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Buch lesen: «Die Ahnen»

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Ingo und Ingraban

Ingo

1. Im Jahr 357

Auf der Berghöhe stand an dem Verhau, das die Wälder der Thüringe von den Katten schied, der junge Wächter und hütete den steilen Pfad, welcher aus den Gründen der Katten nach der Höhe führte. Über ihm ragte der Wipfel einer mächtigen Buche, nach beiden Seiten lief der Grenzzaun den Kamm der Berge entlang, in dem dichten Gestrüpp blühten die Brombeeren und die wilde Rose. Der Jüngling trug den Wurfspeer in der Hand, auf dem Rücken am Riemen ein langes Horn, nachlässig lehnte er an dem Baum und horchte auf die Stimme des Waldes, den pickenden Specht oder das leise Rasseln in den Zweigen, wenn sich ein Waldtier durch das Dickicht wand. Zuweilen sah er ungeduldig nach der Sonne und wandte den Blick zurück, wo hinter ihm in ferner Tallichtung Blockhäuser und Gehege für Herdenvieh lagen.

Plötzlich bog er sich vor und lauschte; auf dem Pfad vor ihm klang leiser Fußtritt, durch das Baumlaub wurde die Gestalt eines Mannes sichtbar, der mit schnellem Schritt zu ihm heraufstieg. Der Wächter drehte den Riemen des Hornes und faßte den Speer zum Wurfe; als der Mann aus dem Gehölz auf den freien Grenzrand trat, rief er ihn an, die Spitze des Wurfspeers entgegenhaltend: »Steh, Waldgänger, und singe den Spruch, der dich von meinem Eisen löst!« Der Fremde schwang sich hinter den letzten Baum seiner Seite, streckte die geöffnete Rechte vor sich und sprach hinüber: »Ich grüße dich friedlich, ein Landfremder bin ich, unkundig der Losung.«

Mißtrauisch rief der Wächter ihm entgegen: »Du kommst nicht wie ein Häuptling mit Roß und Gesinde, du trägst nicht den Heerschild eines Kriegers, auch scheinst du nicht ein wandernder Krämer mit Pack und Karren.« Und der Fremde rief zurück: »Weit komme ich her über Berg und Tal, mein Roß verlor ich im Wirbel des Stromes, ich suche das Gastrecht in deinen Höfen.«

»Bist du ein wildfremder Mann, so mußt du harren, bis meine Genossen dir das Land öffnen. Unterdes gib mir Frieden und nimm ihn von mir.«

Die Männer hatten einander mit scharfen Augen beobachtet, jetzt lehnten sie ihre Speere an die Grenzbäume, traten in den freien Raum und boten die Hände. Beim Handschlag prüfte einer des andern Antlitz und Gebärde. Der Wächter blickte mit ehrlicher Bewunderung auf den mächtigen Arm des Fremden, der wenige Jahre älter war als er selbst, auf die feste Haltung und die stolze Miene.

»Nicht mühelos wäre der Schwertkampf mit dir auf grünem Rasen,« sagte er treuherzig, »ich bin fast der längste Mann unserer Metbank und doch muß ich zu dir hinaufsehen. Sei gegrüßt unter meinem Baum und ruhe, indes ich deine Ankunft verkünde.«

Während der Fremde sorglos der Einladung folgte, hob der Wächter sein Horn an den Mund und blies einen lauten Ruf in die Täler seines Volkes. Die wilden Klänge tönten im Widerhall von den Bergen. Der Wächter schaute nach den Hütten der fernen Lichtung und nickte zufrieden mit dem Kopf, denn um die Häuser wurde eine Bewegung sichtbar; nach kurzer Zeit eilte ein Reiter der Höhe zu. »Nichts über einen starken Hall aus Auerhorn«, sprach er lächelnd und glitt neben dem Fremden in das Heidekraut, während sein schneller Blick den Aushau des Waldes entlang und in das fremde Tal vor ihm flog. »Sprich, Wandrer, ist vielleicht ein Verfolger auf deiner Fährte, oder hast du sonst Krieger im Walde gesehen?«

»Nichts schallt im Walde, als was hineingehört,« versetzte der Fremde, »kein Spürer der Katten achtete auf meinen Pfad seit sechs Nächten und Tagen.«

»Die Söhne der Katten kommen blind zur Welt, wie junge Hunde«, rief der Wächter verächtlich. »Dennoch meine ich, daß du dich gut auf Waldversteck verstehst, wenn du ihre Wachen vermieden hast.«

»Vor mir war Licht, hinter mir Finsternis«, antwortete stolz der Fremde. Der Wächter sah mit Anteil auf den Mann, in dem gebräunten Antlitz war jetzt deutlich die Erschöpfung zu sehen, der Leib lag schwer gegen den Baumstamm. Eine Weile überlegte der Wächter: »Hattest du die Rache der Katten zu fürchten, so hast du wohl auch tagelang Feuer und Rauch entbehrt und üble Reisekost gefunden, denn der Wald bietet jetzt nicht einmal Beeren und wilde Frucht. Sieh, ich gehöre zur Bank des Häuptlings, nicht weiß ich, ob er dir sein Brot und Salz reichen wird; aber hungernden Mann im Walde mag ich nicht schauen. Nimm und iß aus meinem Ranzen.« Der Wächter griff hinter den Baum, holte eine Tasche von Dachsfell hervor und bot darin Schwarzbrot und Fleisch. Der Fremde sah ihn dankbar an, aber er schwieg. Da hielt ihm der Wächter ein kleines Horn entgegen, öffnete den Holzdeckel und mahnte freundlich: »Nimm auch das Salz, unter dem Baum ist mein Heimwesen, hier bin ich der Wirt.« Der Fremde faßte danach: »Gesegnet sei dir die Gottesgabe, wir sind Freunde.« Er aß kräftig, der Jüngling sah ihm zufrieden zu.

»Wenn die milde Sonne ihre Strahlen durch das Baumlaub sendet, dann ist dein Wächteramt froher Dienst,« begann der Fremde endlich das Gespräch, »wenn aber der Wald tobt in der Sturmnacht, dann bedarf der Waldhüter Mut.«

»Der Grenzrain hier ist den guten Göttern des Volkes geweihet,« versetzte der Wächter, »von beiden Seiten rinnen die heiligen Quellen hinab in die Täler, wir Waldleute aber sind vertraut mit dem Nachtgesang der Bäume.«

»Du bist jung an Jahren,« fuhr der Fremde fort, »dein Herr schenkt dir großes Vertrauen, daß er dem Einsamen die Sorge um die Landesmark überläßt.«

»Es stehen der Männer mehr an dem Grenzzaun«, erklärte der Wächter. »Wir besorgen wenig von einem Einbruch der feindlichen Haufen durch den Bergwald, denn schwer wird es dem Fuß des Fremden, über Fels und Waldbach in die Gehege zu dringen. Aber das Gerücht kündet, daß vor kurzer Zeit ein heißer Krieg an der Römergrenze entbrannt ist zwischen den Alemannen und dem Cäsar, den sie Julianus nennen, und vor zehn Tagen fuhr bei uns zur Nachtzeit das wilde Heer des Gottes durch die Luft – er sah scheu in die Höhe – seitdem wahren wir die Landesmark.«

Der Fremde wandte das Haupt und blickte jetzt zum erstenmal hinüber nach dem Heimatland seines Gefährten. In vielen Reihen zogen sich die langgeschwungenen Berghöhen hintereinander, querdurch führte ein tiefes Tal, da wo es sich zu der Lichtung erweiterte, glänzte im Sonnenlicht der Schaum des Waldbachs.

»Und jetzt laß mich wissen, Gutgesell, wessen Zeichen du trägst, und wohin deine Weisung mich führt.«

»In allen Tälern, welche dein Auge sieht, und weiter bis in die Ebene hinab, waltet als Häuptling Herr Answald, der Sohn Irmfrieds, welchem auch ich diene.«

»In der Fremde vernahm ich, daß ein großer König über das Volk der Thüringe herrscht, sie nannten ihn König Bisino«, versetzte der Wanderer.

»Du hast das Richtige gehört«, bestätigte der Jüngling. »Aber dies Waldland hier ist frei unter seinem eigenen Herrengeschlecht seit alter Zeit, und der große König des Landes ist zufrieden, daß wir ihm die Grenze hüten und jedes Jahr Rosse an seinen Hof senden. Wenig sorgen wir Waldleute um den König, und unser Herr Answald geht nur selten zu Hofe nach der Königsburg.«

»Und zählt König Bisino eure Rinderherden nicht, die ich dort bei den Hütten sehe?« fragte der Fremde wieder.

»Hm, es war einmal Waffenlärm in den Dörfern, weil der König seine Eber unter unsern Eichen mästen wollte, auch kam dem König das Gelüst, den wilden Ochs in unsern Wäldern zu jagen, aber man hat nichts mehr davon gehört.«

Der Fremde sah ernsthaft in das Tal hinab: »Und wo ist der Hof deines Herrn?«

Der Wächter wies die Tallücke entlang. »Er liegt am Ausgang der Berge, für einen schnellen Wandrer drei Stunden talab, uns aber trägt ein Roß von der Weide in kürzerer Zeit dorthin. Hörst du den Hufschlag? Das Horn hat meinen Gesellen verkündet, daß ein Fremder zu geleiten ist; der mich ablöst, kommt.«

Den Bergweg trabte ein Reiter herauf, ein stattlicher Jüngling, dem Wächter ähnlich an Antlitz und Gebärde, er schwang sich vom Pferde und sprach leise mit seinem Gefährten. Der Wächter übergab ihm das Horn, warf die Ledertasche über die Schulter und bot das Pferd dem Fremden. »Ich folge deinem Schritt«, sagte dieser ablehnend; er grüßte mit Hand und Haupt den neuen Wächter, der ihn neugierig betrachtete, und wandte sich mit seinem Führer dem Tale zu.

Steilab führte der schmale Pfad zu dem gewundenen Lauf des Gießbaches, zwischen Baumriesen, deren lange Moosbärte grausilbern im Sonnenlicht glänzten, über Wurzeln, die wie riesige Schlangen auf dem Weg lagen und sich in hohem Bogen wanden, wo das Geröll, welches ehedem unter ihnen lag, vom Wasser fortgespült war. Am Rand des Baches hemmte Treibholz und gehäufte Menge trockener Binsen, dort hatte im Frühjahr die Wucht des Wassers geworfene Stämme an die Seite gefegt, daß sie wild durcheinanderlagen mit entlaubten Ästen; aber das Messer der Waldleute hatte einen schmalen Weg durch das Gewirr der Reiser gehauen. Mit beflügeltem Schritt eilten die Männer talab, sie sprangen in weitem Schwunge von Stein zu Stein, von Baum zu Baum, vorauf der junge Wächter; oft schwang er sich hoch durch die Luft, wie ein Federball im Wurfe talab gesendet lustig hüpft; und wo ein breites Rinnsal den Gang hinderte, wiederholte er den Sprung nach rückwärts, um seinem Gefährten Mut zu machen.

Dem Roß hatte er den Zügel über den Hals geworfen, folgsam wie ein Hund sprang es dem Manne nach; auch dem Hengst war der unebene Weg zum Spiele. Zufrieden maß der Wächter mit den Augen einen starken Schwung, den der Fremde über den Gießbach getan hatte, und betrachtete darauf die Fußtritte auf dem weichen Grund. »Du schreitest mächtig für einen müden Mann,« sagte er, »mich dünkt, du hast wohl schon früher weite Sprünge auf blutiger Heide gewagt. An deiner Spur sehe ich, daß du von unserem Volke bist, denn die Spitze des Fußes strebt auswärts und stark drückt der Ballen. Vordem hielt ich dich nach deiner Rede für einen fremdländischen Mann. Hast du einmal Römertritte geschaut?«

»Sie schreiten mit kleinem Fuß und kurzem Schritt auf ganzer Sohle wie müde Leute.«

»So sagen auch unsere Männer, die im Westen waren. Ich habe bisher nur waffenlose Händler des schwarzhaarigen Volkes gesehen«, fügte er entschuldigend hinzu.

»Mögen die Schicksalsfrauen den Römerfuß von eurem Grunde fernhalten«, antwortete der Fremde.

»Du sprichst wie unsere Alten; wir Jungen aber denken, kommen sie nicht zu uns, so kommen wir wohl zu ihnen, denn wundervoll soll ihr Land sein, alle Häuser von buntem Stein, das ganze Jahr mildes Sonnenlicht und im Winter grüne Erde; der süße Wein gemeiner als Dünnbier, von Silber die Sessel und Bänke, die Mädchen tanzen im Goldschmuck und seidenem Gewand und der Krieger ist ein Herr der ganzen Pracht.«

Vergebens erwartete der Wächter die Antwort des Fremden, sie schritten eine Weile stumm nebeneinander, endlich faßte der Jüngling das Roß beim Zügel: »Hier wird die Talfahrt wegsamer, steig auf, daß wir vor abends ans Ziel kommen.« Der Fremde legte die Hand auf den Widerrist des Pferdes und sprang wuchtig in den Sitz, der Führer nickte zufrieden und pfiff leise, das Roß trug den Reiter in großen Sätzen talab, der Jüngling lief zu Fuß nebenher, seinen Speer schwingend und bisweilen dem Roß zujauchzend, welches dann den Kopf zu ihm wandte und zur Antwort wieherte.

»Wer sind die Weiber dort in hellen Gewändern?« fragte der Fremde, als sie nahe der Lichtung auf einer Höhe anhielten und in das Gehege sahen. »Hui!« rief der Wächter, »die Mägde vom Herrenhofe sind gekommen, dort ist Fridas braune Kuh, hörst du die schöne Schelle, die ihr am Halse hängt, und dort ist das Mädchen selbst.« Sein gerötetes Gesicht verriet, daß ihm die Begegnung erfreulich war.

»Sieh die alten Hütten, in ihnen wohnt der Rinderhirt, im Sommer ziehen die Rinder des Dorfes auf Waldweide, und unsere Mädchen kommen und holen die Arbeit des Kellers nach dem Herrenhofe. Dort drüben aber im Buchenwalde haust der Schweinhirt mit seinem Volk, es gibt nicht schönere Mast im Lande, soweit die Sonne scheint.« Sie betraten die Lichtung, der Wächter entfernte die Stangen, welche den Eingang zum Rinderpferch verlegten, und der Fremde ritt in den umhegten Raum, wo die Kühe brüllend umherliefen, während die Frau des Hirten mit ihren Mägden das Milchgerät zum kühlen Keller trug, der aus Stein und Moos gefügt abwärts von der Sonne lange Reihen der Milchschüsseln bewahrte. »Gutes Glück, Fremdling,« rief der Wächter, »unser Herrenkind, Irmgard, ist selbst hier, um nach der Herde zu sehen; wird sie dir hold, so kannst du guter Pflege gewärtig sein.«

»Welche ist es, die du mit Namen nennst?« fragte der Fremde.

»Dort befiehlt sie den Mägden, du kennst sie leicht heraus.« Die Jungfrau stand bei dem Karren, der mit zwei Stieren bespannt den Gewinn der Milchkammer zum Herrenhof fahren sollte: festgeschlagene Butter in Fässern vom Holz des wilden Pflaumenbaums und kümmelgewürzten Käse in grüne Blätter gepackt.

»Geh zu ihr, Gesell, und künde, daß ein Fremder bittend naht. Ich scheue mich, das Kind deines Herrn anzureden, solange mir der Vater nicht den Herdsitz gestattet hat. Und da du freundlich gesinnt bist, sprich gut von mir, soweit du vermagst.« Der Fremde sprang vom Pferde und neigte sich der Jungfrau aus der Ferne.

Frei ringelten die gelben Locken um ihre hohe Gestalt, sie umsäumten die kräftigen Formen des jugendlichen Antlitzes und wallten lang herab bis an die Hüften. Ein silberbeschlagener Gürtel hielt das weiße Linnengewand zusammen, darüber trug sie ein kurzes Oberkleid von feiner Wolle, zierlich mit der Nadel gestickt, über dem Handgelenk der nackten Arme goldene Ringe. Aus großen Augen sah sie nach dem Fremden hinüber und erwiderte mit leisem Kopfnicken den ehrerbietigen Gruß.

Der Wächter trat zu dem Herrenkind: »Der Fremde sucht eine Ecke an unserer Bank und eine Herdstelle für sein wegemüdes Haupt; ich geleite ihn zum Hofe, daß der Herr über sein Schicksal entscheide.«

»Wir geben dem Wanderer Rast, den die Götter uns senden. Wer er auch sei, ob gut oder arg, der bittend unserem Herde naht, drei Tage hat er Gemach, dann fragt der Vater, ob er ein gerechter Mann ist und unseres Daches nicht unwert. Denn du weißt es ja selbst, Wolf, viel wildes Volk zieht elend durch das Land und trägt den Fluch, der an seinen Schritten haftet, in das Haus des ehrlichen Mannes.«

»Er sieht aus, wie einer, der sich ehrlich hält gegen Freund und Feind«, sprach der Wächter.

Die Jungfrau warf einen flüchtigen Blick auf den Fremden: »Wenn er sich so bewährt, wie du sagst, so mögen wir uns seiner Ankunft freuen. Reich ihm den Krug mit Milch, Frida!«

Der Fremde trank, und als er den Krug dankend an Frida zurückgab, sagte er: »Segen über deine milde Hand. Der erste Gruß im Lande war willig von warmherzigem Manne geboten, der zweite hier sei mir eine Verkündigung, daß ich auch im Herrenhause den Frieden finde, nach dem ich mich leidvoll sehne.«

Unterdes hatte der Wächter für sich eins von den Rossen eingefangen, welche in besonderem Gehege sprangen. Während er sich anschickte aufzusitzen, trat die rotwangige Frida zu ihm: »Glück hattest du, Wolf, im Schlafe,« spottete sie, »an dem Grenzdorn ist, da du ruhtest, ein fremder Vogel hängen geblieben. Wie war dein Schlummer, Wächter, auf dornigem Lager?«

»Die Eule ließ mich nicht schlafen, sie stöhnte über Frida, die bei Nacht am Zaune steht und rüttelt, um zu erfahren, von wannen ihr ein Hausherr kommen wird.«

»Ich aber sah einen Stieglitz auf dürrem Strauch, der sammelte alte Distelwolle zu einem Ehebett für den reichen Wolf.«

»Und ich weiß eine Stolze,« versetzte Wolf zornig, »welche Veilchen zertrat, die sie suchen sollte, und dabei in die Nesseln fiel.«

»In die Nesseln deines Ackers nicht, du dummer Wolf!« versetzte Frida zornig.

»Ich kenne eine, der ich den Ball nicht zuwerfe beim nächsten Reigen«, antwortete Wolf.

»Wenn der Wolf tanzt, fliegen die Gänse auf den Baum und lachen«, spottete Frida.

»Winde dir ein Kränzlein aus Haferstroh, Jungfer Gans«, rief Wolf vom Pferde zurück und trabte abwärts mit dem Fremden, der sich zartfühlend auf die Länge eines Speerwurfes von diesem Wechselgespräch entfernt hatte.

»Er ist ein unartiger Knabe«, klagte Frida der Herrin.

»Aus dem Walde schallte zurück, was du hineingerufen«, antwortete diese lachend. Und dem fremden Reiter nachsehend fuhr sie fort: »Er sieht aus wie ein Herr über viel Volk.«

»Und doch war sein Bundschuh zerrissen und die Jacke so reisemüde«, sagte Frida.

»Meinst du, daß der Fels nur die Füße des armseligen Wanderers schneidet? Wer weither kommt, von dem glauben wir, daß er viel gesehen hat und viel gewagt; es tut uns leid, wenn er ein arger Mann geworden ist aus Begehrlichkeit und Not, und wir wollten ihm gern Frieden geben, wenn wir es vermöchten.«

Die Sonne ging zur Rüste und die Bäume warfen lange Schatten auf den Weg, als die Reiter das Ende des Talgrundes erreichten. An beiden Seiten wichen die Berge zurück, längs dem Bache breiteten sich helles Gras und bunte Wiesenblumen, ein rothaariger Fuchs fuhr vor ihnen über den Pfad. »Der Rotkopf weiß, daß die Menschenwohnungen nahe sind,« sagte der Wächter, »er schleicht am liebsten, wo er den Hofgesang der Hähne hören kann.«

Vor ihnen lag im Abendlicht das Dorf, von Graben und baumbesetztem Wall umschlossen, durch die Lücken der Bäume sah man hier und da die weißen Giebel unter braunem Strohdach, und kleine Rauchwölkchen, die aus den Dächern aufstiegen. Seitwärts vom Dorfe erhob sich auf kleiner Anhöhe der Herrenhof, mit besonderem Pfahlwerk und Graben umgeben. Über die zahlreichen Häuser und Ställe des Hofes ragte hoch das Dach des Saals, der First mit schön geschnitzten Hörnern.

Auf dem Wiesengrund vor ihnen übte sich eine Schar Knaben im Kampfspiel, sie hatten ein hohes Gerüst gestellt und schwangen sich der Reihe nach hinauf und jauchzend wieder herab. Als die Reiter nahten, rannte der Haufe an den Weg und starrte trotzig auf den fremden Mann. Der Wächter rief einen Knaben und sprach leise zu ihm; der Knabe flog wie ein junger Hirsch in großen Sprüngen dem Herrenhofe zu, während die Reiter mit Mühe den Schritt ihrer unruhigen Pferde bändigten. Auf der Dorfstraße tanzten im Staube die kleinen Kinder den Ringelreigen, die Knaben nackt bis auf die Wolljacke, die kleinen Mädchen im weißen Hemde, sie stapften barbeinig im Staube und sangen. Der Ring löste sich, als die Reiter herankamen, an den Luken der Dorfhäuser wurden Frauenköpfe sichtbar, aus jeder Tür sprang eine Schar blauäugiger Kinder; auch Männer traten an die Tür und musterten mit Falkenblick das Aussehen des Fremden, und der Wächter verfehlte nicht, seinen Begleiter zu ermahnen, daß er hierhin und dorthin schaue und die Hausbewohner vom Pferde grüße, »denn,« sagte er, »freundlicher Gruß öffnet die Herzen und du magst die Gunst der Nachbarn bald gebrauchen.«

Unterdes war der Knabe in den Herrenhof gelaufen. Fürst Answald saß in der Holzlaube, dem schattigen Vorbau des Herrenhauses; er selbst war ein hoher Mann, breitschultrig, mit offenem Antlitz unter seinem grauen Haar, er trug die wollene Hausjacke über dem Hemde mit Biberfell besetzt, seine Lederstrümpfe mit bunten Riemen geschnürt, und nur die würdige Haltung und die Ehrfurcht, mit welcher die anderen zu ihm sprachen, ließen erkennen, daß er der Wirt war. So saß er umgeben von seinen Bankgenossen und schaute zufrieden auf zwei wohlgenährte Stiere, welche von den Knechten vorbeigetrieben wurden, weil sie zu Opfertieren ausgewählt waren für ein bevorstehendes Festmahl der Landgenossen. Der Knabe drängte sich behend an einen alten Mann mit klugem Gesichte, der zur Linken des Häuptlings stand und den Worten des Herrn höflich Antwort zu geben wußte, und kündete leise seine Botschaft. »Der junge Wolf führt einen Fremden her,« berichtete der Alte auf den fragenden Blick des Herrn, »der Mann kam ohne Geleit der Katten, ohne Roß und Kriegskleid, ein einzelner Mann aus dem Elend, er sucht das Gastrecht.«

»Bereitet ihm den Gruß in der Halle«, befahl Herr Answald gleichmütig und gab seinen Mannen ein Zeichen, daß sie sich entfernten. Und zu seinem Vertrauten sprach er: »Mit Sorgen seh‘ ich die fremden Strolche. Seit am Rhein der Römerkrieg aufgebrannt ist, fliegen heiße Funken durch das Land, und mancher Gesell, der Gewalttat gelitten, schweift durch die Länder und übt Frevel in bitterem Hasse.«

»Kommt er als Flüchtling aus dem Süden, so mag er Kunde wissen von dem Römerkrieg.«

»Er mag auch römische Untreue in das Land tragen. Die welsche Sitte schleicht wie eine Pest durch unsere Täler, sie hat die Burgen der Könige mit Übermut gefüllt. Auch unsere Herren möchten im Purpurkleide prangen und schurkische Leibwächter füttern, die ihr Messer dem freien Mann in den Rücken stoßen, wenn sein Antlitz ihrem Herrn verleidet ist. Doch komm, wer auch der Fremde sei: was einem darbenden Mann gebührt, soll ihm werden. Du aber sorge, durch kluge Rede sein Geheimnis zu ergründen.«

Der Häuptling trat in das Haus und setzte sich auf den Herrensitz, der geschnitzt aus Eichenholz der Tür gegenüberstand, belegt mit dem schwarzen Fell eines jungen Bären. Die Füße des Herrn ruhten auf einem Schemel, in der Hand hielt er den weißen Herrenstab.

Draußen am Hoftor stiegen die Reiter ab, der Fremde lehnte seinen Speer an den Pfosten und setzte sich schweigend auf den Sitz außerhalb des Tores. Der Sprecher trat heraus und lud ihn mit feierlichem Gruß vor den Herrensitz. Der Fremde trat hoch aufgerichtet auf die Schwelle des Hauses, er und der Häuptling blickten einander einen Augenblick forschend an und beiden gefiel, was sie sahen.

»Heil dir, Fürst Answald, Irmfrieds Sohn!«

»Heil sei auch dir!« klang es vom Herrensitz zurück.

»Spende wegemüdem Mann den Trunk aus deinem Born, die Frucht von deiner Flur, den Schirm deines Daches. Ich komme freundlos, heimatlos und schutzlos zu deinem Herde; verleihe mir, was dem Wanderer das Gastrecht deines Volkes gewährt.«

Hildebrand trat vor und sprach: »Der Fürst verleiht dir nach des Volkes Brauch drei Tage Rast, drei Tage Kost, dann fragt der Fürst das Volk nach seinem Willen. – Tragt ihm den Sitz zum Herd, ihr Knaben, und bietet ihm die Gaben der Götter.«

Drei Jünglinge trugen das Gerät, der eine den Schemel, auf dem der Fremde niedersaß, der andere in zwei Schalen Brot und Salz, der dritte einen Holzkrug, mit dunklem Bier gefüllt. Dieser bot den Trunk zuerst dem Fürsten, der den Krug mit den Lippen berührte, dann dem Fremden. Darauf gab der Sprecher dem Gefolge einen Wink und alle verließen den Raum.

»Und jetzt, Wanderer,« begann Hildebrand zu den Füßen des Fürsten niedersitzend mit vertraulichen Worten, »da du Sicherheit gewonnen hast für Leib und Glieder, so gib auch uns Bericht, soweit du vermagst, wenn du etwas hinter unseren Bergen geschaut und gehört hast, was uns zum Nutzen sein kann und dir nicht zum Schaden. Denn es ist sorgenvolle Zeit, und der vorsichtige Wirt müht sich, Kunde zu holen von bewanderten Männern. Willst du erzählen, wenn die Götter dir verliehen haben, daß sich deine Worte willig auf der Zunge zueinander fügen; oder soll ich fragen, was zu erfahren uns not tut?«

Der Fremde erhob sich: »Ich trage Kunde, die das Herz der Männer bewegt, nicht weiß ich, ob sie euch Freude bereitet oder Trauer. Eine Schlacht ist geschlagen, die größte seit Menschengedenken. Die Wölfe heulen auf der Walstatt, und die Raben fliegen über das Gebein der Alemannen, denen unser Gott den Sieg versagt hat. Die Franken haben dem Römer die Schlacht gewonnen, die Könige der Alemannen Hnodomar und Athanarich sind gefangen, mit ihnen viele Königskinder; die Heerscharen des Cäsars brennen in den Tälern des Schwarzwaldes bis an den Main und treiben die Gefangenen zu Hauf. Der Cäsar ist mächtig geworden über das Grenzland, man sagt, daß die Katten Gesandte in sein Lager geschickt haben, um ein Bündnis zu bieten.«

Ein tiefes Schweigen folgte diesen aufregenden Worten. Fürst Answald sah finster vor sich nieder, auch Hildebrand hatte Mühe, seine Bewegung zu verbergen.

»Wir haben Frieden mit Römern und Alemannen«, sagte er endlich vorsichtig; »und der Thüring fürchtet nicht die Macht des Cäsars. Du selbst aber warst, wie ich erkenne, in der Nähe, als die Schlacht geschlagen wurde, und du hast seitdem die Dörfer der Katten gemieden, die doch, wie du sagst, den Römern wohlgeneigt sind. Ich frage dich nicht, wem du den Sieg gewünscht hast.«

»Ich gebe Bescheid ohne Frage,« rief der Fremde stolz, »ich habe nicht Römersold genommen.«

Ein Strahl von Wohlwollen brach aus den Augen des Häuptlings. »Du bist kein Alemanne,« sagte er, »du bist nach deiner Sprache von den Kindern unseres Gottes, die fern im Osten wohnen.«

»Ein Vandale von der Oder«, versetzte der Fremde rasch.

»Es ist ein weiter Weg von deinem Heimatland bis zu der Walstatt am Rhein, Wanderer. Hat auch dein Volk seine Krieger in den Streit gesendet?«

»Ich kam an den Rhein ohne meine Landgenossen, ein schweres Geschick trieb mich aus meiner Heimat Flur.«

»Ein schweres Geschick bereitet ein Gott oder des Mannes trotziger Mut. Möge dein Herz nicht bedrücken, was dich aus der Heimat gescheucht hat.«

Der Fremde neigte dankend das Haupt. »Des Gastes Sorge ist, daß er seinem Wirt gefalle; verzeih, wenn ich suche, was dir den Fremden vertraulich macht. Ich habe in meiner Heimat ein Lied des Sängers gehört, daß zu der Väter Zeit ein Held aus Thüringeland unter den Kriegern meines Volks gegen die Römer kämpfte, weit südwärts an der Donau. Irmfried war sein Name.«

Der Fürst richtete sich im Sessel hoch auf und sprach: »Seine Hand lag segnend auf meinem Haupt, er war mein Vater.«

»Blutbruder wurde er einem Krieger meines Volkes. Als der Fürst aus meiner Heimat schied, zerbrach er mit starker Hand ein römisches Goldstück und ließ die Hälfte zurück, daß sie ein Zeichen der Gastfreundschaft für spätere Geschlechter sei. Ist die eine Hälfte des Goldstücks dein, so ist die andere mein.«

Er hielt das helle Goldblech dem Fürsten hin. Herr Answald fuhr heftig vom Stuhle und prüfte das Stück am Licht. »Still,« rief er gebietend, »keiner spreche ein Wort. Geh, Hildebrand, und trage deiner Herrin das Wahrzeichen, daß sie es an die andere Hälfte halte; und sage ihr, daß sie allein sei, wenn ich einen Fremden zu ihr führe.« Hildebrand eilte hinaus, der Wirt trat nahe an den Gast und betrachtete ihn erstaunt vom Kopf bis zum Fuß: »Wer bist du, Mann, der mir so hohen Gruß in das Haus trägt?« und freudig fuhr er fort: »Nicht tut es not, das Zeichen zu suchen, seit du die Schwelle betratest, hast du mir das Herz erregt. Komm, Held, daß du mir da deinen Namen kündest, wo die beiden Hälften des geheimen Zeichens sich zusammenfügen.« Er schritt eilig voran, der Fremde folgte.

In ihrem Gemach stand Frau Gundrun, die Fürstin, und hielt die beiden Hälften des Goldstücks aneinander. »Hier sind zwei Ähren von einem Halme,« rief sie dem Gemahl entgegen, »was du mir sandtest, ist König Ingberts Zeichen.«

»Und der sich dem Knie der Herrin naht,« sprach der Fremde, »ist Ingo, König Ingberts Sohn.«

Langes Schweigen folgte dem Ausruf, die Hausfrau sah scheu auf den stolzen Krieger, auf das edle Antlitz, die königliche Gestalt, und sie neigte sich tief zum Gruß; der Fürst aber rief bekümmert: »Oft habe ich gewünscht, das Antlitz der Gastfreunde zu sehen, der erlauchten Helden aus Göttergeschlecht; von reichem Hofhalt hat mir der Vater erzählt, von mächtigem Gefolge in glänzendem Stahlhemd. Aber anders fügten die hohen Gewalten das Wiedersehen. Im Wanderkleide, als werbenden Fremdling schau‘ ich den großen Volkskönig und Schrecken fühle ich im Herzen. Gutes bedeute die Stunde, wo ich dein Antlitz schaue. Dennoch gedenke ich, daß ich dir ehrbar meine Treue erweise.«

»Ich aber komme nicht als Glücklicher zu dir und der Herrin,« sprach Ingo ernsthaft, »ein Flüchtling bin ich und nicht will ich, mein Schicksal hehlend, deinen Schutz erschleichen. Aus der Heimat bin ich getrieben von dem eigenen Ohm, der nach des Vaters Tode dem Knaben die Krone nahm, mühsam haben getreue Männer mich geborgen, bis ich zum Manne wuchs; Gefahr ist mein Los, des Königs Boten sind mir gefolgt von Volk zu Volk, sie boten Geschenke und forderten meinen Leib. Mit dem kleinen Haufen der Getreuen fuhr ich zum Kampf der Alemannen, ihre großen Könige waren mir hold, am Schlachttag führte ich einen Haufen ihres Volks. Jetzt sucht der Cäsar siegesstolz nach denen, die sich ihm nicht barfuß unterwerfen. Weit reicht seine Macht in den Königsburgen, ich sah die Boten deiner Nachbarn, der Katten, mit dem Friedenszeichen zum Rhein reiten, und ich bin darum sechs Tage und Nächte heimlich auf Wolfespfad durch ihre Gaue gezogen, fast ein Wunder war‘s, daß ich ihnen entrann. Das sollst du wissen, bevor du sprichst: Sei Ingo mir willkommen.«

Der Wirt stand unsicher und suchte das Auge seiner Hausfrau, welche in dem Sessel saß und vor sich niederblickte: »Was ehrlich ist und was die Eide gebieten, das tu ich«, sagte Herr Answald endlich, und die Wolke wich von seinem Antlitz: »Sei mir willkommen, Ingo, Königssohn.«

»Edlen Sinn verrätst du, Held,« begann die Fürstin, »daß du dich scheust, Gefahr in den Hof deines Gastfreundes zu leiten. Uns aber ziemt zu erwägen, wie wir zugleich dir Treue erweisen und unsere Höfe vor der Gefahr beschützen. Weit schallt der Name eines Königs durch die Lande, und viele Feinde umlauern den Helden, der unter Krone geht, du selbst hast es leidvoll erfahren. Drum meine ich, nur Vorsicht hilft dir und uns zum Heile. Und darf ich meinem Hausherrn treue Meinung sagen, so dünkt mir gut, daß dein Gast unbekannt in deinem Hause weile und keiner von seiner Herkunft wisse, als du und ich allein.«

»Soll ich im eigenen Hause den werten Gast verstecken?« rief der Wirt unwillig, »ich bin kein Diener, nicht des Cäsars, nicht der Katten.«

»Auch der König der Thüringe speist seine Mahlzeit gern aus den goldenen Schüsseln, welche Römerkunst gefertigt hat,« fuhr die Hausfrau fort, »hüte dich, des Königs Argwohn zu wecken.«

Der Gast stand unbeweglich, und vergebens suchte die Fürstin seine Meinung zu erkennen.

»Schwer ist es, edles Blut im Dienerkleid zu bergen«, wandte Herr Answald ein.

»Auch Held Siegfried, von dem der Sänger meldet, stand im Knechtsgewand am Amboß.«

»Und schlug zuletzt den Amboß in den Grund und den Schmied dazu«, rief der Wirt. »Sprich Ingo selbst, wie willst du, daß wir dich halten?«

Altersbeschränkung:
12+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
04 Oktober 2016
Umfang:
2310 S. 1 Illustration
Rechteinhaber:
Public Domain
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