Das grüne Gesicht

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Zweites Kapitel

Seit Monaten war Holland überschwemmt von Fremden aller Nationen, die, kaum daß der Krieg beendet war und

beständig wachsenden inneren politischen Kämpfen den Schauplatz abgetreten hatte, ihre alte Heimat verließen und

teils dauernd Zuflucht in den niederländischen Städten suchten, teils sie als vorübergehenden Aufenthalt wählten, um

von dort aus einen klaren Überblick zu gewinnen, auf welchem Fleck Erde sie künftighin ihren Wohnsitz aufschlagen

könnten.

Die billige Prophezeiung, das Ende des europäischen Krieges werde einen Auswandererstrom der ärmeren

Bevölkerungsschichten aus den am härtesten mitgenommenen Gegenden zur Folge haben, hatte gründlich geirrt, und

reichten auch die verfügbaren Schiffe, die nach Brasilien und andern als fruchtbar geltenden Erdteilen fuhren, nicht hin,

die vielen Zwischendeckspassagiere zu befördern, so stand doch der Abfluß der auf ihrer Hände Arbeit Angewiesenen

in keinem Verhältnis zur Zahl derer, die entweder wohlhabend waren und überdrüssig, sich ihre Einkünfte durch den

immer unerträglicher werdenden Druck der heimischen Steuerschrauben zusammenpressen zu lassen – also der

sogenannten Unidealen – oder zur Zahl derer, die bisher in intellektuellen Berufen tätig gewesen, keine Möglichkeit

mehr vor sich sahen, mit ihrem Verdienst den unerhört kostspielig gewordenen Kampf um das auch nur nackte Leben

weiterzuführen.

Hatte schon in den verflossenen Zeiten der Friedensgreuel das Einkommen eines Schornsteinfegermeisters oder

Schweinemetzgers das Gehalt eines Universitätsprofessors weit überstiegen, so war doch jetzt die europäische

Menschheit bereits auf dem Glanzpunkt angelangt, wo der alte Fluch "im Schweiße deines Angesichts sollst du dein

Brot essen" buchstäblich und nicht nur im übertragenen Sinne aufgefaßt werden mußte; – die "innerlich" Schwitzenden

sahen sich dem Elend preisgegeben und gingen aus Mangel an Stoffwechsel zugrunde.

Der Muskel des Armes griff nach dem Szepter der Herrschaft, die Ausscheidungen der menschlichen Denkdrüse

sanken täglich tiefer im Kurs, und saß Gott Mammon auch noch auf dem Throne, so war seine Fratze doch recht

unsicher geworden: – die Menge schmutziger Papierfetzen, die sich um ihn herum angehäuft hatte, verdroß seinen

Schönheitssinn.

Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, bloß der Geist der Handlungsreisenden konnte

nicht, wie früher, auf dem Wasser schweben.

So war es gekommen, daß sich die große Masse der europäischen Intelligenz auf Wanderschaft befand und von den

Hafenstädten der vom Kriege mehr oder weniger verschont gebliebenen Länder nach Westen spähte, ähnlich dem

Däumling, der auf hohe Bäume kletterte, um nach einem Herdfeuer in der Ferne auszuschauen.

In Amsterdam und Rotterdam waren die alten Hotels bis auf das letzte Zimmer besetzt, und täglich entstanden neue;

ein Mischmasch von Sprachen schwirrte durch die besseren Straßen, und stündlich gingen Extrazüge nach dem Haag,

gefüllt mit ab- und durchgebrannten Politikern und Politikerinnen aller Rassen, die beim Dauerfriedenskongreß ein

immerwährendes Wort mit dreinreden wollten, wollten, wie man der endgültig entflohenen Kuh am sichersten die

Stalltür verrammeln könnte.

In den feineren Speisehäusern und Kakaostuben saß man Kopf an Kopf und studierte überseeische Zeitungen, – die

binnenländischen schwelgten noch immer in den Krämpfen vorgeschriebener Begeisterung über die herrschenden

Zustände, – aber auch in ihnen stand nichts, was nicht auf den alten Weisheitssatz herausgekommen wäre: "Ich weiß,

daß ich nichts weiß, aber auch das weiß ich nicht sicher."

* * *

"Ist denn Baron Pfeill noch immer nicht hier? Ich warte jetzt schon eine volle Stunde", fuhr im Café "de vergulde

Turk", einem dunkeln, winkligen und verräucherten Lokal, das versteckt und abseits vom Verkehr in der Cruysgade

lag, eine ältere Dame mit spitzen Gesichtszügen, zerkniffenen Lippen und fahrigen, farblosen Augen, – der Typus der

gewissen entmannten Frauen mit dem ewig nassen Haar, die mit dem fünfundvierzigsten Jahre ihren galligen Rattlern

anfangen ähnlich zu sehen und mit dem fünfzigsten bereits selber die geplagte Menschheit ankläffen – wutentbrannt auf

den Kellner los: "'pörend. Pe. Wahrhaftig kein Vergnügen, in der Spelunke zu sitzen und sich als Dame von lauter

Kerlen anglotzen zu lassen."

"Herr Baron Pfeill? – Wie soll er denn aussehen? Ich kenne ihn nicht, Myfrouw", fragte der Kellner kühl.

"'türlich bartlos. Vierzig. Fünfundvierzig. Achtundvierzig. Weiß nicht. Hab' seinen Taufschein nicht gesehen. Groß.

Schlank. Scharfe Nase. Strohhut. Braun."

"Der sitzt doch schon lange da draußen, Myfrouw" – der Kellner deutete gelassen durch die offene Tür auf den

kleinen, durch Efeugitter und berußte Oleanderstauden gebildeten Vorraum zwischen Straße und Kaffeehaus.

– "Garnaale, Garnaale", dröhnte der Brummbaß eines Krabbenverkäufers an den Fenstern vorüber. "Banaantje,

Banaantje", quietschte ein Weib dazwischen.

"Pe. Der ist doch blond! Und kurzgeschnittenen Schnurrbart. Zylinder. Pe." – Die Dame wurde wütender.

"Ich meine den Herrn neben ihm, Myfrouw; Sie können ihn von hier nicht sehen."

Wie ein Jochgeier stürzte die Dame auf die beiden Herren los und überschüttete den Baron Pfeill, der mit betretener

Miene aufstand und seinen Freund Fortunat Hauberrisser vorstellte, mit einem Hagel von Vorwürfen, daß sie ihn

mindestens zwölfmal vergebens angeklingelt und schließlich in seiner Wohnung aufgesucht habe, ohne ihn anzutreffen,

und das alles bloß, – "pe" – weil er natürlich wieder mal nicht zu Hause gewesen sei. "Zu einer Zeit, wo jeder Mensch

beide Hände voll zu tun hat, um den Frieden zu befestigen, Präsident Taft die nötigen Ratschläge zu geben, den

Heimatsflüchtigen zuzureden, wieder an ihre Arbeit zu gehen, die internationale Prostitution zu unterbinden, dem

Mädchenhandel zu steuern, Gesinnungsschwachen das moralische Rückgrat zu stählen und – Sammlungen von

Flaschenstanniol für die Invaliden aller Völker einzuleiten", schloß sie, empört ihre Pompadour aufreißend und mit einer

seidenen Schnur wieder erdrosselnd, "ich dächte, da hat man zu Hause zu bleiben, statt – statt Schnaps zu trinken." –

Sie schoß einen bösartigen Blick auf die beiden dünnen Glasröhren, die, gefüllt mit einem regenbogenfarbigen Gemisch

aus Likören, auf der marmornen Tischplatte standen.

"Frau Consul Germaine Rukstinat interessiert sich nämlich für – Wohltäterei", erläuterte Baron Pfeill seinem Freunde,

den Doppelsinn seiner Worte hinter der Maske scheinbar ungeschickt gewählter deutscher Ausdrücke verbergend;

"sie ist der Geist, der stets bejaht und nur das Gute will – – wie Goethe sagt."

"Na, wenn sie das nicht merkt!" dachte Hauberrisser und blickte scheu nach der Furie, – zu seiner Überraschung

lächelte sie bloß besänftigt – "Pfeill hat leider recht, die Menge kennt Goethe nicht nur nicht, sie verehrt ihn sogar; je

falscher man ihn zitiert, desto tiefer fühlen sie sich in seinen Geist eingedrungen."

"Ich finde, Myfrouw", wandte sich Pfeill wieder an die Gnädige, "man überschätzt mich in Ihren Kreisen als –

Philantropf. Mein Vorrat an Flaschenstanniol, der den Invaliden so mangelt, ist wesentlich geringer, als es den

Anschein hat, und wenn ich auch – obwohl, ich versichere, unwissentlich – einmal in einem Mildherzigkeitsklub

hineingetreten bin und mir der Geruch eines öffentlichen Samaritercharakters gewissermaßen anhaftet, so gebricht es

mir leider doch an ausreichend stählernem Gesinnungsmark, um der internationalen Prostitution die Einnahmsquelle zu

verstopfen, und ich möchte mich in dieser Hinsicht des Mottos bedienen: Yoni soit, qui mal y pense. – Was ferner das

Steuer des Mädchenhandels anbelangt, so fehlt es mir gänzlich an Beziehungen zu den leitenden Kapitänen dieser

Organisation, denn ich hatte niemals Gelegenheit, die höheren Beamten der Sittenpolizei im Ausland – vertraulich

kennenzulernen."

"Aber unbrauchbare Sachen für Kriegswaisen werden Sie doch haben, Baron?"

"Ist denn die Nachfrage nach unbrauchbaren Sachen seitens der Kriegswaisen so groß?"

Die Gnädigste überhörte die spöttische Gegenfrage oder wollte sie überhören. "Ein paar Eintrittskarten für die große

Redoute, die im Herbst stattfindet, müssen Sie aber zeichnen, Baron! Der vermutliche Nettoerlös, der im nächsten

Frühjahr verrechnet wird, soll der Gesamtheit aller Kriegsbeschädigten zugute kommen. Es wird ein

aufsehenerregendes Fest werden, die Damen sämtlich maskiert, und die Herren, die mehr als fünf Eintrittskarten gelöst

haben, bekommen den Barmherzigkeitsorden der Herzogin von Lusignan an den Frack."

"Freilich, eine Redoute dieser Art bietet viel Reiz", gab Baron Pfeill sinnend zu, "zumal bei derlei maskierten

Wohltätigkeitstänzen oft im weit ausgreifenden Sinne der Nächstenliebe die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut,

und es den Reichen begreiflicherweise ein dauerndes Vergnügen bereiten muß, daß der Arme auf die große

Abrechnung zu – warten hat, aber andererseits bin ich nicht Exhibitionist genug, um den Nachweis fünfmal öffentlich

betätigten Mitgefühls aus dem Knopfloch heraushängen zu lassen. – Natürlich, wenn Frau Konsul darauf bestehen – –

–"

"Kann ich also fünf Karten für Sie bereithalten?"

"Wenn ich bitten darf: nur vier, Myfrouw!"

* * *

"Herr, gnädiger Herr, gnä–diger Herr Baron!" hauchte eine Stimme, und eine winzige schmutzige Hand zupfte Baron

 

Pfeill schüchtern am Ärmel. Als er sich umdrehte, sah er ein kleines, ärmlich gekleidetes Mädchen mit eingefallenen

Wangen und weißen Lippen, das sich zwischen den Oleanderkübeln hindurch an ihn herangeschlichen hatte und ihm

einen Brief hinhielt, vor sich stehen. Sofort wühlte er in seinen Taschen nach Kleingeld.

"Der Großvater draußen läßt sagen – – –"

"Wer bist du denn, Kind?" fragte Pfeill halblaut.

"Der Großvater, der Schuster Klinkherbogk, läßt sagen, ich bin sein Kind", verwirrte das Mädchen die Antwort mit

dem Auftrag, den es überbringen sollte, "und der Herr Baron hat sich geirrt. Statt der zehn Gulden für die letzten Paar

Schuhe waren tausend – – –"

Pfeill wurde blutrot, klapperte heftig mit seiner silbernen Zigarettendose auf den Tisch, um die Worte der Kleinen zu

übertönen, und sagte laut und brüsk: "Da hast du zwanzig Zents für den Weg", mit milderem Ton hinzufügend, es sei

schon alles recht – sie solle nur wieder nach Hause gehen und den Brief nicht verlieren.

Gleichsam als Antwort, daß das Kind nicht allein gekommen sei – der Sicherheit wegen von seinem Großvater

begleitet, damit es auf dem Wege zum Kaffeehaus das Kuvert mit der Banknote nicht verlöre –, tauchte eine Sekunde

lang zwischen den sich teilenden Efeustauden das totenblasse Gesicht eines alten Mannes auf, der augenscheinlich die

letzten Sätze gehört hatte und vor Ergriffenheit unfähig, ein Wort hervorzubringen, mit schlotterndem Unterkiefer und

gelähmter Zunge ein leises röchelndes Lallen ausstieß. – – –

Ohne den Vorgängen irgendwelche Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, hatte die wohltätige Dame die Eintragung

der vier Ballkarten in eine Rolle vorgenommen und sich nach ein paar kühl verbindlichen Worten empfohlen. – –

Eine Weile saßen die beiden Herren stumm, wichen einander mit den Blicken aus und trommelten gelegentlich mit

den Fingern auf den Stuhllehnen.

Hauberrisser kannte seinen Freund zu gut, um nicht genau zu fühlen: er brauche jetzt nur zu fragen, was für eine

Bewandtnis es mit dem Schuster Klinkherbogk habe, und Pfeill würde gereizt das Blaue vom Himmel

herunterphantasieren, um nur ja nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, er hätte einem armen Schuster aus bittrer

Not geholfen. Dann sann er, um ein möglichst abseits liegendes Gespräch einzuleiten, nach einem Thema, das –

selbstverständlich – nichts mit Wohltätigkeit oder einem Schuster zu tun haben durfte, aber andererseits auch nicht so

klingen sollte, als sei es an den Haaren herbeigeholt.

So lächerlich leicht die Aufgabe zu sein schien – sie wurde ihm von Minute zu Minute schwerer.

"Es ist eine verwünschte Sache mit dem 'Gedankenfassen'", überlegte er, "man glaubt, man bringt sie mit dem Gehirn

hervor, aber in Wirklichkeit machen sie mit dem Gehirn, was sie wollen, und sind selbständiger als irgendein

Lebewesen." Er gab sich einen Ruck. "Sag mal, Pfeill", (das Traumgesicht, das er in dem Vexiersalon gehabt hatte,

war ihm plötzlich eingefallen) "sag mal, Pfeill, du hast ja so viel im Leben gelesen: Ist die Sage vom Ewigen Juden nicht

in Holland entstanden?"

Pfeill blickte argwöhnisch auf. – "Du meinst, weil er ein Schuhmacher gewesen ist?"

"Schuhmacher? Wieso?"

"Nun, es heißt doch, der Ewige Jude sei ursprünglich der Schuster Ahaschwerosch in Jerusalem gewesen und habe

Jesus, als er auf seinem Weg nach Golgatha – der Schädelstätte – ausruhen wollte, mit Flüchen fortgejagt. Seitdem

müsse er selbst wandern und könne nicht sterben, ehe nicht Christus wiedergekommen sei." (Als Pfeill bemerkte, daß

Hauberrisser ein äußerst verblüfftes Gesicht machte, erzählte er hastig weiter, um auch seinerseits so rasch wie möglich

von dem Thema "Schuster" loszukommen.) "Im dreizehnten Jahrhundert behauptete ein englischer Bischof, in

Armenien einen Juden namens Kartaphilos kennengelernt zu haben, der ihm anvertraut hätte, zu gewissen Mondphasen

verjünge sich sein Körper, und er sei dann eine Zeitlang Johannes der Evangelist, von dem Christus bekanntlich gesagt

hat, er werde den Tod nicht schmecken. – In Holland heißt der Ewige Jude: Isaac Laquedem; man hat in einem Mann,

der diesen Namen trug, den Ahasver vermutet, weil er lange vor einem steinernen Christuskopf stehengeblieben war

und ausgerufen hatte: 'Das ist er, das ist er; so hat er ausgesehen!' – In den Museen von Basel und Bern wird sogar je

ein Schuh gezeigt, ein rechter und ein linker, kuriose Dinger, aus Lederstücken zusammengesetzt, einen Meter lang und

zentnerschwer, die an verschiedenen Orten in den Gebirgspässen der italienisch-schweizerischen Grenze gefunden und

wegen ihrer Rätselhaftigkeit in unklare Verbindung mit dem Ewigen Juden gebracht wurden. Übrigens – –"

– Pfeill zündete sich eine Zigarette an –

"Übrigens merkwürdig, daß du gerade jetzt auf die ausgefallene Idee gekommen bist, nach dem Ewigen Juden zu

fragen, wo mir ein paar Minuten früher – und zwar außergewöhnlich lebhaft – ein Bild in der Erinnerung aufgetaucht

war, das ich einmal vor vielen Jahren in einer Privatgalerie in Leyden gesehen habe. Es soll von einem unbekannten

Meister stammen und stellt den Ahasver dar: ein Gesicht von olivbronzener Farbe, unglaublich schreckhaft, ohne

schwarze Binde um die Stirn, die Augen ohne Weiß und ohne Pupillen, wie – wie soll ich sagen – fast wie Schlünde.

Es hat mich noch lange bis in die Träume verfolgt."

Hauberrisser fuhr empor, aber Pfeill achtete nicht drauf und erzählte weiter:

"Die schwarze Binde um die Stirn, las ich später irgendwo, gilt im Orient als sicheres Kennzeichen des Ewigen

Juden. Angeblich soll er damit ein flammendes Kreuz verhüllen, dessen Licht immer wieder sein Gehirn verzehrt, wenn

dieses bis zu einem gewissen Grade der Vollkommenheit nachgewachsen ist. – Die Gelehrten behaupten, es seien das

lediglich Anspielungen auf kosmische Vorgänge, die den Mond beträfen, und der Ewige Jude heiße auch deshalb:

Chidher, das ist: der 'Grüne', aber das scheint mir Blech zu sein.

Die Manie, alles, was man am Altertum nicht begreifen kann, als Lesart für Himmelszeichen zu deuten, ist heute

wieder sehr beliebt, – eine Zeitlang hat sie gestockt, als ein witziger Franzose eine satirische Abhandlung schrieb:

Napoleon hätte nie gelebt, auch er wäre ein Astralmythos, hieße eigentlich Apollon, der Sonnengott, und seine zwölf

Generäle bedeuteten die zwölf Tierkreiszeichen.

Ich glaube, die alten Mysterien haben viel gefährlicheres Wissen verborgen als das Wissen von Sonnenfinsternissen

und Mondgezeiten, nämlich Dinge, die wirklich verborgen werden mußten; – Dinge, die man heute nicht mehr zu

verbergen braucht, weil die dumme Menge sie, Gott sei Dank, sowieso nicht glauben würde und darüber lacht, –

Dinge, die gleichen harmonischen Gesetzen gehorchen wie die Sternenwelt und dieser daher ähnlich sind. Nun, sei es,

wie es mag, vorläufig schlagen die Gelehrten den Sack, ohne daß der Esel damit gemeint wäre."

Hauberrisser war in tiefes Nachdenken versunken.

"Was hältst du von den Juden überhaupt?" fragte er nach längerem Stillschweigen.

"Hm. Was ich von ihnen halte? Durchschnittlich sind sie wie Raben ohne Federn. Unglaublich listig, schwarz,

krummer Schnabel, und können nicht fliegen. Aber zuweilen kommen Adler unter ihnen vor, das ist keine Frage. Zum

Beispiel Spinoza."

"Du bist also nicht Antisemit?"

"Fällt mir nicht im Schlaf ein. Schon deshalb nicht, weil ich die Christen für zu wenig wertvoll halte. Man wirf den

Juden vor, sie hätten keine Ideale. Jedenfalls haben die Christen nur falsche. Die Juden übertreiben alles: Gesetze

halten und Gesetze brechen, Frömmigkeit und Gottlosigkeit, Arbeiten und Faulenzen, bloß das Bergeklettern und das

Wettrudern, das sie "Gojjim naches" nennen, übertreiben sie nicht, und vom Pathos halten sie nicht viel; die Christen

übertreiben das Pathos und – hintertreiben so ziemlich den Rest. In Glaubenssachen sind mir die Juden zuviel Talmud,

die Christen zu sehr Talmi."

"Glaubst du, die Juden haben eine Mission?"

"Freilich! Die Mission, sich selbst zu überwinden. Alles hat die Mission, sich selbst zu überwinden. Wer von andern

überwunden wird, hat seine Mission verfehlt; wer seine Mission verfehlt, wird von andern überwunden. Wenn einer

sich selbst überwindet, merken die andern nichts davon; wenn aber einer die andern überwindet, wird der Himmel –

rot. Der Laie nennt diese 'Licht'erscheinung: Fortschritt. Ein Trottel hält ja auch bei einer Explosion das Feuerwerk für

das Wesentliche. – Aber verzeih, ich muß jetzt abbrechen", schloß Pfeill und sah auf die Uhr, "erstens muß ich

schleunigst nach Hause, und zweitens könnte ich auf die Dauer soviel Gescheitheit vor dir nicht verantworten. Also:

'Servus' – wie die Österreicher sagen, wenn sie das Gegenteil meinen – und falls du Lust hast, besuch mich recht bald

in Hilversum."

Er legte ein Geldstück auf den Tisch für den Kellner, winkte seinem Freunde lächelnd einen Gruß zu und schritt

hinaus.

Hauberrisser bemühte sich, seine Gedanken in Ordnung zu bringen.

"Träume ich denn noch immer?" fragte er sich voll Erstaunen. "Was war das? Zieht sich durch jedes Menschenleben

ein solcher roter Faden merkwürdiger Zufälle, oder bin ich der einzige, dem derartige Dinge passieren? Greifen die

Ringe der Geschehnisse vielleicht erst dann ineinander und bilden eine Kette, wenn man ihre Zusammenhänge nicht

dadurch stört, daß man sich Pläne schafft, denen man tölpelhaft nachjagt und infolgedessen das Schicksal in einzelne

Stücke reißt, die sonst ein fortlaufendes, wundersam gewebtes Band gebildet hätten?" –

Aus alter ererbter Gewohnheit und den Erfahrungen gemäß, die er bisher im Leben für – scheinbar richtig befunden

hatte, versuchte er, das gleichzeitige Auftauchen ein und desselben Bildes in seinem Gehirn und dem seines Freundes

auf Gedankenübertragung zurückzuführen und damit zu erklären, aber die Theorie wollte sich diesmal nicht mit der

Wirklichkeit decken wie sonst, wo er derlei Dinge auf die leichte Achsel genommen und sie möglichst rasch wieder zu

vergessen getrachtet hatte. Pfeills Erinnerung an das olivgrün schimmernde Gesicht mit der schwarzen Binde über der

Stirn hatte eine greifbare Grundlage gehabt: Ein Porträt, das angeblich in Leyden hing, – aber woraus war die

Traumvision, ebenfalls von einem olivgrün schimmernden Gesicht mit einer schwarzen Binde über der Stirn, die er kurz

vorher im Laden des Chidher Grün gehabt hatte, entsprossen?

"Die Wiederkehr des seltsamen Namens 'Chidher' in dem kurzen Zeitraum von einer Stunde, – einmal als

Firmenschild, dann als sagenhafte Bezeichnung für die Figur des Ewigen Juden, wunderbar genug ist es ja", sagte sich

Hauberrisser, "aber es gibt wohl wenig Menschen, die nicht derartige Beobachtungen in Menge gemacht hätten.

Woher es kommen mag, daß Namen, die man früher nie gehört hat, plötzlich serienweise auf einen losprasseln, daß

ferner die Leute auf der Gasse, wie das so häufig geschieht, einem Bekannten, den man jahrelang nicht mehr getroffen

hat, immer ähnlicher und ähnlicher sehen, bis er selbst gleich darauf um die Ecke biegt – ähnlich, nicht nur in der

Einbildung, nein: photographierbar ähnlich, so ähnlich, daß man an den Betreffenden denken muß, ob man will oder

nicht, – woher das alles kommen mag? Ob Menschen, die einander ähnlich sehen, nicht auch ein ähnliches Schicksal

haben? Wie oft habe ich es schon bestätigt gefunden. Das Schicksal scheint so etwas wie eine unvermeidliche

Begleiterscheinung der Körperbildung und Gesichtsform zu sein, an ein bis ins kleinste greifendes Gesetz der

Übereinstimmung gebunden. Eine Kugel kann nur rollen, ein Würfel nur kollern, warum sollte ein Lebewesen mit

seinem tausendfach komplizierten Dasein nicht mit ebenso gesetzmäßigen, aber nur tausendfach komplizierteren

Erlebnisvorausbestimmungen vor eine Deichsel gespannt sein! – Ich kann es sehr wohl verstehen, daß die alte

Astrologie nicht aussterben kann und heute vielleicht mehr Anhänger zählt, als jemals früher, und daß jeder zehnte sich

ein Horoskop stellen läßt; nur sind die Menschen offenbar auf dem Holzweg, wenn sie glauben, die sichtbaren Sterne

am Himmel bestimmten den Schicksalsweg. Es wird sich da um andere 'Planeten' handeln, um solche, die im Blut um

 

das Herz kreisen und andere Umlaufszeiten haben als die Himmelskörper: Jupiter, Saturn usw. – Wenn gleicher

Geburtsort, gleiche Geburtsstunde und Geburtsminute allein das entscheidende wären, wie könnte es dann sein, daß

Monstrositäten wie die zusammengewachsenen Schwestern Blaschek, die doch in derselben Sekunde geboren

wurden, ein so verschiedenes Schicksal hatten, daß die eine Mutter wurde und die andere Jungfrau blieb?

Ein Herr in weißem Flanellanzug, roter Krawatte, einen Panamahut ein wenig schief aufgesetzt, die Finger überladen

mit protzigen Ringen und ein Monokel ins dunkel glühende Auge geklemmt, war bereits vor längerer Zeit an einem

entfernten Tische hinter einer großen ungarischen Zeitung aufgetaucht und hatte sich nach mehrmaligem Platzwechsel –

als störe ihn überall die Zugluft – bis dicht an Hauberrisser herangepirscht, ohne daß ihn dieser in seinem Grübeln

bemerkt hätte.

Erst als der Fremde sich mit auffallend lauter Stimme beim Kellner nach Amsterdamer Vergnügungslokalen und

sonstigen Sehenswürdigkeiten erkundigte, wurde Hauberrisser aufmerksam, und der Eindruck der Außenwelt

scheuchte sofort seine tiefsinnigen Betrachtungen in das Dunkel zurück, aus dem sie aufgestiegen waren.

Ein schneller Blick überzeugte ihn, daß es der Herr "Professor" Zitter Arpád aus dem Vexiersalon war, der da so

sichtlich bestrebt schien, den gänzlich unorientierten, soeben erst aus der Eisenbahn gestiegenen Neuankömmling zu

spielen.

Wohl fehlte der Schnurrbart, und die Pomade war in ein neues Strombett geleitet worden, aber die Gaunervisage

des unverkennbaren "Preßburger Hähndelfangers" hatte dadurch nicht das mindeste an Ursprünglichkeit eingebüßt.

Hauberrisser war viel zu gut erzogen, um auch nur mit einem Wimpernzucken zu verraten, daß er sich erinnere, wen

er vor sich habe; überdies machte es ihm Spaß, die feinere List des Gebildeten der grobdrähtigen des Ungebildeten

entgegenzustellen, der immer und überall glaubt, eine Verkleidung sei gelungen, bloß weil der, dem die Täuschung

gelten soll, nicht sofort in komödiantenhaft plumpes Gebärdenspiel und Stirnrunzeln verfällt.

Daß der "Professor" ihm heimlich ins Café nachgegangen war und irgendeine balkanesische Halunkerei im Schilde

führte, stand für Hauberrisser außer Zweifel; um jedoch ganz sicher zu sein, daß ihm und nicht noch anderen der

Mummenschanz galt, machte er eine Bewegung, als wolle er zahlen und gehen. Sofort malte sich ärgerliche Bestürzung

in den Mienen des Herrn Zitter.

Hauberrisser schmunzelte befriedigt in sich hinein; "die Firma Chidher Grün – angenommen, der Herr Professor ist

tätiger Teilhaber – scheint ja über die mannigfaltigsten Hilfsmittel zu verfügen, wenn es gilt, ihre Kunden im Auge zu

behalten: – duftende Damen mit Pagenfrisur, fliegende Korke, gespenstische alte Juden, prophetische Totenköpfe und

weißgekleidete talentlose Spione! Allerhand Hochachtung!"

"Irgendeine Bank gibt es wohl hier in der Nähe nicht, Kellner, in der man ein paar englische Tausendpfundnoten in

holländisches Geld umwechseln lassen könnte, wie?" fragte der Professor nachlässig, aber wieder mit sehr lauter

Stimme und tat sehr ärgerlich, als er eine verneinende Antwort bekam. "In Amsterdam ist es scheinbar recht schljecht

mit dem Kljeingeld bestellt", brach er, halb zu Hauberrisser gewendet, ein Anknüpfungsgespräch vom Zaum. "Schon

im Hotel hatte ich Schwjierigkeiten damit."

Hauberrisser schwieg.

"Ja, hm, recht vjiel Schwjierigkeiten."

Hauberrisser ließ sich nicht erweichen.

"Zum Glück kannte der Hotelbesitzer meinen Stammsitz. – – – Graf Ciechonski, wenn ich mich vorstellen darf. Graf

Wlodzijmierz Ciechonski."

Hauberrisser verbeugte sich kaum merklich und murmelte seinen Namen so unverständlich wie nur möglich, der Graf

schien jedoch ein ungemein feines Ohr zu haben, denn er sprang freudig erregt auf, eilte zum Tisch, nahm sofort in

Pfeills leerem Sessel Platz und rief jubelnd: "Hauberrisser! Der berühmte Torpedoingenieur Hauberrisser? Graf

Ciechonski mein Name, Graf Wlodzimierz Ciechonski, Sie gestatten doch?"

Hauberrisser schüttelte lächelnd den Kopf. "Sie irren, ich war niemals Torpedoingenieur." ("Ein dummes Luder das",

setzte er innerlich hinzu, "schade, daß er den polnischen Grafen mimt; als Professor Zitter Arpád aus Preßburg wäre er

mir lieber gewesen; ich hätte ihn dann im Lauf der Zeit wenigstens über seinen Kompagnon Chidher Grün ausholen

können.")

"Njicht? Schade. Aber das macht nichts. Schon der Name Hauberrisser erweckt in mir, oh, so liebe Erinnerungen",

die Stimme des Grafen zitterte vor Rührung, – "er und der Name Eugène Louis Jean Joseph sind eng mit unserer

Familie verknüpft."

"Jetzt will er, daß ich frage, wer dieser Louis Eugène Joseph ist. Just nicht", dachte sich Hauberrisser und sog stumm

an seiner Zigarette.

"Eugène Jean Louis Joseph war nämlich mein Taufpate. Gleich darauf ging er nach Afrika in den Tod."

"Wahrscheinlich aus Gewissensbissen", brummte Hauberrisser in sich hinein. "So, hm, in den Tod, sehr bedauerlich."

"Ja leider, leider, leider. Eugène Louis Jean Joseph! Er hätte Kaiser von Frankreich sein können."

"Was hätte er?" – Hauberrisser glaubte falsch gehört zu haben – "Kaiser von Frankreich hätt' er sein können?"

"Sicherlich!" Stolz spielte Zitter Arpád seinen Trumpf aus: "Prinz Eugène Louis Jean Joseph Napoleon IV. Er fiel am

1. Juni 1879 im Kampf gegen die Zulus. Ich besitze sogar eine Locke von ihm", er zog eine goldene Taschenuhr von

Beefsteakgröße und geradezu teuflischer Geschmacklosigkeit hervor, öffnete den Deckel und deutete auf ein Büschel

schwarzer Pinselhaare. "Die Uhr ist auch von ihm. Ein Taufgeschenk. Ein Wunderwerk." Er erläuterte: "Wenn man hier

drückt, schlägt sie Stunden, Minuten und Sekunden, und gleichzeitig erscheint auf der Rückseite ein bewegliches

Liebespaar. Dieser Knopf löst die Rennzeiger aus; dieser stoppt sie; wenn man ihn weiter hinunterdrückt, erscheint das

jeweilige Mondviertel; noch tiefer hinein, und das Datum klappt auf. Dieser Hebel nach links, und ein Tropfen

Moschusparfüm spritzt hervor, – nach rechts, und es ertönt die Marseillaise. Es ist ein wahrhaft königliches Geschenk.

Es existieren im ganzen nur zwei Stück davon."

"Immerhin ein Trost", gab Hauberrisser höflich und doppeldeutig zu. Das Gemisch von bodenloser Frechheit und

gänzlicher Unkenntnis weltmännischer Umgangsformen belustigte ihn auf das höchste.

Graf Ciechonski, ermutigt durch die freundliche Miene des Ingenieurs, wurde immer zutraulicher, erzählte von seinen

immensen Gütern in Russisch-Polen, die leider durch den Krieg verwüstet wären, (zum Glück sei er nicht darauf

angewiesen, denn durch intime Beziehungen zu amerikanischen Börsenkreisen verdiente er in London mit

Spekulationen ein paar tausend Pfund im Monat) – kam auf Pferderennen zu sprechen und bestochene Jockeis, auf

Milliardärsbräute, die er zu Dutzenden kenne, auf spottbillige Territorien in Brasilien und im Ural, auf noch unbekannte

Petroleumquellen am Schwarzen Meer, auf ungeheuerliche Erfindungen, die er in der Hand hätte und die eine Million

täglich tragen müßten, – auf vergrabene Schätze, deren Besitzer geflohen oder gestorben seien, auf untrügliche

Methoden, im Roulette zu gewinnen, – erzählte von riesigen Spionagegeldern, die Japan vertrauenswürdigen Personen

auszuzahlen nur so brenne (natürlich müsse man zuerst Depot erlegen), schwätzte von unterirdischen Freudenhäusern

in den großen Städten, zu denen nur Eingeweihte Zutritt hätten, ja sogar vom Goldlande Ophir des Königs Salomo,

das, wie er ganz sicher aus Papieren seines Taufpaten Eugène Louis Jean Joseph wisse, im Zululande läge, berichtete

er bis ins kleinste genau.

Er war vielseitiger noch als seine Taschenuhr, warf tausend Angelhaken aus, einen plumper als den andern, um

seinen Fisch zu ködern; wie ein kurzsichtiger Einbrecher, der Dietrich um Dietrich am Türschloß eines Hauses probiert,

ohne das Schlüsselloch zu erwischen, tastete er die Seele Hauberrissers ab, aber es gelang ihm nicht, das Fenster zu

finden, durch das er hätte einsteigen können.

Endlich gab er es erschöpft auf und fragte Hauberrisser kleinlaut, ob dieser ihn nicht in irgendeinen vornehmen

Spielklub einführen möchte; doch auch hierin schlugen seine Hoffnungen fehl: Der Ingenieur entschuldigte sich damit,

daß er selber in Amsterdam fremd sei.

Mißmutig schlürfte er seinen Sherry-Cobler.

Hauberrisser betrachtete ihn sinnend. "Ob es nicht das gescheiteste wäre", überlegte er, "ich sagte ihm auf den Kopf

zu, daß er ein Taschenspieler ist. Ich gäbe etwas darum, wenn er mir sein Leben erzählte. Bunt genug mag es gewesen

sein. Eine Welt von Schmutz muß dieser Mensch schon durchwatet haben. Aber natürlich, er würde leugnen und