Buch lesen: «Niccoló und die drei Schönen»
Gunter Preuß
NICCOLÒ
und die drei Schönen
pernobilis edition
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Copyright (2014)
pernobilis edition
im
Engelsdorfer Verlag
Alle Rechte beim Autor
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
Die Liebe allein versteht das Geheimnis,
andere zu beschenken
und dabei selbst reich zu werden.
(Clemens Brentano)
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Zitat
1. Teil: Paula Klett
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2. Teil: Imke Liebstöckel
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3. Teil: Niccolò und Rebekka Mandelstern
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1. Teil: Paula Klette
1.
Niccolò drückte die Tür des Häuschens hinter sich zu, in dem er mit seiner Mutter und seinem Großvater wohnte. Hüpfend lief er die abschüssige Straße hinunter. Sie führte aus der Siedlung zur kleinen Stadt Scheunitz, die sich am Rand des Auenwaldes lang und schmal hinzog. Auf der einen Seite seines Schulwegs standen Einfamilienhäusern, vor denen hinter niedrigen Zäunen frisch gepflanzte Stiefmütterchen und Primeln dem andauernden Wintergrau bunte Tupfer aufsetzten. Auf der anderen Seite breitete sich ein dunkelerdiges Feld aus, auf dem es grün spross. Am Horizont waren die Spitzen der beiden Hochhäuser der Großstadt L. zu sehen.
Der frühe Morgen war ganz nach Niccolòs Geschmack. Die Sonne stieg wie ein orangefarbener Fesselballon auf. Obwohl der Frühling nach dem Kalender noch nicht begonnen hatte, würde es heute wohl warm werden. Niccolò liebte die Sonne. Aber er mochte auch den Regen. Ihm gefielen die Blumen, die Tiere, und überhaupt das ganze Leben. Doch am meisten liebte er seine Mutter. Gleich danach kam der Großvater. Den dritten Platz hatte bisher sein Freund Ole Grabow eingenommen. Niccolò wusste nur nicht, wie er die drei Schönen, die sich plötzlich in sein Leben gedrängt hatten, einordnen sollte.
Niccolò war zwölf Jahre alt. Bisher hatte er sich wie alle Jungen seines Alters hauptsächlich für die Fußballbundesliga, die Autorennen der Formel 1 und Computerspiele interessiert. Etwas Aufregenderes als ein Championligaspiel zwischen Bayern München und Manchester United hatte er sich nicht vorstellen können. Doch dann hatte sein Herz innerhalb von ein paar Wochen dreimal heftig zu klopfen begonnen. Das Blut war ihm in den Kopf geschossen, als hätte einer seiner brasilianischen Lieblingsfußballer gerade ein Traumtor erzielt.
Den ersten „Schwindelanfall“ hatte er bei der Weihnachtsfeier in der Schule bekommen. Da hatte er noch geglaubt, dass dahinter eine Erkältung steckte und ein plötzliches Fieber ihn verwirrte. Alle Schüler und Lehrer hatten sich vor den Ferien in der Aula versammelt. Die kleine Bühne war weihnachtlich geschmückt. Der Schulchor sang alte und neue Weihnachtslieder. Niccolò hatte leise mitgesungen. Doch dann hatte er nur noch eine Stimme gehört. Hell und weit schwingend, wie Glockenläuten in einer Sternennacht, hatte sie geklungen – „ ... Al-les schläft, ein-sam wacht nur das trau-te, hochhei-li-ge Paar. Hol-der Knabe im lok-ki-gen Haar, schlaf in himm-li-scher Ruh, schlaf in himm-li-scher Ruh! ...“
Er war auf seinen Stuhl gestiegen und hatte die Bühne abgesucht. Die Aufregung hatte ihn heftig schlucken lassen, seine Kehle war trocken, und hinter der Stirn schienen ihn tausend Nadeln zu pieken. Einen Sänger nach dem anderen sortierte er aus, und mit einmal war er sich sicher: Ihr gehörte die traumhafte Stimme! Bevor die Feier zu Ende war, hatte er herausgefunden, wer sie war: Imke Liebstöckel, eine Schülerin der zehnten Klasse.
Nach den Weihnachtsferien, er war noch immer von Imke beeindruckt, da erlitt er den zweiten Schwindelanfall. Die untersten Klassen hatten eine neue Lehrerin bekommen. Die Jungen aus den höheren Klassen schickten scharfe Pfiffe hinter ihr her, wenn sie auf hochhackigen Schuhen, in einem glänzend schwarzen Lederrock und hautengem dunkelrotem Pulli vorbeiklackte. Sie nannten sie, wenn sie unter sich waren, nach dem mexikanischen Vulkan „Señorita Popocatepetl“. Mehr noch als von den anderen äußeren Reizen der neuen Lehrerin, fühlte Niccolò sich von ihren geheimnisvollen dunklen Augen angezogen. Einmal war er ihr ziemlich nahe gekommen, als sie in einer Unterrichtspause über den langen Schulflur durch eine enge Gasse von gaffenden und pfeifenden Jungen gehen musste. Der Stoß Bücher, den sie vor sich hertrug, war ihr aus den Händen gerutscht. Niccolò sprang hinzu und half ihr die Bücher aufzusammeln. Sie knieten einander gegenüber, beim Vorbeugen stießen ihre Stirnen zusammen und sie mussten lachen. Als die junge Frau längst im Lehrerzimmer verschwunden war, atmete Niccolò noch ihren Duft, der ihn in Unruhe versetzte. Die zweite Schöne hieß Rebekka Mandelstern und war erst vor ein paar Jahren von Israel nach Deutschland gekommen. Sie hatte hier studiert und unterrichtete nun an ihrer ersten Schule. Mehr konnte Niccolò erst einmal nicht über sie erfahren.
Keine Woche später war Niccolò zum dritten Mal ins Schlingern gekommen, als wäre er ein winziges Schiff, das auf hoher See in einen Sturm geraten war. Das passierte in der Hofpause. Niccolò und sein Freund Ole waren einem Papierflieger nachgerannt, den der Wind über den Schulhof trieb. Ole, lang aufgeschossen, mit Burattinonase, war plötzlich stehen geblieben, weil er sich wohl schämte, wie ein Erstklässler umherzuhaschen. Doch Niccolò war weitergerannt und hatte in hohen Sprüngen nach dem wirbelnden Papier gegriffen. Dann war er mit irgendetwas zusammengestoßen.
Als er die Augen wieder öffnete, saß er neben Paula Klette auf dem Schulhof. Seit seiner Einschulung ging er mit ihr in dieselbe Klasse. Im Klassenzimmer saß sie eine Reihe vor ihm. In all den Jahren hatten sie nur ein paar Worte miteinander gewechselt.
Paula Klettes Augen rollten zornig hinter ihrer roten Herzbrille.
„He, kannst du denn nicht aufpassen, Rosenbusch!“
„Tut mir leid, Klette. Tut’s denn weh?“
„Du kannst vielleicht dreimal bekloppte Fragen stellen. Das wird bestimmt eine Beule wie ein Riesenkürbis. Warum musst du auch herumspringen wie ein verliebter Affe.“
„Wie springt denn der?“ Niccolò drückte die Faust auf seine schmerzende Stirn. Die zierliche Paula Klette hatte einen ziemlich harten Kopf.
„Der Affe springt gerade so wie du“, sagte Paula und kicherte.
„Aber ich bin überhaupt nicht verliebt“, entgegnete Niccolò.
„Und warum wirst du dann rot wie ein Feuerwehrauto?“
Niccolò stand auf, reichte Paula die Hand und zog sie hoch. Er wünschte „Gute Besserung“ und ging zu Ole, der in der Nähe der Großen stand, um ihre Gespräche aufzuschnappen.
„Welcher Intercity war denn da entgleist?“, wollte Ole wissen. Niccolò zuckte nur mit den Schultern.
In der nächsten Unterrichtsstunde starrte Niccolò auf Paulas Hinterkopf, bis sie sich umdrehte und fragte: „Ist bei dir vielleicht ein Backenzahn locker?“
„Nein, das nicht.“ Niccolò hielt seine kühlen Handflächen auf die heißen Wangen gepresst und schüttelte heftig den Kopf.
Nachts und auch am Tag träumte Niccolò von einer der drei Schönen. Da sang er mit Imke Liebstöckel im Duett die neusten Popsongs. Oder er übte mit Rebekka Mandelstern Schnellrechnen, und sie fragte ihn: „Na, Niccolò, wie viel ist 3’704 mal 8’592?“ Er sah in ihre schwarzen Augen und fand die Antwort: „31’824’768!“ Und dann wieder probierte er mit Paula Klette in einem Optikergeschäft Brillen, bis es ihm schwindlig wurde.
War es denn möglich, dass ihn die Liebe erwischt hatte? Im Fernsehen und im Kino hatte er jede Menge Liebesgeschichten gesehen. Das war ihm immer ziemlich langweilig gewesen. Er hatte nicht verstehen können, dass am nächsten Schultag die Mädchen über ihre Filmhelden schwärmten und manchmal sogar in Tränen ausbrachen. Noch nie hatte er davon gehört, dass ein Junge drei Mädchen geliebt hätte. Da war er aber in eine verrückte Geschichte hineingeraten. Er hatte absolut keine Ahnung, wie das weitergehen sollte.
Niccolò drehte sich auf seinem Schulweg immer wieder im Kreis und hielt Ausschau nach Paula Klette. Sie wohnte auch in der Siedlung und hatte denselben Schulweg wie er. Er hatte noch nicht herausbekommen, um welche Zeit sie am Morgen das Haus verließ. Ob er sich nun früher oder später auf den Weg machte – einmal war sie vor ihm im Klassenzimmer und das andere Mal später.
Auch ihr Lachen, dass gewöhnlich weithin schallte, war nicht zu hören. Es gehörte zu ihr wie die blonden Igelhaare und die Brille, deren Gläser in Herzform rot umrahmt waren. Niccolò hatte Paulas Lachen früher dumm gefunden. Jetzt fand er ihr Lachen einfach großartig. Jedes Mal war es ihm, als würde er ein Schwall Wasser abbekommen, in dem bunte Fische zappelten.
„He, Niccolò! Alter, hier bin ich!“
Ole saß auf einem Pfeiler des Friedhofzauns. Er ruderte mit den langen Armen, seine schrille Stimme klang mal wieder, als sei gerade Fürchterliches passiert.
Niccolò griff in die Schulterriemen seiner Schultasche und begann zu rennen.
2.
„Hierher!“, rief Ole und rutschte beiseite, damit Niccolò sich neben ihn auf den Pfeiler setzen konnte.
„Hier gibt’s was zu sehen“, sagte Ole. „Mach’s dir bequem?“
„Was gibt es denn schon zu sehen?“
Schüler aus verschiedenen Klassen standen zusammen, sie lachten und schrien durcheinander. Paula war nicht darunter. Niccolò sagte missmutig: „Der Unterricht fängt gleich an.“
„Unterricht haben wir jeden Tag“, erklärte Ole. Seine spitze Nase schnüffelte neugierig. „Aber hier passiert gerade ein Verbrechen.“
„Was spinnst du dir denn da wieder zurecht, Mann?“
Gegenüber dem Schülerpulk stand am Feldrand ein alter Lindenbaum. Ein Schäferhund sprang kläffend und zwischendrin aufjaulend am Stamm hoch. Die Zweige der Linde waren noch kahl. Im oberen Geäst entdeckte Niccolò eine graugetigerte Katze, die sich wie zu einem Ball zusammengerollt hatte.
„Pass jetzt auf“, sagte Ole. „Der Weimann aus der Zehnten wirft gut. Peng! Der hat gesessen!“
Die Wucht des Steins riss die Katze fast vom Ast. Ihre Vorderpfoten krallten noch im Holz, der Körper pendelt lang gestreckt hin und her, und erst nach Sekunden gelang es dem Tier, sich auf den Ast zurückzuziehen. Doch schon warf der nächste Junge unter dem Gejohle der anderen einen Stein, der sein Ziel aber verfehlte und mit Pfiffen quittiert wurde.
„Der Hauswald ist doch wohl blind“, meinte Ole. „Mal sehen, ob es Rudigkeit hinkriegt.“
Der Stein streifte die Katze nur. Sie stieß einen klagenden lang gezogenen Ton aus, der selbst das wilde Bellen des Schäferhundes und das Gegröle der Meute übertönte.
Niccolò drückte sich die Hände auf die Ohren und sah sich hilfesuchend um. Auf der Straße fuhren Autos langsam vorbei, weil sie am Bahnübergang stoppen mussten. Andere Erwachsene waren mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit, oder sie beeilten sich zu Fuß die nächste Straßenbahn zu erreichen. Keiner von ihnen schien die Steinigung der Katze zu bemerken.
„Das Katzenviech macht’s nicht mehr lange“, sagte Ole erregt. „Entweder ein Volltreffer erwischt sie. Oder der Köter beißt sie kaputt.“
„Nein“, widersprach Niccolò leise. „Nein, nein.“
„Misch dich da bloß nicht ein“, warnte Ole. „Oder bist du vielleicht lebensmüde? Die nehmen dich glatt auseinander. Und ich darf dich dann wieder zusammenbauen.“
Niccolò fröstelte, er schüttelte Oles Hand ab und rutschte vom Pfeiler. Ein Auto hielt gegenüber der Linde. Paula stieg aus, warf die Tür zu und stellte sich in die kleinere Gruppe der Mädchen, die den Steinewerfern zuschauten. Das Auto hupte kurz und fuhr weiter.
Niccolò sprang vom Zaunpfeiler und lief zu den anderen hinüber. Ole rief ihm hinterher: „Bleib hier, Niccolò! Sei doch nicht blöd! Du sollst hier bleiben, du Doofmann!“
Ein schmächtiger Junge hatte einem riesigen Jungen aus der Zehnten, der nach einem Filmmonster Godzilla genannt wurde, einen faustgroßen Stein in die Hand gedrückt. Godzilla wog den Stein in seiner Pranke und lachte siegessicher.
„Nun drück schon ab, Godzilla!“, drängte es aus der Gruppe. „Hau das Ding vom Ast!“
Godzilla holte mit dem Wurfarm weit aus. Da stellte sich Niccolò vor ihn. Der große Junge sagte ärgerlich: „Verschwinde, du Laus.“
Niccolò gehörte zu den Kleinsten in seiner Klasse und war auch sonst nicht von starkem Körperbau; er stellte sich auf Zehenspitzen und streckte beide Arme hoch. Er sagte ruhig, denn das Zittern und die Übelkeit waren nun verschwunden: „Hör auf damit. Bitte.“
Godzilla musterte ihn erstaunt und brach dann in dröhnendes Gelächter aus, in das die anderen einstimmten. Als Godzilla verstummte, schwieg auch sein Publikum. Der Junge sagte mit Bassstimme, die bei den Selbstlauten piepste: „Nun schieb schon ab, du Laus.“
Dann senkte er den Arm, schüttelte ihn und holte erneut zum Wurf aus. Doch Niccolò stand noch immer zwischen ihm und seinem Ziel.
„He“, sagte Godzilla unwirsch. „Was willst du eigentlich, kleiner Skunk?“
Ole hatte sich herangeschlichen, er kauerte hinter Niccolò, zupfte ihn an der Jacke und flüsterte heiser: „Komm endlich, Niccolò! Bei drei hauen wir ab! Auf mein Kommando: Eins – zwei – und drei!“
Ole rannte mit Indianergeheul davon. Niccolò rührte sich nicht vom Fleck. Er sagte: „Ich möchte, dass du die Katze in Ruhe lässt.“
„Und du meinst, irgendein Hosenscheißer kann mir irgendwas befehlen, was?“
„Ich habe bitte gesagt.“
„Du hast also bitte gesagt“, sagte Godzilla. „Und dafür soll ich dir wohl ein Mountainbike kaufen und dich jeden Abend in den Schlaf singen, was?“
„Nein“, sagte Niccolò. „Du sollst nur die Katze in Ruhe lassen.“
„Weißt du, dass du Laus mir langsam den Nerv tötest?“
„Bitte“, sagte Niccolò eindringlich. „Bitte hör auf damit.“
Godzilla sah ärgerlich und zugleich belustigt auf Niccolò herunter. Am liebsten hätte er wohl den Stein fallen und die Katze, die ihn ohnehin nicht interessierte, auf dem blöden Baum sitzen lassen. Aber da waren noch die anderen, Mädchen und Jungen, die ihn drängten, endlich zu werfen. Vor allem war da noch Lottelore, die den Spitznamen Loreley hatte, wie die Nixe auf dem Rheinfelsen, die mit ihrem Gesang die Fischer ins Verderben gelockt hatte. Auch von Lottelore hieß es, dass sie zuerst die Männer mit ihrer Schönheit verzauberte und dann unglücklich machte. Tatsächlich stöhnte mancher Junge, als hätte er Bauchkrämpfe, wenn Loreley in seiner Nähe war.
Loreley lehnte lässig an einem Gartenzaun, kämmte ihre über die Schultern fallenden roten Haare, blätterte dann in einer Illustrierten, rauchte und gähnte herzhaft.
Godzilla schaute zwischen Niccolò und Loreley hin und her. Dann sagte er wütend: „Na, dann sag hundertmal bitte. Nein, tausendmal. Aber beeile dich. Wegen dir Laus will ich mir keinen Bruch stehen.“
„Bitte“, sagte Niccolò, „bitte, bitte, bitte ...“, und in Gedanken zählte er mit. Er hatte zum elften Mal „bitte“ gesprochen, da brüllte Godzilla mit sich überschlagender Stimme: „Schafft mir diesen Skunk aus dem Weg! Haut ihm von mir aus die Ohren ab!“
Godzilla ließ den Stein fallen, wischte sich die Handflächen an seiner Lederjacke ab und stakste breitbeinig zu Loreley. Er legte ihr einen Arm um die Schultern, ließ sich eine angerauchte Zigarette zwischen die Lippen stecken und ging gemächlich mit seiner Freundin in Richtung Schule.
Ein Mädchen packte Niccolò bei den Haaren. Ein paar Jungen boxten auf ihn ein. Niccolò versuchte den Schlägen auszuweichen. Er krümmte sich, die Beine knickten ihm weg, er sackte auf den Erdboden. Da ließ die Meute von ihm ab und lief mit Geschrei weg.
Niccolò blieb noch ein paar Sekunden liegen. Die plötzliche Ruhe tat ihm gut. Erst jetzt spürte er bohrenden Schmerz im Kopf und im Bauch. Dann stützte er sich auf die Knie und stemmte sich hoch, bis er endlich auf beiden Beinen stand. Sein erster Blick galt der Katze. Sie saß in der Astgabel und leckte sich das Fell.
Niccolò lächelte. Er schaute sich um – Paula Klette war verschwunden. Von Ole war weit und breit nichts zu sehen. Auch der Schäferhund war weggelaufen.
Niccolò klopfte seine Sachen ab, rückte die Schultasche auf den Schultern zurecht und rannte hinkend zur Schule.
3.
Die Lessing-Schule stand an der vielbefahrenen Fernstraße. Nur ein paar Schritte entfernt gab es einen Metzger und Bäcker, eine Drogerie und den Friseur- und Kosmetiksalon „Elegant“. Hinter dem roten Klinkerbau der Schule befanden sich ehemalige Bauernhäuser, die in den letzten Jahren neue Dächer und helle Anstriche bekommen hatten. Ein steil abfallender Weg führte an einer kleinen Kirche, deren Turm wie ein zum Klappern hochgereckter Storchenschnabel aussah, vorbei in den Auenwald.
Niccolò trabte über den asphaltierten Schulhof, wischte sich den Schweiß von der Stirn und drückte auf die von unzähligen Handgriffen polierte Eisenklinke der Schultür. Die Tür war verschlossen, also hatte der Unterricht schon begonnen.
Niccolò morste mit dem Klingelknopf SOS. Nach einer Ewigkeit öffnete der Hausmeister die Tür. Herrn Heidicke nannten die Schüler Bismarck, was er gern hörte. Der Hausmeister war etwa dreißig Jahre alt, ein Männlein, das sich zackig bewegte, mit goldenen Händen, denn was auch kaputtging, er konnte es reparieren. Vor Prüfungen standen an der Pförtnerloge, die dem Hausmeister als Verkaufsstand diente, die Schüler Schlange. Wer zur deutschen Geschichte eine Frage hatte, dem konnte Bismarck sie leicht beantworten. Er wusste genau, wann und wo was geschehen war. Es hieß, er habe zu Hause eine Sammlung alter Waffen, zu der sogar ein Sauspieß aus dem Bauernkrieg und eine Flinte aus Napoleons Russlandfeldzug gehörten. Bismarcks Markenzeichen war ein Schnauzbart, dessen Enden mit Hilfe von Pomade bis zu den Augen hochgezwirbelt waren. Er war Dritter Vorsitzender des neugegründeten sächsischen Vereins „Deutscher Mann und Bart“.
Bismarck blieb im Türrahmen stehen und fragte streng: „Ja und?“
Niccolò stellte sich stramm hin, wie es der Hausmeister gern sah, und sagte: „Entschuldigung. Guten Tag. Ich bin spät dran. Lassen Sie mich bitte schnell rein.“
Der Hausmeister musterte ihn kopfschüttelnd, beugte sich nach draußen, spähte nach links und rechts und trat dann zögernd beiseite. Niccolò sprang die breite Treppe hoch, er hörte Bismarck noch rufen: „Soll ich dich nicht erst einmal verarzten, Junge?“
Niccolò huschte ins Klassenzimmer, murmelte eine Entschuldigung, ließ Herrn Wedekinds strafenden Blick über sich ergehen und setzte sich neben Ole.
Niccolòs Freund rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Seine Langnase schnüffelte, als wollte sie Witterung aufnehmen. Er sah Niccolò immer wieder an; aber wenn der sich ihm zuwandte, blickte er weg.
Niccolò konnte sich nicht auf den Unterricht konzentrieren. In seinem Kopf schienen Wespen zu schwärmen, er fühlte sich matt und müde. Die leise Stimme des Lehrers, den sie Donnerhall nannten, störte ihn heute besonders. Es war Donnerhalls Sing-Sang anzuhören, dass er, wie er selbst sagte, gern Pfarrer geworden wäre. Aber dann hatte er in der damaligen DDR doch lieber Pädagogik, anstatt Theologie studiert. Er hätte sich nicht mit der Staatsmacht, der die Kirche ein Dorn im Auge war, anlegen wollen. Ein Held sei er nun mal nicht, sagte er, und im übrigen kenne er auch keinen.
Vor Niccolò saß Paula Klette. Ihm war, als tschilpten Spatzen aus ihren Stoppelhaaren. In seiner Phantasie versuchte er, sich in einen Sperling zu verwandeln und in Paulas Haarnest niederzulassen.
Niccolò flüsterte Ole zu: „Du musst nicht so herumrutschen. Das war in Ordnung, dass du dich nicht geprügelt hast.“
Ole raunte erleichtert zurück: „Was hätte ich denn auch tun können? Du hörst ja einfach nicht auf Onkel Ole. Die sind ja dann alle über dich hergefallen. Na, wenn ich einen von ihnen allein erwische, dann haue ich ihm alle fünfzig Zähne aus.“
„Zweiunddreißig“, korrigierte Niccolò und lachte schmerzhaft in seine Hand. „Bei einem Milchgebiss sind es zwölf weniger.“
Nun lachte auch Ole, sein Lachen war blechern, wie auf dem gefluteten Tagebau die Blesshühner bei Gefahr keckerten: „Kröck – pui, kröck – pui!“
Donnerhall rief auffahrend: „Bit-te!“ und sah Ole ein paar Sekunden lang durchdringend an.
Ole, der sich unwillkürlich geduckt hatte, flüsterte bald weiter: „Du siehst aus, als hättest du in einer Wäscheschleuder gesteckt. Tut das denn nicht weh, Alter?“
„Doch. Ja.“ Niccolò legte sich die kühle Hand auf die heiße Stirn. „Aber das ist nicht weiter schlimm.“
„Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht, Niccolò. Ich an deiner Stelle wäre sauer wie eine Essiggurke. Ich würde mir wünschen, das Godzillamonster vor einem Millionenpublikum in der ersten Runde k. o. zu hauen. Hast du auch solche irre Angst, dich zu prügeln?“
Niccolò überlegte kurz. „Ich weiß nicht. Eigentlich nicht.“
„Aber Mensch, ja warum haust du dann nicht zu?“
„Mir ist es lieber, wenn es friedlich zugeht.“
Ole verdrehte die Augen. „Jaja, ich weiß. Du lässt dich lieber wegen einer blöden Katze zu Pflaumenmus verarbeiten.“
„Eine Katze ist nicht blöd“, entgegnete Niccolò. „Niemand ist blöd.“
„Und doch ist jemand blöd“, beharrte Ole.
„Wer denn?“
„Du, zum Beispiel. Weil du dir wegen einer blöden Katze ein blödes blaues Auge hauen lässt.“
Niccolò zuckte mit den Schultern. Vielleicht war er ja wirklich blöd. Aber was spielte das schon für eine Rolle. Er hatte ganz andere Sorgen. Seine größte Sorge saß eine Tischreihe vor ihm. Sie spuckte gerade auf die Gläser ihrer Herzbrille und polierte sie am Ärmel ihres gelbschwarz karierten Pullis. Paula Klette schien völlig vergessen zu haben, dass es ihn gab.
Niccolò beugte sich etwas vor und richtete seinen Blick auf Paulas Hinterkopf, um sie zu hypnotisieren. In einem Buch hatte er gelesen, dass man allein mit der Kraft seines Blickes einen anderen Menschen seinen Willen aufzwingen könne. Paula sollte sich umdrehen, die Sonnenstrahlen würden in ihrer Herzbrille golden aufflackern, und sie würde sagen: „Na, Niccolò? Wie geht’s denn so?“
„Gut“, würde Niccolò antworten. „Einwandfrei.“
Paula würde sagen: „Mir geht’s auch einwandfrei. Ich freue mich, dass es uns beiden gut geht.“
„Ich freue mich auch, Paula. Wirklich. Riesig.“
Niccolò, der das Kopfbrummen für Augenblicke nicht mehr gespürt hatte, fühlte erneut Schmerz. Ole knuffte ihn mit seiner knochigen Faust in die Rippen. Nun hörte Niccolò auch die gereizte Stimme des Lehrers: „Niccolò! Rosenbusch! Soll ich dir ein Rezept für ein Hörgerät ausstellen lassen?“
Die anderen lachten pflichtschuldig. Donnerhall war nicht gerade erfinderisch in seinem Spott. Aber er war beleidigt, wenn er keinen Beifall bekam.
Niccolò sprang auf und rief: „Hier!“
„Großartig, dass du noch da bist“, sagte der Lehrer. „Dann sei auch so gut und bewege dich zur Tafel.“
Niccolò ging nach vorn, verschränkte die Hände auf dem Rücken und sah in Donnerhalls kummervolles Gesicht. Darin war alles zu klein geraten und irgendwie starr, nur die hellen Augen wirkten lebendig. Sie huschten hin und her, nichts entging ihnen. Der Lehrer konnte anscheinend – wie manche Insekten – ohne den Kopf zu drehen in alle Richtungen sehen. Seine Hände fuhren über den kahl rasierten Schädel, als hätten sie eine schwer zu bändigende Haarfülle zu ordnen.
„Ich höre und höre, und ich höre immer noch“, sagte Donnerhall.
Niccolò wollte nur schnell auf seinen Platz zurück und den Hypnoseversuch fortsetzen. Eigentlich musste man dabei seinem Gegenüber in die Augen gucken. Aber Niccolò meinte, wenn er sich nur genügend konzentrierte, würde sein Blick auch durch Paulas Hinterkopf dringen.
Ole war von seinem Platz aufgestanden und gab ihm Flaggenzeichen, als wollte er ein Schiff davor bewahren, auf einen Eisberg aufzulaufen. Auch die anderen Mitschüler bemühten sich mit Grimassen, ihm anzuzeigen, was Donnerhall von ihm verlangt hatte.
Da sah Niccolò in Paula Klettes aufblitzende Brillengläser und begann wie auf Zuruf, ein Lied vorzusingen, das die Klasse auswendig lernen sollte. Es gehörte zu Donnerhalls Spezialitäten, seine Schüler Lieder aus dem Gesangbuch für die evangelisch-lutherische Landeskirche des Königreichs Sachsen lernen zu lassen. An jedem Montagmorgen musste die Klasse zu Beginn des Unterrichts ein neues Lied singen, wobei Donnerhall mit zuckenden Armen und artistischen Körperverrenkungen den Chor dirigierte. Bis zur Mittagspause hatten die Schüler das Lied modernisiert und rappten es ins Englische übersetzt auf dem Schulhof.
Niccolò sang für sein Leben gern. Seine Stimme war noch mädchenhaft hoch und doch schon männlich kräftig. Wenn er vorsang, hörten seine Mitschüler, die nur allzu gern über „Donnerhalls Musikantenstadel“ spotteten, gern zu. Der Lehrer bewegte sich nach kurzer innerer Gegenwehr zu Niccolòs Gesang wie eine Schlangentänzerin.
„Lasset uns mit Jesus ziehen,
seinem Vorbild folgen nach,
in der Welt der Welt entfliehen
auf der Bahn, die er uns brach,
immerfort zum Himmel reisen,
irdisch noch schon himmlisch sein,
glauben recht und leben rein,
in der Lieb den Glauben weisen.
Treuer Jesus, bleib bei mir,
gehe vor, ich folge dir.“
Als Niccolò endete, war es sekundenlang still. Donnerhall legte ihm die Hand auf den Kopf und sagte bewegt: „Danke.“ Die anderen klatschten, trampelten und pfiffen, bis der Lehrer ihnen energisch Ruhe gebot.
Niccolò setzte sich auf seinen Platz zurück und drückte Oles Hand.
„Du singst wie Robbie Williams, Alter“, lobte Ole. „Du wirst bestimmt mal ein Superstar. Ich werde dann dein Manager. Ist das okay so?“
Niccolò konzentrierte sich wieder auf die Hypnose von Paula Klette. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis sie sich umdrehen und ihn lachend ansehen würde. Ihre Schultern zuckten immer stärker, ihr Kopf nickte, drehte sich nach links und rechts ...
Nun aber musste sie sich endlich umdrehen und Niccolò ansehen – da ertönte der Pausengong und Paula Klette stürmte mit den anderen aus dem Klassenzimmer.