrsinnig gewordener Maulwurf sofort zu graben anfing.

Eines Morgens jedoch begab sich buchstäblich ein Wunder, das uns aufs tiefste erschütterte.

Wir machten einmal wieder einen Ausflug; voran trabten die Greise und meckerten das Vereinslied:

'Eu–prep–ia pudica

(das ist nämlich der lateinische Name

eines sehr schönen Bärenspinners)

sind leider keine da,

doch wären welche hier,

steckt' ich sie gleich zu mir'

und den Zug schloß, baumlang, hager, schwarz gekleidet wie immer, und den Handspaten gezückt: Jan

Swammerdam. Auf seinem lieben, alten Gesicht lag der Ausdruck geradezu biblischer Verklärung, und als man ihn

nach der Ursache fragte, sagte er nur geheimnistief, er hätte in der Nacht einen verheißungsvollen Traum gehabt.

Gleich darauf ließen wir unauffällig eine Prise Schafmist fallen.

Swammerdam erspähte sie, blieb stehen, entblößte sein Haupt, tat einen tiefen Atemzug und blickte, von Hoffnung

und Glauben durchschauert, lange zur Sonne auf, bis seine Pupillen ganz klein wie Nadelköpfe waren; dann beugte er

sich nieder und fing an zu scharren, daß die Steine nur so flogen.

Mein Schulkamerad und ich standen dabei, und in unsern Herzen frohlockte der Satan.

Plötzlich wurde Swammerdam totenblaß, ließ den Spaten fallen und starrte, die Hände verkrampft und an den Mund

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