Cyberland

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»Wer die Zukunft vorhersagt, der lügt, selbst wenn er die Wahrheit sagt«, meint ein arabisches Sprichwort. Doch Techno-Bohemiens wie R. U. wollen ja nicht prophezeien, sondern lediglich die Zukunft von der Tyrannei der Realität und des Heute befreien.

»Warum mir diese dunklen Zukunftsvisionen gefallen?« sagt R. U. Sirius: »Manchmal macht es eben Spaß, im Dunkeln zu spielen ...«

In seinem Buchprojekt »How To Mutate & Take Over the World« (»Wie man mutiert & die Welt übernimmt«), dessen Fragmente er mir gestern zu lesen gegeben hat und die er und St. Jude in ein paar Wochen auch auf dem Internet veröffentlichten wird, tut er genau das genüsslich. Zusammen mit St. Jude schildert er im Rückblick aus dem Jahre 2001, was die neunziger Jahre der Welt gebracht haben und noch bringen werden.

»Wir sampeln im Channel-Surfer-Stil moderne und postmoderne Philosophien von Marx und Bakunin bis zu Foucault und Donna Haraway. Darüberhaus behandeln wir philosophische Fragen des Gehirn-Fickens sowie magische und neue Techniken der Selbstprogrammierung«, sagt R. U. Sirius. »Und wir bieten viel harte technische Information, Outlaw-Wissen, das man sonst nur in anarchistischen Broschüren findet: Wie man sich in Bankkonten reinhackt, wie man sich in einer Hightech-Gesellschaft eine neue Identität besorgt, Dokumente fälscht, die eigene Wetware upgradet, wie man sich durch plastische Chirurgie verändert, Drogen anrührt, Spionage betreibt. Wir lehren die Kunst der Gehirnwäsche, vielleicht auch, wie man in der postindustriellen Gesellschaft Guerillakrieg führt. Lauter Lektionen für den modernen Cyberpunk. Inklusive einer Gebrauchsanweisung, wie man seinen eigenen faustischen Pakt schließt: Verhandlungstechniken für Verträge, bei denen man nicht verlieren kann. Kurzum, es wird das endgültige Selbsthilfe-Buch.«

Wer R. U. Sirius zuhört, kann keinen Zweifel hegen: Wo einst Cyberland werden soll, überwiegt bis jetzt Cyberspaß. Die Vermählung von Literatur, Kunst und Philosophie mit Hightechnik produziert eine Wunschökonomie, in der die Wünsche der ästhetischen Avantgarde weitläufige Ziele setzen, denen die technische Elite bloß mit Trippelschrittchen folgen kann. In der Realität kennt das Reich des Cyber neben einer Menge harter Fakten auch viel heißen Dampf, statt Hard- oft Vaporware. R. U. Sirius findet das alles andere als störend.

»Wenn wir uns wirklich etwas wünschen, haben wir eine ehrliche Intuition von dem, was einmal real sein wird«, sagt er. »Darin hatte Marx recht. Wir erkennen das Potential einer historischen Situation, und schon revolutionieren sich unsere Wünsche. Aber andererseits hatte auch Hegel recht: Wir entwickeln Ideale und versuchen dann, die Wirklichkeit der Idee entsprechend umzubauen. Was wir imaginieren, wird früher oder später Wirklichkeit. Das geht nicht immer ruckzuck.« R. U. Sirius zuckt mit den Achseln: »Im Augenblick haben wir statt einer Ökonomie, die Wünsche erfüllt, noch eine Ökonomie der Wünsche. Aber um sie herum bildet sich bereits eine ganze Kultur. Die Konzeption des evolutionären Sprungs, den wir durchmachen, beruht auf der Grundannahme, dass menschliche Arbeit überflüssig wird. Und diese Annahme stimmt. Der Rest wird schon kommen. Das ist die eine Seite, dass unsere Wünsche von der Technik bald realisiert werden dürften. Die andere ist, dass eine Realisierung nicht unbedingt Priorität hat. Begehren geht über Bedarf.«

»Und bis dahin feiern wir den Cyberspace wie das Christkind: in absentia?«

»Mehr, als wir uns vor zehn Jahren erträumt hätten, funktioniert ja schon«, sagt R. U. »Außerdem, du legst zuviel Wert auf Realität. Die Äußerung der Wünsche ist wichtiger als ihre Erfüllung. Das nackte Konzept tauscht man von Kopf zu Kopf aus. Man begreift es, man versteht sich. Sobald man hingegen die Ideen in Fleisch und Blut realisiert, werden sie meist ruiniert. Deshalb ist virtuelle Realität so attraktiv - weil in ihr die Konzepte rein und unverfälscht erscheinen. Cyber ist nicht einfach eine weitere neue Szene. Cyber ist die äußerste Kante unserer Kultur, das Terrain, auf dem wir unsere Zukunft kritisieren, der Weg, den unser Leben nehmen wird und nehmen muss.«

Minuten später blenden in dem Fluss der roten und weißen Datenteilchen zwei Lichter kurz auf und ziehen mit einer unprogrammierten Schleife über alle vier Spuren zu uns herüber. R. U. greift nach der Türklinke des Taxis.

»Warte!« sage ich: »Eine letzte Frage noch ... Die Masse der Menschen mag ja für den Anbruch des Cyber-Zeitalters nicht wichtig sein. Doch was ist mit dem kulturellen Jet-Lag ganzer Nationen und Kontinente? Ich komme mir hier vor wie in einer Zeitmaschine. Ihr redet unentwegt von der Freiheit im globalen Cyberspace, dem Ende von Not und Unterdrückung ...

»... und in Europa«, sagt R. U., »machen die Informations-Habenichtse Rollen rückwärts in die Vergangenheit, in Nationalismus, Bürgerkrieg ..?«

»Ja ...«

»Deutschland steht zwar im Zentrum der ökonomischen Welt«, sagt R. U. Sirius, »aber die neuen Subkulturen der Hacker, des Cyberpunk scheint es dort nicht zu geben. Es existiert keinerlei Kommunikation zwischen euch und uns. Ihr seid abgeschnitten von den Leuten, die die Zukunft vorbereiten und dabei sind, die Welt zu verändern.«

Wie soll ich widersprechen? Hardware, Software, Wetware, Interface - für die Schlüsselbegriffe der Epoche haben wir nicht einmal eigene Worte. Jedenfalls keine, die mehr als Unsinn machen. Interface etwa ist ja nicht eine Stelle, wo sich schmerzhaft etwas schneidet, wie die Deutsch-Tech-Rede von der »Schnittstelle« suggeriert, sondern das Niemandsland zwischen zwei sehr verschiedenen Wirklichkeitsbereichen, das imaginäre Terrain, auf dem Menschen und Maschinen interagieren, wo wir von Angesicht zu Angesicht mit dem Gesichtlosen stehen. Das kulturelle Faszinosum, das sich um »interface« rankt - das Wort ist im Amerikanischen zugleich Substantiv und Verb -, lässt sich in der Übersetzung nicht nachvollziehen; wie so vieles in der Cyberkultur.

Diese Sprachlosigkeit zeugt nicht von subjektivem Versagen, sie hat objektive Gründe. Wer neue Territorien zuerst entdeckt, gibt ihnen ihre Namen. Wer Erfahrungen zuerst macht, hat das Privileg, sie auf den Begriff zu bringen. Die Hightech-Zukunft lässt die Deutschsprachigen daher sprachlos wie einst die Popkultur. Jimi Hendrix’ »Purple Haze« war unübersetzbar, nicht weil die deutsche Sprache beschränkt wäre, sondern weil den Worten keine ursprüngliche Erfahrung in unserer Kultur entsprach. Für die Schlüsselworte des Cyber-Zeitalters gilt das nicht minder.

»Wir würden ja gerne mit euch einen Dialog beginnen«, lächelte R. U. Sirius. »Andererseits, rückständige Gebiete haben wir in Amerika noch genug.«

Der Cyberpropagandist sagt es recht gleichgültig. Die Avantgarde stürmt voran, die anderen müssen sehen, wie sie nachkommen. Aus der Sicht von »New Brainia« bietet die Welt des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts ein kurioses Schauspiel: Während ökonomisch die Erde immer mehr zu einem Markt verschmilzt und Kapital wie Konzerne keine nationalen Grenzen mehr akzeptieren, während CNN internationale Ereignisse weltweit wie Lokalnachrichten präsentiert, während der Cyberspace sich als unsichtbares Netz um den ganzen Planeten gelegt hat, brechen gleichzeitig von Afrika bis Europa gewalttätiger Nischen-Nationalismus und massenmörderischer Tribalismus aus.

Auf diese nationalen Anfälle, von den französischen Medienquoten zur Abwehr amerikanischer Massenkultur über die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Deutschland bis zu den »ethnischen Säuberungen« im früheren Yugoslawien, reagieren die kosmopolitischen Cyberianer nicht anders als die Angehörigen anderer internationaler Subkulturen, nicht anders als etwa Topmanager und Börsenmakler, Diplomaten oder Spitzenforscher: teils verständnislos, teils angewidert, teils gleichgültig. R. U. Sirius jedenfalls schenkt den europäischen Rückzugsgefechten soviel Aufmerksamkeit wie einst die Eliten des kolonialen Europa afrikanischen oder asiatischen Stammesfehden.

»Wenn man eine neue Phase der Geschichte erreicht, verschwinden die früheren Bewusstseinsformen nicht. Sie sind alle präsent. Von der Steinzeit über das Mittelalter bis zur industriellen Moderne. Ein gewaltiger Bewusstseinslärm liegt über der Welt«, lächelt er, die Hand nach wie vor auf der Türklinke des Taxis. »Aber die neue Kultur entwickelt sich und setzt sich durch. Sie verändert unser Denken, die Art, wie wir die Welt sehen und verstehen. Ob das die Mehrheit der Menschen heute oder in zwanzig Jahren bemerkt, ist ziemlich egal. Auf Dauer kann sich kein Volk dem globalen Trend widersetzen. Da können sie noch so viele umbringen. Wieder und wieder werden die Leute in diesen Ländern zurückfinden zu dem Wunsch, an der internationalen Kommunikations-Ökonomie zu partizipieren und so ihren Teil der Zukunft abzukommen.«

»Was ist nun?« ruft der Taxifahrer ungeduldig.

R. U. Sirius öffnet den hinteren Schlag.

»Man hat mich zum Generation-Xer-honoris-causae ernannt«, sagt er nachdenklich. »Ich gebe den Kids meine Sechziger-Jahre-Erinnerung an jenen Moment des Optimismus, was die Chancen einer totalen politischen und kulturellen Revolution angeht. Ich habe immer noch denselben drive und Impetus in ... tja, in eben irgendeine Richtung. Auch wenn ich nicht genau weiß, in welche. Auf jeden Fall müssen wir endlich zu Ende bringen, was damals begonnen hat.«

Der ganze Mensch, samt Felljacke und langen offenen Haaren, schaut plötzlich drein, als sei er gerade aus einer Yippie-Wohngemeinschaftsküche in die Gegenwart eingeflogen.

»Was macht Dutschke?« fragt er.

»Weiß nicht. Ist tot.«

»Und Cohn-Bendit?«

»Stadtpolitik in Frankfurt.«

R. U. Sirius wirft die Mähne zurück, mehr spöttisch als unwillig.

»So endet’s, wenn man nicht aufpasst. Deshalb müssen wir Mutanten die Welt übernehmen.« Er zeigt ins Innere des Taxis. »Willst du mit?«

 

Augenblicke später schießt der gelbe Wagen klappernd über einen der vielen Hügel von San Francisco. Vor uns taucht, angestrahlt von einem halben Tausend Scheinwerfer, der Hafen auf. Ein Gewirr aus Stahlträgern und Kränen verstellt den pazifischen Himmel. Was jedoch zwischen den metallenen Schatten hindurchschimmert, hat tatsächlich die Farbe eines Fernsehschirms nach Sendeschluss.

Wer fremde Kulturen erkundet, denke ich, muss lernen, die Welt mit deren Augen zu sehen.

III Cybernauten

Leben und Lieben in der Virtualität

»Sex und Geld, Sex und Geld,

haben, haben, haben, haben, haben, haben ...

Ich bin ein roter Sputnik in einem toten All,

alles dreht sich, alles dreht sich,

ich, ich, ich, ich, ich, ich ...

Ich will wie neu sein,

will nicht mehr treu sein,

mal Mann, mal Frau sein,

naiv und schlau sein.«

Ideal

Pionier der Cyberarbeit.

Ein Hausbesuch

Von radikaler Politik geht die Flüsterrede und von wilden, durchgeknallten Nächten auf der entlegenen Owl Farm. In ihnen komponiert der Hausherr nicht nur seine gefürchteten Botschaften und jagt sie von seinem zweitausendfünfhundert Meter hoch gelegenen Refugium in den Rocky Mountains via Cyberspace in die Redaktionen der West- und Ostküste und bisweilen gar direkt ins Weiße Haus. Nein, in ihnen soll der Kultautor sich ebenfalls voll Alkohol und Drogen pumpen und hemmungslos mit jungen Mädchen und Handfeuerwaffen herumspielen. Ein berüchtigtes Foto zeigt ihn denn auch mit einem futuristischen Silbercolt tief im Pulverschnee - bei der Hinrichtung seiner Kugelkopfschreibmaschine.

»Alles Unsinn, Übertreibung und Show«, sagt Loren Jenkins.

Der Herausgeber der »Aspen Times«, einst letzter Bürochef von »Newsweek« vor dem Fall von Saigon, ist ein enger Freund des einzelgängerischen Outlaw-Schreibers, den er seit ihrer gemeinsamen Zeit in Vietnam nur den »guten Doktor« nennt.

»Er ist sehr erfahren mit Waffen. Der gute Doktor weiß genau, wie man damit umgehen muss. Sonst hätte er schon lange jemanden getötet.«

Kaum noch ein Licht brennt in den Unterschichts-Trailer-Parks entlang der gewundenen Straße im Roaring Fork Valley, die das vornehme Aspen mit dem weniger feinen Woody Creek verbindet. Im Doppelstrahl der Scheinwerfer glitzert der Asphalt vereist. Die Dunkelheit, die wie flüssige Schokolade die weißen Gipfel der Colorado Rockies umhüllt, könnte von einem verlöschenden Fernsehbild nicht verschiedener sein. Der mondlos-schwarze Himmel scheint zum Greifen nahe, und auf ihm funkeln die Sterne wie frisch vergoldet.

Kurz hinter der blockhüttigen Woody Creek Tavern zweigt der Weg ab, der hinauf zur Owl Farm führt.

»An manchen Tagen kann man kaum eine intelligente Konversation führen. Dann trinke ich einfach was mit ihm und gehe«, meinte Loren, als wir am Morgen in dem bonbonblauen Bürogebäude der »Aspen Times« über seinen berühmten Freund sprachen: »Aber an anderen Tagen zeigt sich, dass er hinter der Wilde-Mann-Rolle, die zu einem Teil seiner Persönlichkeit geworden ist, weiterhin einer der intelligentesten und hellsichtigsten Beobachter der politischen Szene ist.«

Geschätzt genug jedenfalls, um weltweit um seine Expertise gebeten zu werden, vom amerikanischen »Rolling Stone«-Magazin ebenso wie vom deutschen »Spiegel« und selbst vom Medien-Liebling George Stephanopoulos, der ihm auf dem Briefpapier des Weißen Hauses schrieb:

»Wir brauchen einige richtige Ideen von der Owl Farm.«

Woraufhin Präsident Clintons Chefberater per Fax hervorragende Vorschläge zum Umgang mit den Angehörigen der Washingtoner Polit-Mafia erhielt. Etwa:

»Wir wären besser dran, wenn sie zusammengetrieben würden und in ein großes Übergangslager für potentielle Organspender kämen. Warum nicht? Einige von ihnen könnten, zu gegebener Zeit, wertvolle Beiträge leisten, und ihre Namen würden in verschiedenen medizinischen Textbüchern ehrenvolle Erwähnung finden.«

Ob der Empfänger des guten Rats ihn genauso witzig fand wie der »gute Doktor«, ist nicht überliefert.

Loren Jenkins lenkt seinen Wagen eine steile Auffahrt hinauf, und die Scheinwerfer erfassen den Fixpunkt der rebellischen Gonzo-Folklore: ein großes dunkelbraunes Blockhaus, die Owl Farm des Dr. Hunter S. Thompson, Verfasser kultisch verehrter Bücher wie »Hell’s Angels: A Strange and Terrible Saga« (1967) oder »Fear and Loathing in Las Vegas: A Savage Journey into the Heart of the American Dream« (1971).

Seine Gäste erwartet der Hausherr auf einer Art Barhocker vor dem Counter, der die offene Küche vom Wohnzimmer trennt. Zur Glatze trägt er eine dunkelgraue Trevirahose, über der ein tailliertes Hemd mit dunkelgrauem Paisley-Muster hängt, sowie weiße Turnschuhe und weiße Strümpfe. An seiner Seite steht ein sehr junges blondes Mädchen, dessen T-Shirt einen Doktor-Gonzo-Spruch verkündet: »If the world gets weird, the weird get pro / HST 1993«.

»Hmmwmoh«, nickt Hunter S. Thompson zur Begrüßung und deutet auffordernd auf die Zweiliter-Henkelflaschen Whisky und Rum und Wodka. Er selbst hat ein sehr großes und sehr volles Glas vor sich.

Die Wohnküche des Farmhauses scheint stilistisch einer Wohngemeinschaft der alternativen Vor-Yuppie-Jahre nachempfunden, vom allgegenwärtigen braunen Holzfinish über dunkelrote Stoffjalousien und braunes Steinmusterlinoleum bis zur New-Age-Kristallkugel, die auf Zugriff mit Farbexplosionen reagiert. Doch damit endet die Gemütlichkeit schon.

Der weitläufige Raum macht den Eindruck, ein Wild gewordener Bürokraten-Boss habe darin seinen Kommandostand aufgeschlagen: Auf der Kochplatte des Herds stehen Aktenordner ebenso in Reih und Glied wie in den Regalen, die üblicherweise Töpfen oder Gewürzen vorbehalten wären. Memos und Zeitungsausrisse pflastern die Wände. Ein Kopierer summt vor sich hin.

Gekocht werden hier einzig und allein Gerüchte. Unentwegt gehen Neuigkeiten aus aller Welt ein. Zwei Anrufbeantworter nehmen die zahllosen Nachrichten derjenigen entgegen, die bis nach Mitternacht zu Thompson durchdringen wollen, und parallel dazu klingeln die zwei Faxgeräte, spucken kladderadatschend Seiten aus und verabschieden sich piepsend bis zum nächsten Anläuten. Der gewaltige Fernseher, der jederzeit als Behelfskino einsetzbar wäre, läuft Stunde für Stunde lautlos im Hintergrund. Drei Videorecorder zeichnen die Sendungen anderer Kanäle auf. Auf dem Küchencounter thront eine Kugelkopfschreibmaschine, der die Hinrichtung erspart blieb, und neben ihr ein funkelnagelneuer Powerbook-Computer, auf dessen Farbschirm eine bunte Krakelzeichnung leuchtet. An ihr malt der kahlköpfige Kultautor ein wenig herum. Aus einem Tintenstrahldrucker quillt derweil zuckelnd sein jüngstes Werk.

Hunter S. Thompson lächelt zufrieden. Seit drei Jahrzehnten lebt er in diesem entlegenen Teil der Rocky Mountains - und wurde dabei nicht nur zum Schöpfer eines neuen literarischen Stils, sondern auch zum Pionier einer neuen Lebensweise.

Seine Bücher, inzwischen ein knappes Dutzend, erzählen von Furcht und Schrecken im modernen Alltag, von Höllenengeln, korrupten Politikern und Drogen-Alpträumen. Die kritische Beobachtung der Machthabenden hat Thompson in seinen gewaltigen und gewalttätigen Werken wie kein anderer der Sechziger-Jahre-Generation von »New Journalists« zu einer Kunst- wie Lebensform gemacht. Wilde ungefilterte Subjektivität verwischt die Grenzen zwischen Journalismus und Autobiographie, und ebenso vermischen sich in seiner Person die Rollen des politischen Berichterstatters und des aktiven Politikers. Berüchtigt ist etwa sein äußerst knapp gescheiterter Versuch, sich zum Sheriff von Aspen wählen zu lassen. Die ein Vierteljahrhundert alten Wahlplakate werden heute in den hiesigen Souvenirshops zu Spitzenpreisen gehandelt, und von den Stimmenfang-Veranstaltungen, die der professionelle Provokateur in kurzen Khaki-Hosen abhielt, stets eine Bierdose in der Hand und böse von Drogenfreigabe mümmelnd, schwärmt bis heute, wer sie miterlebte.

Diese Faszination, die Werk wie Mann wecken, wird von Hunter S. Thompsons konstanter Weigerung gespeist, zwischen seiner beruflichen und seiner privaten Existenz eine Trennungslinie zu ziehen. Vier unautorisierte Biographen haben bislang versucht, davon zu profitieren, dass sie Thompsons wirres Leben und wildes Schreiben in sinnvolle Sätze bannen; keinem anderen amerikanischen Schriftsteller, nicht einmal Hemingway oder Faulkner, war je derlei reichliche Huldigung schon zu Lebzeiten vergönnt.

Seine Literatur nach Belieben zu leben und sein Leben literarisieren zu können, diese radikale Freiheit verdankt Hunter S. Thompson einem avantgardistischem Schachzug, mit dem er bereits vor einem Vierteljahrhundert eine Lifestyle-Revolte vorwegnahm, in der ihm nun Hunderttausende folgen: Als einer der ersten erprobte er die neuen, von der Technik eröffneten Möglichkeiten eines physischen Rückzugs, der nicht zugleich professionellen und intellektuellen Ausstieg beinhaltete.

Während sich die Politprofis und das Heer der sie beobachtenden Journalisten in Washington und New York konzentrieren, rettete er sich vor der Vereinnahmung in eine kleine Gemeinschaft von Außenseitern, die sich im damals noch nicht schicken Aspen versammelte: Skifanatiker und Astrophysiker, Schriftsteller und Ex-Astronauten, Dekadente und Dezente, von denen jeder auf seine Art und auf seinem Gebiet aus den eingefahrenen Bahnen der bürgerlichen Konventionen ausgebrochen war und neue Spiel- und Lebensregeln ausprobierte.

Doch dieser Rückzug in die Berge, der dem Star-Journalisten ein freies ungebundenes Leben außerhalb der physischen Enge und psychischen Einschränkungen in den dicht besiedelten Metropolen erlaubte, bedeutete keineswegs das Ende seiner Karriere. Im Gegenteil - Hunter S. Thompsons physische Distanz zu den Zentren ermöglichte ihm eine Perspektive auf die politische Szene, die in jedem Sinne weitsichtiger war.

Dass er auch aus der Zurückgezogenheit der Rocky Mountains ständigen Kontakt mit dem politischen Geschehen halten und jederzeit eingreifen konnte, wurde Ende der sechziger Jahre historisch erstmals durch den Ausbau des Telefon- und Flugnetzes möglich sowie durch die sukzessive Erschließung neuer Kommunikationswege, die Gründung zuverlässiger privater Expresspostdienste wie UPS und Federal Express und die Einführung von Satelliten- und Kabelfernsehen, von Fax- und Modemverbindungen. Hunter S. Thompson zögerte nicht, die Freiheit, die sie boten, kreativ zu nutzen.

In den achtziger Jahren entwickelte er das Fax zu einer treffsicheren Distanzwaffe, einer Art literarischem Äquivalent zu Cruise Missiles, und gegenwärtig etabliert er sich als einer der ersten Autoren, deren Spezialgebiet nicht die Computerberichterstattung ist, im Cyberspace. Seine Home Page im World Wide Web bietet Fans und Neugierigen bislang eine Kurzbiographie, Bibliographie und ausgewählte ältere Texte. Doch Hunter S. Thompsons Pläne reichen weiter. Mit dem Schauspieler Don Johnson, seinem langjährigen Freund und Nachbarn, arbeitet er daran, neue Texte unmittelbar im Internet zu veröffentlichen: unter Umgehung der Mittelsmänner und -frauen von den traditionellen Publikationsorganen direkt aus der Owl Farm zu seinen Lesern in aller Welt.

Die vollständige Verbindung der beruflichen mit der privaten Existenz im Interesse eines freieren Lebens, die frühzeitige Nutzung der neuen technischen Möglichkeiten, um größere Unabhängigkeit zu erlangen, der Wunsch, bei der Vermarktung seiner Produkte die kontrollierenden Zwischeninstanzen auszuschalten - das alles macht Hunter S. Thompson zum zukunftsweisenden Lifestyle-Avantgardisten, zur Ein-Mann-Vorhut von inzwischen unzähligen »Einsamen Adlern«, jenen ungebundenen Einzelkämpfern des digitalen Zeitalters, die die kurzen Seile kappen, von denen die industrialisierte Menschheit seit zwei Jahrhunderten an ihre Arbeitsplätze gefesselt wird.

Einsame Adler im Cyberspace.

Beispielhaftes

»Dies ist die wichtigste soziale Umwälzung, seit sich die Doppelverdiener-Familie durchsetzte«, sagt Philip M. Burgess. »Die Einsamen Adler sind Vorreiter einer Welle, die als Folge der Telekommunikations-Revolution die Art, wie wir leben, arbeiten, spielen, lernen und uns fortbewegen, vollkommen verändern wird.«

Der Leiter des privaten Forschungsinstituts »Center for the New West« weiß, wovon er spricht. Er ist selbst einer der »Lone Eagles«, der Einsamen Adler des Cyberspace, deren Flugrouten das »Center« seit Jahren studiert: gut ausgebildete Männer und Frauen in den besten Jahren, Steuerberater und Programmierer, Makler und Schriftsteller, Anwälte und Bildende Künstler, Architekten und Handelsvertreter, Werber und Berater aller Arten. Samt und sonders haben sie gutbezahlte Positionen in den Metropolen und großen Konzernen aufgegeben, um sich in Klein- und Kleinststädten mit höherer Lebensqualität selbständig zu machen und von neuen, weit abgelegenen Horsten aus ihre Dienste via Cyberspace landesweit anzubieten.

 

Jody Severson zum Beispiel hatte gemeinsam mit einem Partner in Washington und Minneapolis eine erfolgreiche Werbeagentur aufgebaut. Am Ende hatten sie fünfzehn Angestellten Doch die Arbeit anderer zu managen, langweilte Severson.

»Ich wurde es müde, jede Sonntagnacht mit der Gehaltsbuchhaltung zu verbringen«, sagt er. »So etwas verliert nach einer Weile seinen Reiz.«

Vor zehn Jahren, als Enddreissiger, beschloss er, endlich etwas zu tun, wozu er wirklich Lust hatte.

»Ich sagte mir, ich werde ab jetzt keine Arbeit mehr machen, die ich nicht will. Ich will keinen Boss über mir, und ich will auch keine Angestellten mehr haben, die mir wie ein Anker am Hals hängen.«

Severson zog sich aus der Firma zurück und begann in Rapid City, South Dakota, eine neue Karriere als Einzelkämpfer.

»Das hier ist eine kleine freundliche Stadt«, sagt er: »Die Leute schließen nicht mal ihre Autos ab.«

Aus dem Fenster seines Büros blickt er nicht auf Wolkenkratzerschluchten, sondern auf ein grandioses Landschaftspanorama. Er kann sich die Klienten aussuchen, deren Produkte und Ziele sich mit seinem Gewissen vereinbaren lassen, und er braucht nur vier Autominuten zu seinem Lieblingsangelplatz an einem Fluss voller Forellen.

»Wenn ich beschließe, dass Mittwoch ein Feiertag ist, weil er auf ein ungerades Datum fällt und wir außerdem Vollmond haben, dann ist es bei Gott eben ein Feiertag«, sagt Severson, der sich zwischenzeitlich zum Experten für die Übernahme lokaler Elektrizitätsfirmen entwickelt hat. Damit und als Wahlkampfberater verschiedener Gouverneure und Senatoren verdient er mehr denn je - brutto um die einhundertzwanzigtausend Dollar pro Jahr.

Den Standortnachteil, vom entlegenen South Dakota aus zu operieren, macht er durch geschickten Einsatz von Transport- und Kommunikationstechniken wett.

»Ich bin dieser übergewichtige Typ norwegischer Abstammung, der mit dem Laptop-Computer zu den Besprechungen erscheint«, sagt der Vielflieger: »Hinterher faxe ich ein Memo, hake von einem Funktelefon aus nach, und dann manage ich die Details mit Hilfe spezieller Software. Mit Ausnahme der Endphase von Kampagnen erledige ich alles per Fernsteuerung.«

Eine Abtrünnige aus den großen Städten und großen Konzernen ist auch Jane King. Zwanzig Jahre stand sie in den Diensten verschiedener Investmentfirmen. Doch nach der Geburt ihrer Tochter war das kein Leben, das sie länger führen wollte - zwischen New York und Boston zu pendeln und zu den diversen Konferenzen mit Brustpumpe zu erscheinen, schien ihr schlicht absurd. Jane King zog nach Wellesley in Massachusetts und gründete ihre eigene Finanzberatungsfirma.

»Ich verbringe meinen Tag damit zu machen, was ich will«, sagt sie. »Wenn ich alles in vier Stunden schaffe oder wenn ich am Nachmittag mit meiner Tochter zusammen sein will, gebe ich mir eben frei. Ich muss mich nicht weiter im Büro herumdrücken, weil das besser aussieht.«

Der Preis der neuen Freiheit: Jane King musste ihre Computer-Phobie überwinden, was ihr schließlich mit Hilfe eines persönlichen Trainers gelang.

»Man kann kein erfolgreiches Geschäft ohne ein solches System betreiben«, sagt sie heute: »Es macht einen so effizient. Ich kann den Preis eines Portfolios per Knopfdruck bestimmen. Warum sollte ich das nicht mögen?«

Das »Center for the New West«, dessen zwei Dutzend Mitarbeiter seit 1989 die Entfaltung einer neuen Ökonomie im Gefolge der digitalen Revolution studieren, hat Hunderte solcher Fälle gesammelt.

Da ist Bayard Fox, der einst für die CIA arbeitete und heute eine weltweit operierende Agentur für Reiterferien namens Equitour leitet - von seiner Ranch in Wyoming aus. Da ist Dick Spray, der per Computer und Fax von seinem Adobe-Haus bei Taos in New Mexico tätig ist - als leitender Angestellter einer kalifornischen Firma, die Golfplätze baut. Da sind die beiden Ex-NASA-Techniker, die unbedingt im menschenleeren Westen leben wollten und deshalb in Bozeman, Montana, eine Firma gründeten, die pharmazeutischen Herstellern hilft, sich im Dschungel der gesetzlichen Vorschriften zurechtzufinden. Dass es in der Kleinstadt nicht einen einzigen potentiellen Kunden für ein solches Unternehmen gab, hinderte die beiden nicht. Telefon, Fax und ein guter Flugplatz reichten hin.

Da ist Steve Lang, der einst in Florida künstliche Wasserfälle entwarf und nun von einem Berg-Büro in den Rocky Mountains aus Finanzberatung betreibt. Oder Frank Crail, der in Colorado eine virtuelle Süßwarenfirma besitzt - mit einem Buchhalter im texanischen Dallas, einem Anzeigenchef in Denver, einem Anwalt in Los Angeles, einem Vizepräsident für Marketing im kalifornischen Chico und einer kleinen Fabrik in Durango, wo Crail selbst wohnt.

Da ist der Schriftsteller und Drehbuchautor Phillip Finch, Verfasser von »Sugarland«, »Paradise Junction« und einem Dutzend anderer Romane. Er zog auf eine Ranch in Kansas fern von Hollywood. Zuletzt schrieb er dort die Vorlage zu dem Cyberspace-Film »f2f«. »Ich bin eine Kuriosität«, sagt er: »Es gibt nicht viele Leute hier, die ihr Geld in New York und Kalifornien verdienen und es so ausgeben können wie ich.«

Da ist der Ex-Professor und Gesundheits-Fachmann Jeff Bauer, der seit 1984 alljährlich eine Viertelmillion Dollar einfährt - auf einer Zweiunddreißig-Hektar-Bohnen-und-Mais-Farm in Hillrose, Colorado, einem Zweihundert-Seelendörfchen mit einer einzigen, nicht befestigten Straße. Per E-Mail und Fax, auf vielen, vielen Geschäftsreisen und mit Videos, die er im eigenen kleinen Studio produziert, verbreitet er flächendeckend sein Expertenwissen, wie sich die ärztliche Versorgung in den ländlichen Gebieten zugleich billiger und effektiver gestalten lässt. Als nächstes plant er, von seinem abgelegenen Videostudio aus per Satellitenverbindung eine Gesundheitsberatungsshow direkt in das nationale Kabelnetz einzuspeisen.

Was für Jeff Bauer die Ranch, ist für Mounque Barazone ein Segelboot, das in einem Hafen bei San Diego vor Anker liegt. Von der Kommandobrücke aus steuert er die Geschicke seines bescheidenen Fertigungsbetriebs: »Ich hätte mehr verdient, wenn ich Angestellter bei einer großen Firma geblieben wäre«, sagt er. »Aber so kann ich mir aussuchen, mit welchen Spielzeugen ich spielen will.«

Phil Burgess, gleichfalls Segelfan, macht es nicht anders. Er führt das »Center for the New West« mit seinem Hauptquartier in der Gebirgs-Metropole Denver von der fernen Küste des Atlantischen Ozeans aus: »Warum sollte ich, ein Wissens-Arbeiter und Futurist, in Denver wohnen, wo ich doch an der Chesapeake-Bucht leben wollte?«

Die meisten, die es wagen, einen Großteil ihrer Arbeit in den Cyberspace zu verlegen, gehören dem gut ausgebildeten weißen Mittelstand an, sind zwischen vierzig und fünfundfünfzig Jahre alt und stehen auf dem Höhepunkt ihres beruflichen Erfolges. Die am häufigsten aufgeführten Gründe für den doppelten Sprung in die berufliche Selbständigkeit und ins geographische Abseits liegen in Arbeits- und Lebensumständen, die als frustrierend und krankmachend empfunden werden: einerseits der unerfreuliche Alltag in den zuwuchernden Städten, von der zeitraubenden Anfahrt zum Arbeitsplatz über die steigende Luftverschmutzung bis zu den hohen Verbrechensraten; andererseits bürokratische Einengungen und Anpassungszwänge in den hierarchischen Konzernen, der allgegenwärtige hektische Leerlauf, die bedrückende Fremdbestimmung. Um dem zu entkommen, riskieren die Einsamen Adler einiges.

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