Der Ausweg

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5

Eine Ewigkeit später zog er Gals Hand vorsichtig von seinen Schenkeln, stand auf und kleidete sich langsam an. Es war noch keine sieben Uhr, aber draußen schien bereits die Sonne, und man spürte die Hitze, die bald aus dem wolkenlosen Himmel hervorbrechen würde wie ein Haufen feindlicher Jäger.

Er schlüpfte gerade in seinen zweiten Schuh, als sich Gal wieder herumwälzte, nach ihm tastete und die Augen aufschlug. Sie schaute ihm eine Weile schweigend zu, dann sagte sie ohne jede Betonung:

„Geh nicht! Er wird mich schlagen.“

Mann gab ihr keine Antwort. An diesem Morgen war nicht die Zeit für Liebeserklärungen. Er und Gal Kelling, das schien einfach nur falsch und unpassend. Der Billig-Freier und die Luxus-Nutte.

Mit übertriebener Langsamkeit band er seinen Schlips, hob das blaue Jackett mit den dicken Goldknöpfen vom Boden auf und öffnete die Tür.

Von der Halle unten blickte Kelling zu ihm herauf. Der alte Verlierer tat ihm leid, aber entschieden mehr Mitleid empfand er mit sich selbst.

„Ich hoffe, es hat Spaß gemacht?“ lamentierte Kelling mit einer Stimme, die zwischen Betrunkenheit und Kater, zwischen Geilheit und Eifersucht schwankte.

Der übliche Hang zu Vulgarität und Selbsterniedrigung, dachte Mann und spürte, wie seine guten Vorsätze zum Teufel gingen. Er hasste solche Situationen. Sie erinnerten ihn an seine Kindheit. Und er hasste seine Kindheit.

„Na, wie ist meine Alte?“ hakte Kelling nach. „Zufrieden?“

Mann gab sich einen Ruck und ging die Treppe hinunter. Die afrikanischen Kultgegenstände hatten die Nacht gut überstanden, besser als Kelling und er.

„Gerade noch jung genug“, sagte er, als er neben dem Alten war.

Er wollte raus, nichts als raus aus der Ehehölle namens Kelling. Wahrscheinlich wäre ihm der Abgang mit begrenztem Schaden geglückt, wenn in diesem Augenblick nicht oben auf dem Treppenabsatz Gal erschienen wäre.

Weiß und nackt und weich, wie ihre vier Jahrzehnte sie geschaffen hatten, sah die schöne Gallathea an diesem dunstigen Samstagmorgen aus wie ein verblichener Jugendstilakt, leicht unscharf und ziemlich blass.

Auf ihren Ehemann wirkte sie wie ein rotes Tuch.

„Verpiss dich, du miese Schlampe“, schrie er, grobe Stilrichtung sozialer Wohnungsbau.

Mann hatte die Haustür erreicht, als scharf neben seinem Kopf etwas gegen die Wand schlug und der Putz ihm in die Augen spritzte. Sekunden später gab es, ohne dass er die Reihenfolge zu sagen gewusst hätte, einen Schrei und ein dumpfes Geräusch. Aus unerfindlichen Gründen meinte er, dass ihn das etwas anginge.

Er wirbelte herum und sah, wie in Trance, alles ganz langsam: das massige, breitlippige, teakschwarze Negergesicht auf dem Boden unter ihm, Gal auf dem grünen Velours vor der Treppe, Kelling über ihr: eine Szene aus einem dieser Tagesschau-Videos, in denen behelmte Außerirdische vor Bauzäunen aus Nato-Draht sommerlich gekleidete Demonstrantinnen attackieren. Er lief dazu, seine Schritte alptraumschwer, und veränderte damit sein Leben ebenso nachhaltig, wie es seine Geburt getan hatte.

Der alte Mann trat noch immer auf den weißen Körper ein. Harry Mann riss ihn von hinten an den Schultern zurück. Kelling war mindestens zwei Kopf größer als er, aber es war schon eine Ewigkeit her, dass die Autorität seiner Stimme einmal nicht ausreichte und er sich wehren musste. Er war zu schwach und zu zögerlich geworden.

„Drecksau, geiles Schwein“, schrie er.

Der soignierte Handelsmann war nicht wiederzuerkennen. Er atmete schwer, den Atem voller Cognac, und holte noch tiefer Luft. Endgültig gewann bei Kelling nun der Feldwebel die Oberhand über den Stabsoffizier. Er drehte sich unter Manns Griff und spuckte ihm ins Gesicht.

Harry Mann lief der Sabber über die Lippen. Angeekelt wischte er ihn beiseite, riss Kelling herum und gab ihm mit der feuchten Hand eine Ohrfeige.

Kelling bekam einen Wutanfall. Er trat nach seinem Gegner, und er traf ihn, bis der zurückschlug, irgendwo in die Mitte des schwächeren Angreifers.

Und plötzlich, als hätte etwas in ihm ein Leben lang auf diesen Ausbruch gewartet, rammte Harry Mann wieder und wieder seine Faust in den alten Mann, er traf seine Nase, bis sie blutete, hakte nach den weit aufgerissenen Augen, und weil Kelling die Arme vor sein Gesicht legte und sich krümmte, um seinen Unterleib zu schützen, prügelte er auf die Ohren und seinen Hinterkopf. Nach langen Sekunden versuchte Kelling noch einmal, sich zu verteidigen. Da nahm Mann ihn beim Kragen und hämmerte seinen Kopf gegen die Wand, bis der weiße Putz einen Haufen rote Flecken zeigte.

Erst als er seine schmerzenden Arme spürte, ließ Harry Mann sein Opfer los, und der Alte rutschte bewusstlos die Wand hinunter gen Boden.

Gal hockte nackt auf der zweituntersten Treppenstufe und schaute zu ihnen herüber. Ihre Brüste lagen schwer, die kräftigen Spitzen erigiert, auf ihren gekreuzten Armen. Ihr Blick war nachdenklich und zugleich fasziniert.

„Komm!“ sagte sie und deutete auf den freien Platz neben sich.

Mann hob sein Jackett auf, das er irgendwann hatte fallen lassen, und hängte es ihr um die Schultern. Sie zog die Beine an und legte die Arme darum, so dass allein ihre schmalen weißen Waden frei blieben.

Er setzte sich neben sie, eine Treppenstufe höher, und fuhr ihr über die nasse Stirn. Dann ließ er seine rechte Hand den Hals hinunter zu ihren Brüsten gleiten. Gal rückte näher und rieb sich langsam an ihm, bis sie die richtige Position gefunden hatte; ihren Kopf an seiner dritten Rippe.

So saßen sie und sahen auf Kellings leblosen Körper herab, bis Gal zu sprechen anfing.

6

Sie bat ihn nicht, sie machte ihm keinen Vorschlag, und sie sagte nicht, was wäre wenn. Sie erzählte, wie man von einem alten, vertrauten Tagtraum erzählt, in den man sich an den einsamsten Stunden des Tages flüchtet, und ihre Lippen bewegten sich dabei so weich und absichtslos, wie es nur die Lippen von Wo-nach-auch-immer-Süchtigen zustandebringen.

„Wenn Kelling aus seiner Ohnmacht erwachen wird“, begann sie mit gleichgültiger Stimme, als sei von einem flüchtigen Bekannten die Rede, „wird er eine Weile brauchen, um zu erkennen, wo er ist. Ganz allmählich erst wird sich alles zusammenfügen: Er liegt auf hartem Boden. Kacheln. Er ist an Händen und Füßen gefesselt und mit einer Serviette geknebelt. Der Raum ist winzig, fensterlos, dunkel. Keine Ahnung, wie spät es ist. Die Konturen von Regalen, Flaschen, Dosen zeichnen sich ab. Man hat ihn in die Abstellkammer hinter der Küche gebracht. Sein Gesicht ist eine offene Wunde. Vorsichtig versucht er, sich zu bewegen. Vergeblich. So liegt er da und schwelgt in Rachephantasien.“

Gal sah Harry Mann an, aber ihr Blick ging durch ihn hindurch. Als sie weiter sprach, lächelte sie:

„Kelling wird sich alles sehr genau überlegen: Wie er sich scheiden lassen wird, ohne dass er seiner Frau, dieser verbrecherischen Hure, einen Pfennig zahlen muss; wie er dafür sorgen wird, dass Mann, dieser Versager, auf den er seine Hoffnungen gesetzt hatte, in der gesamten Exportbranche nie wieder eine Anstellung finden wird; wie ... Doch je detaillierter er seine Pläne schmiedet, desto deutlicher wird er die Gefahr ahnen. Weder Mann noch seine Frau sind so dumm, dieses Risiko einzugehen. Schließlich weiß Kelling, dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr lange zu leben hat. Er kann plötzlich den Tod so deutlich riechen wie den scharfen, klinischen Geruch, den das halbe Dutzend Plastikflaschen mit Haushaltsreinigern verströmt. Er wird versuchen sich abzulenken: Mann ist ein Idiot, mit seiner Hilfe hätte der Junge ein Vermögen machen können. Gut, minus dreißig Prozent für Kelling, der damit seine alten Tage finanziert hätte, aber immer noch ein Vermögen für diese verkrachte Existenz, diesen Verlierer namens Mann. Und was tut er stattdessen? Geht dieser Schlampe auf den Leim. Oder auf den Schleim.“

Gals Gesicht war jetzt ausdruckslos. Nicht sie sprach. Gespenstisch klang ihre Stimme nach Kellings Kasinoton.

„Löcher!“ sagte sie verächtlich. „Nur aus Löchern besteht sie, heiß und hohl. Keine Ahnung, warum sie das tut, nach all den Jahren. Aber sie und ihr Ficker werden nicht davonkommen damit. So kurz vor dem Ziel, mit dem Haus fast bezahlt, die Pensionierung zum Greifen nahe, die Abmachung zwischen Hexter und Mann so gut wie perfekt ... Allmählich, erst ganz allmählich werden Kellings Gedanken versiegen. Zu seinem Tod fällt ihm wenig ein. Eigentlich nur, dass die Außenwände des Bungalows kaum dreißig Zentimeter messen, was er immer viel zu dünn fand, und dass hinter diesen dreißig Zentimetern die Welt ein stinknormales Wochenende verlebt, während er, der große Rudolf Kelling, sterben muss.“

„Nein“, sagte Mann, „ich bin nicht verrückt, niemals!“

Nicht Gals weiße Brüste und nicht ihre festen Schenkel und erst recht nicht seine Liebe, von der er noch kaum etwas wusste, konnten ihn überreden. Auch seine Angst vor Kellings Rache hielt sich in Grenzen. Im Zweifel würde seine Aussage gegen die Anschuldigungen eines betrogenen Ehemannes stehen. Nicht einmal für eine lausige Kündigung reichte das.

Außerdem hatte er schon einiges mitbekommen, was die Beteiligten nicht allzu gerne einem Arbeitsrichter erklären würden: Kellings ungewöhnlicher Wohlstand hatte mit Irene Hexter zu tun. Worum es auch immer ging, es war illegal. Daher das eigentümliche Interesse seines Chefs an ihm. Gerade sein zweifelhaftes Arbeits-Vorleben und sein augenfälliger Mangel an Eifer hatten ihm erst den Job und, weil auf seine Unzufriedenheit Verlass schien, dann Hexters Antrag eingetragen. Wenn er auch noch nichts richtig begriff, die Schlacht war zu gewinnen.

„Verrückt ist anders ...“, sagte Gal in seine Gedanken hinein. Ihre Stimme hatte immer noch keinen Ausdruck. Sie leierte die Worte weiter wie die einer fremden, unverständlichen Sprache: „Verrückt wäre es, die Gelegenheit vorbeigehen zu lassen.“

 

„Was ist das überhaupt für eine Abmachung zwischen Kelling und Hexter?“ fragte er.

Zu seiner Überraschung antwortete sie ihm, ohne zu zögern: „Du übernimmst in anderthalb Jahren seinen Job für zwei Drittel seines Anteils, er bekommt, gewissermaßen als Patent- und Vermittlungsgebühr, weiter das restliche Drittel.“

„Drei Drittel von was? Für was?“

„Keine Ahnung. Er“ – sie zuckte mit dem Kopf in die Richtung der Wand, vor der Kelling lag – „macht es, solange wir uns kennen. Kapital-Reimport nennt er es. Über’n Osten eben.“

„Wessen Geld?“

„Soll ich sein Nachfolger werden oder du?“ Allmählich kam sie in die Wirklichkeit ihrer Großschnauze zurück. „Ich habe ihn nie gefragt, wozu auch? Ich hätte es eh nicht verstanden.“

„Wie viel bekommt er dafür?“

„Zuletzt zehn pro Monat. Das war doppelt soviel wie ihm die Steuer von seinem Gehalt ließ.“ Sie lachte kurz, als erinnere sie sich an die Witze einer fernen Vergangenheit. „,Brutto gleich netto‘, sagte er immer.“

„Er lebt noch ...“, sagte Mann.

„Nicht mehr lange!“ sagte sie.

7

Am Nachmittag fuhr Harry Mann wieder raus nach Konradshöhe, diesmal mit seinem verrosteten Fahrrad, das er aus der hintersten Ecke des Kellers hervorgezerrt hatte. Der Tag war so heiß geworden, wie der Morgen versprochen hatte; ein Spätsommer wider die deutsche Natur. Die Geschäfte waren schon eine Weile geschlossen, und der Ausflugsverkehr verstopfte die Straßen. In Richtung Tiergarten mussten selbst die Radfahrer in Pulks fahren und hatten Mühe, einander zu überholen.

Vor Sonntagfrüh würde er mit niemandem sprechen können und bis dahin auch nichts mehr zu essen bekommen, also hatte er zwei Tafeln Nuss-Schokolade eingesteckt und seinen Walkman, aus dem ihm die Beatles „A Hard Day’s Night“ entgegen schrien.

Kurz hinter der blassbeigen Philharmonie nahm er die breite Schneise der Bellevueallee, deren gute Aussicht auf das Schloss natürlich schon lange verbaut worden war, umrundete die Siegessäule und entschloss sich, nachdem er den Blattgold-Engel in seinen Rücken gebracht hatte, zu einem kleinen Umweg durch die rasend veraltete Moderne des Hansaviertels. Unendlich viel Zeit hatte er noch totzuschlagen. Seine Wochenendfahrt ins neue Leben musste gemächlich weitergehen, ohne jeden Gedanken daran, was vor ihm lag.

Harry Mann strampelte an den roten Backsteinbögen der S-Bahn entlang, über die Spree und am ehemaligen Sudhaus vorbei, das zu einer Art Gewerbehof umfunktioniert worden war. Die langgezogene Steigung dahinter, hinauf zur Putlitzbrücke, brachte ihn ziemlich ins Schwitzen. Er stieg ab und schob das Rad, was ihm mehr als gewünscht Gelegenheit gab, das vertraute und doch sehr befremdliche Architektur-Patchwork aus stucklosen Altbauten und schmucklosen, früh verfallenden Neubauten zu bewundern.

Hier, am Rande der City, fügten sich die letzten Reste der Prolo-Schultheiß-Eck-Kultur zu einer unheiligen Allianz von „Glühwürmchen 1“ und „Selevacik-Grill“, freudlos, grau und schmuddelig wie alles in Berlin; zu einem leicht slumartigen Wie-soll-man-leben-Vakuum, in das bald holzgetäfelte Bistros und hell gestylte Cafés stoßen würden. Tempel des Schneller Wohnen, Schneller Leben. Ambiente statt Milieu, begeistert begrüßt vom aufstrebenden Publikum. Zum Teufel mit den real existierenden Versatzstücken der stillstehenden Immer-noch-Nachkriegs-Zeit! Und her mit der Fernsehweh-Gegenwart, in der endlich kein Spiel nicht mehr ging!

„Mann“, dachte Mann und schüttelte sich, „du denkst dir einen Scheiß zusammen.“

Genaugenommen war es Peters Scheiß.

„Was wir erleben, ist die Abschaffung des Erlebens“, pflegte der immer zu klagen, damals, als sie alle noch zusammenwohnten und dagegen ankämpften, so zu werden, wie sie nun mal sollten.

„Gestern war’s noch schlimm“, hatte Anne eines Abends auf das Verlustgerede geantwortet, mit einem lauten Lachen, im „Slumberland“, kurz bevor sie plötzlich verschwunden war, „aber heute lacht man schon drüber.“

Harry Mann war oben auf der Brücke angekommen. In ihrer Mitte, dort, wo vor einem halben Jahrhundert eine längst abgerissene Treppe hinabführte auf die viel spurigen Gleisanlagen, hinab in die Waggons, in die Lager, in die Öfen, in der prallen Sonne, an Tagen wie diesem, lagen unter dem Denkmal mit dem Davidstern, von keiner Träne genässt, ein paar blasse Kränze und verdorrten.

Die Vergangenheit ..., dachte er, und wusste nicht, was er denken sollte. „Meine eigene jedenfalls“, sagte er dann leise und fast fröhlich vor sich hin, „die schaff’ ich heute ab. Futsch, verloren, dahin.“

Futsch wie der alte Pelikan, den Peter ihm vor einem Jahr zum siebenunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, mit einer echten Goldfeder und „Harry Mann“ in Sütterlin eingraviert. Aber ihn immerhin würde er wiederfinden. Am Abend bei Kellings hatte er den Füller noch benutzt, und wie. Also lag er wahrscheinlich in Gals Gästezimmer, und wenn nicht, dann musste Mann ihn bei der Heimfahrt heute morgen in Peters Cabrio verloren haben, als er das Jackett, statt es aufzuhängen, wie üblich einfach auf den Rücksitz geschmissen hatte.

Er stieg wieder aufs Rad. Die harmlosen hohen Schornsteine am Hohenzollernkanal vor Augen, fünf dicke und zwei dünne, ließ er sich anstrengungslos hinunterrollen, zu auf das schöne neue grüne Schild mit gelbem Rand, auf dem „Wedding“ stand.

Erst nach einem Vierteljahr hatte Anne ihm damals eine Karte geschickt, aus Kreta. Heute wohnte sie, von Kopf bis Fuß Professorin auf Lebenszeit, im schnuckeligsten Zehlendorf, wo man, was die Verniedlichung des Berliner Miefs betraf, schon wesentlich weiter war als hier oben im schäbigen Norden.

Eine Viertelstunde später etwa, er war gerade vorbei am Volkspark Rehberge, wo das grüne Container-Klo zum Leidwesen seiner Blase ebenso besetzt gewesen war wie der Parkplatz, am Ende der Afrikanischen Straße also, senkte sich dann ein brüllender bauchiger Vogel über die farblosen Baukastenwürfel der Friedrich-Ebert-Siedlung, so tief, dass Harry Mann für einen sehr langen, sehr unangenehmen Augenblick in seine Schattenflügel eintauchte.

Voll unliebsamer, schlechter Erinnerungen, voller Lebensreste, von denen sie wenig wussten, steckte der Alltag, und so wollte keiner in diesem Land sich gerne erinnern. Ungewusst war die eigene Zeit und doch so wenig vergessen, wie er Kelling vergessen konnte, der morgen bereits ein weiteres Stück toter Vergangenheit sein würde.

Die Musik in Harry Manns Kopf stoppte. Er behielt die Hände am Lenker, lauschte dem Rauschen und wartete auf das Surren des Autoreverse. Er hatte diese Kassette schon Hunderte von Malen gespielt. Er wusste, womit die Rückseite begann.

„Yesterday ...“, säuselte es aus dem Walkman. Und mit der weichen Melodie kamen andere Erinnerungen, an andere, spätere Tage, die er hier verbracht hatte, fleischrote, feuchte Erinnerungen an die wenigen heißen Teenage-Sommer vor einem Vierteljahrhundert, als er vierzehn, fünfzehn war, an tonnenschwere Kofferradios mit piepsigen Lautsprechern und Mopeds, die glatt fünfundsechzig brachten, an Kühltaschen voll lauem Bier und an volumige Bikinis, in die man nachts auf irgendeiner einsamen Wiese ganz kurz die Finger rutschen lassen konnte.

Ohne Nachzudenken drehte er lauter. Das Lied hatte ihn mal zu Tränen gerührt, in jener vergangenen Zeit, als er noch an seine Zukunft glaubte. Jetzt fand er es lächerlich. So lächerlich wie dieses verfluchte Dorf vor Berlin! Ausgerechnet hier ging er jetzt hin und erledigte den Rest, seinen Teil, nur für sich selbst und diesmal endgültig.

Er trat schneller in die Pedale. Eine Ewigkeit war es her, dass er Fahrrad gefahren war, und er hatte das unangenehme Gefühl, Schwielen am Hintern zu bekommen. Alt und albern und am Anfang eines neuen Lebens fühlte er sich. Vor allem alt.

Aber alles schien ihm gut so, wie es war.

Die Straße vor Kellings Bungalow lag samstagnachmittäglich und menschenleer in der Sonne wie all die anderen kleinen Straßen auch. Mann fuhr direkt die Auffahrt hoch und auf dem schmalen Plattenweg um das Haus herum. Das Loch hatte er schon am Morgen in die Scheibe der Terrassentür geschlagen. Er drehte den Schlüssel, der von innen im Schloss steckte, und öffnete die Tür. Dann trug er das Fahrrad die Stufen hinauf, schob es durch den Wintergarten ins Esszimmer und lehnte es an die Wand bei der Vase mit dem Schachbrettmuster.

Die Luft in dem Raum, im ganzen Haus war stickig. Es roch nach Langeweile, nach tiefem Missmut, nach so vielen vergeblichen Versuchen, das gute Leben zu leben.

Kalter Schweiß lief Harry Mann plötzlich die Schläfen hinunter. Er lehnte sich gegen die Glaswand des Wintergartens, erschöpft und betäubt.

Erst als er an Gal und Kelling dachte, kam die Wut zurück, die er brauchte. Er stellte sich vor, wie die beiden hier gesoffen und gestritten hatten und sich nach Strich und Faden betrogen. Wie sie sich verbiesterten und gierig vergeudeten. Er hasste den Mann, und er liebte seine Frau. Gallathea. Eingefangen von ein bisschen Luxus. Wieder und wieder beschlafen von diesem einfallslosen Pflichtapostel, einem dieser Hauruck-Typen, dieser tumben Kriegs-Schufte und Nachkriegs-Schufter, die der allgemeine Personalmangel damals nach oben gespült hatte; ein körperliches und intellektuelles Leichtgewicht, dem es gelungen war, sich erfolgreich bis zur Pensionsgrenze durchzumogeln.

Jetzt aber hatte es ihn erwischt.

Rudolf Kelling lag auf den weißen Fliesen in der hintersten Ecke des kühlen Esszimmers. Gal hatte, bevor sie gegangen war, den gefesselten Körper aus der Abstellkammer dorthin geschleift und den Kachelboden gründlich gereinigt. Kellings Gesicht war blutig und geschwollen. Er zitterte und stammelte unverständlich hinter seinem Knebel.

Die Zeit des alten Mannes lief heute ab, und die Harry Manns begann. Mit einer Viertelmillion, die Gal ihm bot, brutto gleich netto. Ein neues Leben. Auf Kellings Kosten. Endlich eine Lebensversicherung, die ihrem Namen Ehre machte.

Mann wendete sich von dem Bündel am Boden ab. Einen Augenblick sah er hinaus in den Garten, wo der ovale Pool blau glänzte. Dann setzte er sich in einen der Bauhaus-Stühle und schob sich die Kopfhörer des Walkman über die Ohren. Der SFB brachte mal wieder Nachrichten. Bonn.

Mann schaltete die Kassette ein. Lennon/McCartney & Co. Er drückte den Autoreverse. „Hey, Joe“, der gute böse Hendrix. Auch schon lange begraben.

Gerne hätte Harry Mann es hinter sich gebracht, doch er musste warten. Kelling zappelte unermüdlich am Boden. Es schien so, als wollte er etwas sagen. Auf das Geseiere konnte Mann verzichten. Er sah sich um. Auf dem Tisch lag Schmuck und ein wenig Bargeld.

Unglaublich langsam wurde es Abend. Mann konnte sich nicht erinnern, jemals auf einen Sonnenuntergang gewartet zu haben. Es war eine Tortur, und es wäre das auch ohne das lebende Paket in seinem Rücken gewesen.

Gegen sieben klingelte das Telefon. Der Anrufbeantworter in der Halle schaltete sich ein. Mann lief hin und drehte laut: „Wir sind leider nicht zuhause...“, sagte die Stimme des Hausherrn vom Band. Der Anrufer legte auf.

Mann stand in der Halle auf dem grünen Velours, an der Stelle etwa, wo sein Opfer gelegen hatte, und betrachtete die geschnitzten afrikanischen Skulpturen. Sie interessierten ihn nicht sonderlich. Er sah die breite Treppe hinauf, die er heute morgen heruntergekommen war. Er dachte an das Kaufhausfell, auf dem er und Gal sich in der Nacht geliebt hatten. Und plötzlich fiel ihm ein, was er vergessen hatte.

Er lief hinauf in das Gästezimmer. Es war leer und aufgeräumt und frisch gesaugt. Gal hatte sorgfältig gearbeitet. Von seinem Füller keine Spur. Wenn er ihn hier verloren hatte, so musste sie ihn gefunden haben. Der Gedanke an ihre Gründlichkeit beruhigte ihn. Er ging wieder hinunter ins Erdgeschoß, durch die große Halle und in das Esszimmer, wo Kelling lag und stammelte.

Kurz vor neun schreckte Mann zusammen, als die automatische Einbruchssicherung nacheinander die elektrischen Jalousien im Parterre herunterließ und ein paar Lampen anschaltete.

Draußen fiel Schatten für Schatten die Dämmerung über die Bäume und verdunkelte die Freizeitlandschaft.

Gegen elf war es endlich Nacht genug.

Das stundenlange Warten hatte Mann die Wut geraubt. Es dauerte eine Weile, bis er sich überwand, aufzustehen. Er griff nach dem teakschwarzen Negerkopf mit den breiten Lippen, der wie verabredet auf dem Esstisch stand, und ging zu Kelling. Als der Alte ihn kommen hörte, setzte sein Stammeln und Zappeln wieder ein, wilder denn je.

 

Mann stand da und sah auf sein Opfer herab. Was sollte er sagen? Er holte aus. Die Augen am Boden waren so weit aufgerissen, dass sie zu bluten schienen. Es gab einen leisen, ekelhaften Knack.

Ein Hieb hatte genügt, um Kelling zu töten.

Mann ging zur Terrassentür und kurbelte die Jalousie ein Stück weit von Hand hoch, gerade genug, um hindurchschlüpfen zu können. Dann packte er die Leiche an den Beinen und schleifte sie durch den Wintergarten auf die Terrasse. Der Kopf zeichnete eine breite, rote Spur auf die weißen Kacheln.

Die Nacht war wolkig und fast lichtlos. Schon die bunten Plastikliegen um den Swimmingpool waren nicht mehr zu erkennen. Harry Mann stieß Kellings Körper Stufe für Stufe von der Terrasse hinunter in den Garten, zerrte ihn zum Pool und ließ ihn langsam in das Wasser gleiten. Es war zu dunkel, um zu sehen, wie die Oberfläche sich verfärbte.

Im Haus wischte er den Negerkopf sorgfältig ab. Als er das Papiertaschentuch automatisch in die Bodenvase mit dem Schachbrettmuster werfen wollte, fiel ihm Gals Schlüpfer ein. Sie hatte ihn dort vergessen. Er nahm ihn heraus. Das schwarze Etwas roch nach ihrem Parfüm, nach ihrem Schweiß. Er wickelte es in das blutige Papiertaschentuch und steckte das Knäuel ein. Dann setzte er sich wieder und wartete auf das Ende der Nacht. Sein Kopf war leer.

Von irgendwo hinter den Bäumen kam das erste Licht.

Als er, ganz Sonntagsausflügler, den dunklen Flachbungalow Am Rehwinkel Numero sieben durch den Gartenausgang zum See verließ, hatte der Pool einen schmutzigen Glanz. In den Satteltaschen des Fahrrads steckten das Geld und die Schmuckstücke, die Gal ihm bereitgelegt hatte. Und ein paar andere Kleinigkeiten, die ihm gefielen. Abgang war überall.

Gallathea besuchte ihre Eltern. Den Garten schützten hohe Hecken und Schilfmatten vor den Blicken der Nachbarn. Rudolf Kelling, das Opfer brutaler Einbrecher, würde man frühestens am Montag finden.

Auf dem langen Rückweg durch den leeren Sonntagmorgen versuchte er, über diese wichtigste Tat seines Lebens nachzudenken.

So sehr er sich auch anstrengte, er wusste nicht, was er davon halten sollte.

Die Luft im Wald war kühl und frisch, der Tegeler See lag leer und blau und kalt und unbeweglich dar.

Was hatte er gespürt dabei, Gefühle irgendwelcher Art?

Nichts. Keine Gefühle. Und wenn, musste er sie fast schon vergessen haben.

Dies war ein Sonntagmorgen, wie er ihn fast zwei Jahrzehnte lang verschlafen hatte. Ein Sonntagmorgen aus seiner Kindheit, zu dem eigentlich ein Frühstück im Freien gehörte. Es war ein wunderbares Morgengrauen, an dem selbst die Vögel glücklich schrien.

Alles; das alles war ihm vertraut.

Immer wieder wunderte er sich nur über eins, über etwas, das er nicht verstand, eine unbekannte, fremde Leere: die Gleichgültigkeit, mit der er seinen ersten Menschen vom Leben zum Tode befördert hatte.