Über die Anatomie der Tauben

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Über die Anatomie der Tauben
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Gregor Musiolik
EINE ABHANDLUNG
Über die Anatomie der Tauben
︒︒︒
Neopubli Verlag

Impressum

Verleger: Neopubli GmbH, Berlin

Copyright 2016 Gregor Musiolik, Velbert

1. Auflage September 2016

Kapitel 1
Jacob

Die Dämmerung zersprengt das Himmelsgewölbe über uns. Der Tag endet drastisch. Im Raum bleibt nur der gedämpfte Umriss der Dinge. Ich mag seine Schlichtheit. Obwohl sie beängstigend auf mich wirkt und die Vergänglichkeit schlechthin verkörpert, lässt sie die Welt so unkompliziert erscheinen.

Heute ist der zweite Weihnachtstag vor der Jahrtausendwende. In den Nachrichten sprach morgens Jemand von der Reparatur des Hubble-Teleskops. Die Sicht ist wieder klar. Hier am Place de la Concorde in Paris spielt die Bedeutung aber nur eine Nebenrolle. Die Menschen suchen die kraftlosen Funken der Laternen, die hinter fallenden Schneeflocken strömen.

Die Straßen sind längst vereist und unsere Entscheidungen zusammenhangslos. Übertragungen, die uns am Leben erhalten, erwecken den Anschein zu scheitern. Es fühlt sich an, obwohl dieses Gefühl mir fremd sein sollte, als ob eine Bombe eingeschlagen wäre. Die Weihnachtsdekorationen erzeugen dagegen eine kitschige Ambiente. Mein Gefühl für das Dasein wird durch undeutliche Gegensätzlichkeiten von faktischen Strukturen entfremdet. Ich fragte einst nach dem Ursprung der Widersprüche in mir und dachte, dass sie gerade dann entstünden, wenn ich zeitlich getrennte Ereignisse in meinen Gedanken auf das "Jetzt" projizierte. Mittlerweile nehme ich diese Widersprüche hin, weil ich durch sie zu lieben lernte.

Die Schneeflocken fallen auf uns chaotisch herab. Blickt man nur weit genug voraus, lässt sich nichts mehr vorhersagen. Die Stadtlandschaft wird seit mehreren Tagen vom kräftigen Nebel durchdrungen, der besonders stark die blauen Lichter trägt. Die Welt wird hell und dunkel, wieder hell und dunkel. Unsere Umgebung verändert sich stetig. Als Pianist stand ich ehemals vor der Brandung, die Freiheit und Verletztheit trug. Das Leben ist nichts Starres und Verständliches, sondern ein Fluss an Augenblicken, der langsam verdunstet. Ich fragte, was die Vergänglichkeit für uns bedeutet, doch habe inzwischen die einst gefundene Antwort wieder vergessen. Der auf diesem Platz zentral errichtete Obelisk unterstreicht die Unbeholfenheit des Menschen. Ich denke immer an die Ewigkeit, wenn seine Anwesenheit mich seine formlose Ruhe und Ferne zum Leben erfahren lässt.

Es dauert genau drei Minuten, bis ich Zuhause ankomme. Seit dem Beginn des Musikstudiums wohne ich in einem Altbau-Mehrfamilienhaus. Ich schließe die Eingangstür auf und betrete den Hausflur. Er ist lautlos, so wie die Raumzeit um unsere Sonden im All. Ich höre den Widerhall meiner Schritte, der nur eine kurze Erinnerung an mich ist. Die Glühlampe arbeitet seit drei Tagen nicht mehr vernünftig. Nur manchmal leuchtet sie schwach auf. Im Grunde ist die Umgebung genauso unberechenbar wie der Schneesturm da Draußen. Und doch könnte ich ihn beinahe vergessen. Ich steige die Treppe bis in die vierte Etage herauf. Der Gang ist schmal und wirkt düster. Im Winter sind die Fenster im Flur beschlagen. Ich mag die Idee, dass Temperaturänderungen die Sicht aus dem Haus beeinflussen. Bevor ich mich in die Wohnung begebe, schaue ich durch die Scheibe auf die verschwommenen Lichter der Stadt. Eben wurden Sie noch vom Nebel getragen, den ich hautnah erlebte. Jetzt trennt uns Stille.

Morgen ist ein besonderer Tag für mich. Zum ersten Mal begleite ich ein Orchesterkonzert auf dem Klavier. Drei tausend Besucher werden erscheinen, um mich laienhaft und neugierig anzustarren; allesamt Gestalten der Begrenztheit, die mit dem Klang nicht kaltgelassen werden wollen. Dass ich von Ihnen angewidert spiele, grenzt an Ironie und Verlogenheit. Die Sehnsucht frisst unsere Träume, an die ich einmal glaubte. Ich trinke einen schwarzen Tee mit Zitrone darauf. Erst die Vielfalt der Geschmäcker ist aller Konflikte Beginn. Mir ist längst aufgefallen, dass ich den Sinn meines Daseins in Prinzipien finde, die meinen konträr sind. Warum kann ich mich nicht auf eine Kunst einlassen, ohne ständig nach Antagonisten und Widerständen zu suchen? Oft betrachten wir die Dinge aus einem Blickwinkel, der sie erst funktionieren lässt. Wenn wir aber nicht hinterfragen, sondern aufgrund unserer Ängste handeln, dann sind wir nicht einmal oberflächlich, weil wir stets aus derselben Lage auf den Kern blicken.

Vor dem Schlaf schalte ich den Fernseher an und schaue quer durch das Programm. Es ist vollgefressen von überspitzten Nebensächlichkeiten über eine zusammenbrechende Welt und primitiven Liebeskomödien, die unseren Wunsch nach Geltung forcieren. Ich habe ihr Gesicht längst vergessen, obwohl ich es so oft betrachtete. Jene Erinnerungen, die mir nur etwas bedeuten, propagieren wie die Schneeflocken selbst durch das Chaos; sind verschlüsselt. Vollständig berechenbare Prozesse scheinen leblos, kalt und unzugänglich zu sein.

Der Schlaf ist ein Zeitparadoxon meines Lebens. Er dauert kürzer, als ich. Der gehemmte Schrei des Weckers rüttelt mich am nächsten Tag trostlos aus ihm heraus. Ich schlage das Gerät unbewusst vom Nachttisch herunter, sodass es auf dem Boden zertrümmert. Muss ich mein Handeln bedauern, wenn alles vergänglich ist? Ich stehe auf und gehe ins Bad, wo ich zehn Sekunden lang mein verschwommenes Abbild im schrillen Licht des Spiegels betrachte. Sobald mein Blick sich selbst verlässt, greife ich zur Zahnbürste und putze die Zähne. Aus dem Zimmer erschallt das Telefon. Es unterbricht die Geräuschlosigkeit, die im Grunde scheinheilig ist. Mit der Bürste im Gebiss trete ich aus dem Badezimmer heraus und nehme den Hörer ab.

"Ja?"

"Hallo Jacob."

"Wer ist da?"

"Johanna. Ist alles okay? Du klingst dumpf."

"Ich bürste das Gebiss."

"Können wir uns heute vor dem Konzert treffen? 14 Uhr? In dem Café, in dem wir letztens mit dem Orchester waren, auf Rue Saint- Honoré?"

Meine Arme zittern und mein Blutdruck steigt. Ich nehme die Zahnbürste aus dem Mund heraus und sage den Termin reizlos zu; als würde mir ihr Anliegen gleichgültig erscheinen. Meine Bedrängnis erwächst aus der Gegensätzlichkeit meiner Empfindungen und Ängste. Im Gespräch ist sie immer still und bescheiden gewesen. Warum habe ich mich gerade in sie verliebt? Unscheinbarkeit ist wohl ein Phänomen der im Inneren ungewollten Kaltherzigkeit, die der Ursprung jeglicher Sehnsucht, Liebe und Kunst ist.

Ich schnüre meine Stiefel zu, ziehe einen hellgrauen Mantel an und verlasse die Wohnung. Tief schlägt mein Herz. Die Häuserfassaden auf dem Weg, hinter denen sich kreischende Kreaturen verschließen, zerdrücken die Gelassenheit, die mich sonst zur Freiheit führe. Jeder von uns ist ein Gelähmter seiner Gegenwart, die den Anderen voraus ist. Was bedeutet die Realität, wenn die Gegenwart als Ganze nicht zusammenhängend ist; wenn sie fragmentiert ist? Stets will ich Etwas einholen, das nur begrifflich existiert.

Die Straße vor mir kontrahiert mit jedem meiner folgenden Schritte. Meine Haltung flimmert und rührt die Umgebung auf. Noch ein paar Augenblicke dauert es, bis ich die Arztpraxis erreiche. In der Rezeption melde ich mich für die regelmäßige Untersuchung an und setze mich ins Wartezimmer. Meine Wärme füllt die Leere des ausgestorbenen Raumes. Die Ärzte sagen mir, ich sei todkrank. Irgendwann werden wir alle sterben. Dagegen kann man wohl nichts tun. Ob es nun ein Jahr oder fünf Jahrzehnte dauert; am Ende macht das keinen Unterschied mehr. Warum versuchen wir ständig etwas Bedeutendes zu hinterlassen, obwohl wir uns der Willkür der Zeit bewusst sind?

Ich stellte mich gegen meine Fügung; wurde selbst zum Antagonisten meines Stücks, indem ich einfach schwieg. Außer mir und dem Arzt weiß Niemand, dass der Takt meiner Zeit ein anderer ist. Die Einsamkeit mit diesem Bewusstsein verleitet mich dazu, eine Abneigung gegenüber vielen Prinzipien und Menschen zu empfinden. Es ist eine Mischung aus Eifersucht, Erwartung und Gleichgültigkeit. Der Tod ist ein Ausdruck des Leides, der Ziellosigkeit und der Zeit, die mit ihm fallen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?