Briefgeschichte(n) Band 1

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Georgetown, 18. Juni 1991

Lieber Dr. Senf,

vor zwei Tagen sind wir aus Dover zurückgekommen, wo wir (meine Frau und ich sowie ein befreundetes Ehepaar) außerordentlich interessante Tage verbracht haben. Wir besuchten dort drei alte Herren, die sich sehr gut an Paul Guenther erinnerten und mir Sachen erzählten, die Ihnen möglicherweise unbekannt sind. Außerdem unterhielt ich mich ausführlich mit zwei Stadthistorikern und mit einer alten Dame, die mit Frau Margaret Reiner befreundet war. Ich lege Ihnen einige Seiten mit Daten über Dover bei sowie Karten, aus denen Sie ersehen können, dass Dover etwa so viele Einwohner wie Geithain hat. Oder irre ich mich? Dover und Rockaway fließen ineinander. Man merkt nicht, wo die eine Stadt aufhört und die andere anfängt. Dadurch macht Dover den Eindruck, mehr als 14.600 Einwohner zu haben. Vor hundert Jahren war es nicht größer, als Geithain damals war. Es hatte etwa 6000 Einwohner. Als Paul Guenther nach Dover kam, mietete er sich ein Zimmer im obersten Stock eines Hauses, in dem der Hausmakler Schwarz sein Büro hatte. Der Sohn dieses Maklers betreibt sein Geschäft noch im gleichen Haus. Ich hatte eine sehr nette Sitzung mit ihm und er gab mir die beiliegende Karte der Guentherschen Fabrik mit den Arbeiter- und Beamtenhäusern. In seinem Büro hing das Foto seines Geschäfts-Hauses, wie es vor hundert Jahren aussah. Ich habe das abfotografiert und dann noch eine Aufnahme vom selben Gebäude gemacht, so wie es jetzt aussieht. Unterdessen ist nun wieder der Sohn des Herrn Sidney Schwarz der Leiter des Maklergeschäfts und Sidney Schwarz, der wohl bald 90 Jahre alt sein wird, kommt nur selten ins Büro. Während des Winters war er in Florida. Herr Schwarz gab mir schließlich noch zwei Fotos der Turnhalle, die Paul Guenther für seine Arbeiter gebaut hatte. Dieses Gebäude wurde vor einigen Jahren abgerissen. Paul Guenther hatte also ein Zimmer im Haus 28 – 30 North Sussex Street in Dover, und er arbeitete für sieben Jahre in verschiedenen Textilfabriken in Dover und Umgebung. Unterdessen hatte er 1896 Olga Mechel geheiratet. Er lieh sich von einer Frau Reinhardt, einer Freundin von Olga und ihm, 400 Dollar und gründete damit eine ganz kleine Strickerei in Paterson bei Dover. Bald zog er nach Dover in ein größeres Gebäude, das er mietete und schließlich in seine eigene Fabrik an der Oak Street, die dann bald vergrößert werden musste. Von 1902 an wuchs sein Geschäft rapide. Er importierte Ludwig- und Richter-Strickmaschinen aus Deutschland, die von deutschen Mechanikern installiert wurden. Zwei seiner Meister, Max und Otto Hahn (Vater und Sohn), erfanden eine neue Art Fersen zu stricken, worauf die ganze Welt diese seidenen Modestrümpfe haben wollte. Alle Einzelheiten dieser Erfolgsgeschichte können Sie auf der beiliegenden Seite aus der Geschichte von Northwestern New Jersey nachlesen. Meine Farbfotografien geben Ihnen hoffentlich einen Eindruck, wie die Fabrik in Dover sowie die um die Fabrik herum gebauten Häuser des „Deutschen Viertels“ heute aussehen. Es gibt zwei Typen von Häusern im Deutschen Viertel, Einfamilienhäuser und Zweifamilienhäuser. Die Beamtenhäuser sind unterschiedlich. Paul Guenther verkaufte seine Fabriken 1927 an den Gotham Konzern in New York. Er war damals schon leidend und er lebte dann noch 5 Jahre in seinem großen Haus in Rockaway. Nach dem Kriege war dann die Fabrik an der King Street im Besitz der weltbekannten Mc Gregor Sportswear Firma (siehe Firmenschild auf Foto von mir). Jetzt ist die Fabrik hauptsächlich ein Lagerhaus. Die Kopien der beiliegenden Fabrikfotos habe ich von einem Herrn George Coulthard bekommen. Dieser Herr ist, wie Sie, ein Heimathistoriker, und ich hoffe noch weitere Unterlagen von ihm zu erhalten. Nach dem Verkauf seiner Fabriken war Paul Guenther an einer Fabrik eines Freundes, mit Namen Henry Fischer, beteiligt. Dieser Herr ist auch in seinem Testament erwähnt. Auch diese Fabrik, die Pyramid Hosiery hieß, ist jetzt ein Lagerhaus der Frances Yarn Corporation. Das große Landhaus Paul Guenthers steht leider nicht mehr. Man hat an die Stelle eine moderne Oberschule gebaut. Darum herum ein herrlicher Park mit Bäumen, die wohl Guenther pflanzen ließ. Nach der Straße eine Mauer aus Feldsteinen, ebenso an der grasüberwachsenen Auffahrt entlang. Das Haus, in dem die Dienstleute wohnten, steht auch noch. Es ist jetzt ein privates Haus. Paul und Olga Guenthers Tochter Margaret war in erster Ehe mit Harold Osgood verheiratet. Mir wurde gesagt, dass er ein Kaffeegroßkaufmann war. Das Ehepaar hatte eine Tochter, Virginia. 1929 heiratete Margaret Robert Reiner, der in Weehawken, New Jersey, eine große Import-Firma hatte. Das Gebäude steht noch und ich habe es im Vorbeifahren aufgenommen. Mir wurde erzählt, dass die Reiners und Olga Guenther nach Paul Guenthers Tod in New York gelebt haben, in einem Apartement am Central Park. Ich habe einige Briefe nach New York geschickt, um zu erfahren, wo das gewesen ist, und ich hoffe dort mehr zu erfahren. Die Biographie von Robert Reiner lege ich bei. Von Herrn Willard Hedden, einem über 90 Jahre alten früheren Bürgermeister von Dover, bekam ich den Rasierbecher von Paul Guenther geschenkt, einen weißen Porzellanbecher mit dem Namen Paul Guenther in Gold. Früher gingen die Herrn jeden Tag zum Barbier, um sich rasieren zu lassen. Da hatte jeder seinen eigenen Becher, der beim Barbier auf einem Regal stand. Herr Hedden war der Besitzer des Hauses, in dem der Barbier sein Geschäft betrieb. Als der vor vielen Jahren sich zur Ruhe setzte, kamen einige Becher in die Hände von Herrn Willard Hedden. Er fand sie in dem Laden, aus dem der Barbier ausgezogen war. Da er Paul Guenther gut gekannt hatte, hob er den Becher auf zum Andenken an einen großen Amerikaner, wie er mir sagte. (In Memory of a great American).

Lieber Dr. Senf, ich meine, man sollte in der Schule oder im Elternhaus von Paul Guenther oder im Rathaus einen Raum einrichten, in dem alles gesammelt wird, was auf Paul Guenther Bezug hat. Ebenso sollte in Dover ein solcher Gedenkraum entstehen. Als ich in Dover die Bilder der Schule vorzeigte, die Sie mir geschickt hatten, war man höchst erstaunt. Man wusste, dass Guenther seiner Heimatstadt eine Schule gestiftet hatte, doch wusste man nicht, dass diese Schule so prächtig war. Der Bürgermeister von Geithain und der Bürgermeister von Dover sollten Verbindung miteinander aufnehmen und die beiden Städte sozusagen Schwesternstädte werden. Das wäre ein würdiges Denkmal für Paul Guenther, und es könnte auch zum Verständnis zwischen zwei verschiedenen Kulturen beitragen. Zum Beispiel könnten junge Leute in den Sommerferien von einer Stadt zur anderen ausgetauscht werden, wo sie dann bei Familien untergebracht würden. Man könnte auch gegenseitig Lehrlinge ausbilden. In dieser Beziehung hat Deutschland Amerika viel voraus. Hier ist die Lehrlingsausbildung meist schlecht, was sich natürlich auf die Qualität der hergestellten Produkte auswirkt. Paul Guenther wusste, warum er so viele seiner wichtigsten Arbeiter aus Sachsen nach Amerika holte. Ich bin weit ausgeschweift. Es fing mit einer kleinen Gedenkstätte für Paul Guenther an. Dieser Rasierbecher, sind Sie daran interessiert? Wenn ja, dann schicke ich Ihnen den.

Über Paul Guenthers mögliche Freundschaft mit Präsident Hoover habe ich Nachforschungen angestellt. Über die Familie und noch lebende Nachkommen hoffe ich mehr zu erfahren. Der Soldat, der in Greifenhain nach der Paul Guenther Schule fragte, kann ein Sohn von Robert Reiner aus erster Ehe gewesen sein.

Sie sollten, wenn möglich, einmal selbst hierher kommen. Paul Guenther scheint, neben seinem beruflichen Erfolg, auch ein bedeutender Mensch gewesen zu sein. Er ist wohl wert, dass jemand seine Biographie schreibt. Ich hörte Anekdoten über ihn, die bezeichnend sind. Sein Erfolg als Geschäftsmann kam wohl daher, dass er unbedingt verlässlich war, aber auch auf Verlässlichkeit in Menschen und Maschinen bestand. Zu seinem Autopark gehörte ein Rolls Royce und ein Pierce Arrow. Einmal, auf dem Wege nach New York (er saß immer in der Mitte des hinteren Sitzes), versagte der Rolls Royce und blieb stehen. Nun kann man an diesen Motor nicht heran, das können nur die Mechaniker der Firma. Guenthers Fahrer musste also zum nächsten Telefon laufen und die Rolls Agentur anrufen. Es dauerte etwa zwei Stunden, bis der Mechaniker eintraf. Unterdessen saß Guenther in der Mittagshitze in seinem Auto ohne sich zu rühren. In kürzester Zeit hatte der Mechaniker den Schaden behoben und Paul Guenther war wieder flott. Er ließ sich auf dem direktesten Weg zum Händler fahren, der ihm den Rolls verkauft hatte und tauschte ihn dort gegen einen anderen Wagen. Natürlich war er ein Autokrat. Mit Gewerkschaften (hier „Unions“), hatte er nicht viel im Sinn. Auch darüber habe ich einiges erfahren. Doch wie Henry Ford in Detroit, bezahlte Guenther seine Arbeiter für damalige Verhältnisse sehr gut, und er hatte, in 30 Jahren als Unternehmer, nur einen Streik, was beachtlich ist. Während dieser Jahre wurden in Amerika harte Arbeitskämpfe ausgetragen.

Für heute soll das genug sein. Wie geht es in Geithain? Ich kann mir vorstellen, dass die Umstellung enorme Schwierigkeiten mit sich bringt. Meine Frau und ich wünschen Ihnen alles Gute.

Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich Ihr Ulrich J. Sommer

Geithain, 28.06.91

Lieber Herr Sommer,

gestern erhielt ich Ihren Brief mit den vielen ausgezeichneten Materialien, den schönen Bildern und den Antworten auf meine Fragen zum Komplex P. Guenther. Es ist fast unglaublich, dass Sie die Post erst am 18.6.91 aufgegeben haben. Die Welt wird kleiner!

Am Abend trafen sich die Mitglieder des Heimatvereins zu ihrer monatlichen Mitgliederversammlung. Ich nutzte die Gelegenheit, das Neueste zu Guenther dort vorzutragen. Im Namen aller Anwesenden und natürlich auch persönlich möchte ich Ihnen für die umfangreiche Arbeit recht herzlich danken. Sie sind wirklich der erste und bisher der einzige, über den wir Einzelheiten zum Leben und Wirken Paul Guenthers in Amerika erfahren. Ihre Anregungen bezüglich der Kontaktaufnahme zwischen den Städten Dover und Geithain nehmen wir gern an und werden über den Heimatverein das Entsprechende einleiten.

 

Wir alle waren erstaunt, dass Dover eine relativ kleine und mit Geithain vergleichbare Stadt ist. Die Bilder und Stadtpläne vermitteln einen anschaulichen Eindruck. Beeindruckend ist besonders, dass das Haus, in dem Guenther bei seiner Ankunft in Dover ein möbliertes Zimmer mietete, noch vorhanden ist. Mit dem Schulleiter der PGS werde ich demnächst sprechen, um eine kleine Ausstellung im Schulhaus zu organisieren. Im Englisch-Unterricht wurden schon in den vergangenen Wochen von Ihnen zugesandte Texte übersetzt.

Sie sehen, dass Ihre Zuarbeit für uns eine große Hilfe ist. Leider hatte ich im vergangenen Jahr nur ganz wenig Zeit – und von Muße konnte schon gar keine Rede sein – mich mit heimatgeschichtlichen Themen zu beschäftigen. Es war ein hartes Jahr! Sie wissen, dass ich in all den Jahren vor der Wende als Lehrer für M/PH/Astro tätig war und – da nie Mitglied einer Partei, der SED schon gar nicht – auch nie Leitungsfunktionen innehatte. Seit Juli 90 nun Leiter des Dezernates, zu dem vom Kleinkind (Kinderkrippen) über Kindergärten, Schulen, Volkshochschule und Berufsschule, Kinderheime, Freizeitzentrum bis zum Greis (Alten- und Pflegeheime), das Sozialamt und das ganze Gesundheitswesen gehörte! Und das alles in der komplizierten Übergangsperiode! Mit der Bildung der Staatlichen Schulämter und der drei Oberschulämter in Sachsen entschloss ich mich, mein Amt als Dezernent niederzulegen. Ich beginne am Montag, dem 1.7.91, meine Arbeit am Oberschulamt in Chemnitz. Da Sie stets Interesse an der Entwicklung in Sachsen nach der Wende gezeigt hatten, lege ich mein Begründungsschreiben hier bei. Sie erfahren damit etwas über einige Probleme hier im noch existierenden Landkreis Geithain.

Die vergangene Woche nahm ich einige Tage Urlaub. Es blieb etwas Zeit, um auch Ihre Briefe noch einmal zu lesen. Mir wurde bewusst, dass ich wohl Ihren sehr langen Brief vom 7.2.91 gar nicht beantwortet hatte. Sie schilderten dort ausführlich das Schicksal Ihrer Eltern im Sommer 1945, aber auch die Vorgeschichte des Herbert Kopp! Ich weiß zwar noch nicht, wann Kopp gestorben ist, fest steht aber, dass er nur kurze Zeit in Geithain sein Unwesen treiben konnte. Die noch jetzt in Geithain existierende Familie Kopp hat mit Herbert Kopp nichts zu tun. Sie stammt aus Ostpreußen und ist erst kurz nach 1945 nach Geithain gekommen.

Ihre Erinnerungen an die Monate nach Ende des Krieges, die Tatsachen über Ereignisse auf dem Sommerhof und hier in Geithain würden uns als Heimatverein bei der Aufarbeitung der Regionalgeschichte viel nützen. Es war ja vor der Wende alles weitgehend tabu bzw. es wurde verzerrt und einseitig dargestellt. Ich habe bisher Ihre Schilderungen auch als persönliche und vertrauliche Sache angesehen. Bitte teilen Sie mir einmal mit, ob Sie selbst – etwa über unsere Zeitung LVZ oder den Sachsentelegraf – etwas veröffentlichen wollen oder ob ich, und wenn ja, in welcher Weise, offiziell von Ihren Berichten Gebrauch machen kann.

Es ist schon ein Kreuz mit der Vergangenheitsbewältigung. Und Verdrängungsprozesse – wie nach 1945, „Lasst mich endlich in Ruhe damit“ – nehmen meiner Ansicht nach zu. Dass nur wenige bewusst auf Karriere verzichtet haben und die meisten mehr oder weniger Mitläufer waren, wollen wiederum die meisten nicht wahrhaben. Und dann ist die Entwicklung des Verhältnisses zwischen „Ossis“ und „Wessis“ im letzten Jahr. Ich finde, es ist von der gesamtdeutschen Euphorie vom 3.10.90 nicht mehr viel da. In diesem Zusammenhang zwängt sich mir folgende Analogie immer wieder auf:

In DDR-Zeiten wurde die Nazizeit, der Alltag im 3. Reich, nie richtig dargestellt. Schwarz-Weiß-Malerei, Verzerrungen und Einseitigkeit – eben „klassenmäßige“ Geschichtsbetrachtung – bestimmten das Bild. Kein Wunder, dass sich junge Menschen immer fragten, warum nur so viele dem „Führer“ zugejubelt hatten. Analog dazu machen sich viele Westdeutsche ein zu einfaches Bild vom Leben der Menschen in der DDR. Die Bonzen, Stasimänner auf der einen Seite, und die in Unfreiheit gehaltenen, nach materiellen Gütern lechzenden Menschen auf der anderen Seite. Wieder entsteht bei so undifferenziertem, ja primitivem Herangehen die Frage: Wie konntet Ihr denn nur so lange das aushalten? Warum haben bei Euch so viele an das Märchen vom Sozialismus geglaubt? Aber: So wie in der Nazizeit ganze Legionen von sehr intelligenten Menschen, Wissenschaftler, Ärzte und Philosophen Theorien wie etwa die Rassentheorie höchst wissenschaftlich begründeten – wer merkte in der Zeit selbst, dass es kein Begründen, sondern ein Verbrämen war? – gab es Tausende, die die Politik der SED wissenschaftlich garnierten. Einschlägige Professoren wurden zitiert und der „kleine Mann auf der Straße“ berief sich auf sie. Ich erinnere mich noch sehr an ein geflügeltes Wort etwa in den Monaten vor 1945, meine Mutter sagte es oft: „Wenn das der Führer wüsste!“ Schuld waren die Bonzen der unmittelbaren Umgebung. Analog dachten bei uns, und ich schließe mich da ein, viele in der Richtung: Die Theorie stimmt schon, aber die Praxis wird falsch gehandhabt. Man schimpfte auf die Kreisfunktionäre der Partei, man verachtete ihre Unfähigkeit, ihre Dummheit! Das Ziel wurde von vielen Menschen durchaus anerkannt, aber der Weg zum Ziel wurde nicht mitgetragen. Die ganze Theorie vom historischen Materialismus, von den sozialistischen Produktionsverhältnissen hat sich als totale Utopie herausgestellt. Grenze und Berliner Mauer wurden natürlich als verbrecherisch und völlig anachronistisch erkannt. Aber wer war denn schon täglich damit konfrontiert? Wer wagte es, das laut und öffentlich zu sagen?

Ich glaube, es dauert noch lange, bis die Bewusstseinseinheit der Deutschen erreicht sein wird. Und es wird wohl ein Rätsel bleiben, warum Diktaturen, offensichtliche Ungerechtigkeiten, ja Verbrechen von Staats wegen immer wieder von intelligenten Menschen wissenschaftlich, künstlerisch und philosophisch den Massen schmackhaft gemacht werden können. Haben sich Apologeten des Marxismus/Leninismus ganz primitiv nur verkauft an die Machthaber oder inwieweit haben sie das in dicken Wälzern Dargestellte denn wirklich selbst geglaubt? Aber nun bin ich wohl selbst etwas ins Philosophieren geraten. Mitschuld hat der Dauerregen, der die eigentlich geplante Heuernte in Tautenhain verhinderte.

Nochmals herzlichen Dank für die fleißige Sammlungsarbeit. Vielleicht wird es mir einmal möglich sein, selbst nach Dover zu kommen. Es ist ja jetzt „nur noch“ eine Frage der Zeit und des Geldes!

Mit herzlichen Grüßen auch an Ihre Frau

verbleibe ich Ihr G. Senf

Georgetown, 26.August 1991

Lieber Herr Dr. Senf, wir waren einige Zeit auf Cape Breton, einer wunderbaren Insel, die zur Provinz Nova Scotia gehört. Als wir zurück kamen, wartete Ihr langer Brief vom 28. Juni auf uns, mit allen Beilagen. Unterdessen traf auch Ihre Karte aus Ochsenfurt bei uns ein. Ich danke Ihnen sehr herzlich. Nun haben wir hier einen Streik der Post und ich weiß nicht, wann dieser Brief abgehen wird. Ich will die Zeit nutzen, etwas ausführlicher auf Ihren Brief einzugehen.

Wir bekommen jede Woche die Hamburger Wochenzeitschrift „Die Zeit“, meiner Ansicht nach die beste aller westdeutschen Zeitungen. Es gibt davon eine nordamerikanische Ausgabe, die wir abonniert haben. Die hält uns auf dem Laufenden über die Ereignisse in der früheren DDR. So können wir uns ein Bild machen von den unsagbaren Schwierigkeiten, unter denen Sie jetzt leben müssen. Als Verantwortlicher für Gesundheit und Soziales waren Sie ganz sicherlich nicht zu beneiden und sind nun sicherlich froh, in Chemnitz beginnen zu können. Die Lage ist mit den ersten Nachkriegsjahren im Westen nicht zu vergleichen. Damals waren alle Länder Europas am Nullpunkt, diesmal muss das ausgepowerte Osteuropa auf den wirtschaftlichen Stand Westeuropas angehoben werden. Doch setzt die sogenannte freie Marktwirtschaft ein politisches Rahmenwerk voraus, das bisher in Osteuropa noch nicht oder nur in Ansätzen besteht. So wunderbar ist die Konsumwirtschaft aber auch nicht, dass man dafür alles und jedes opfern sollte. Sie bringt zahllose Waren, nötige und unnötige, in die Läden, doch kann ich mir nicht vorstellen, wie 10 Milliarden Menschen (die vorhergesehene Bevölkerung der Erde im Jahr 2030) diesen verschwenderischen Lebensstil weiterführen wollen, wenn die Rohstoffe immer knapper und die Böden wegen Überdüngung schließlich nicht mehr wachsen lassen. Der Kapitalismus ist eine tolle Sache, doch werde ich den Verdacht nicht los, dass wir so ewig nicht leben können. Bisher ist der Kapitalismus eine Ausbeuterphilosophie. Nach uns die Sintflut. Wenn wir diesen schönen Planeten für unsere Nachkommen erhalten wollen, dann müssen wir zu Dienern und Verwaltern dieses Planeten werden. Vielleicht gelingt es uns, die Konsumphase hinter uns zu lassen und eine Lebensart zu entwickeln, die gütiger ist als die jetzige. Es scheint doch so, als hätten wir etwas gelernt in diesem verrückten Jahrhundert. Die Ereignisse der gerade vergangenen Jahre lassen hoffen. Zum Beispiel am letzten Montag: Als die Nachricht vom Staatsstreich in Moskau durchkam, war mein erster Gedanke „nun geht der kalte Krieg von vorne los“. Glücklicherweise lag ich falsch. Die viel geprüften Russen machten diesmal nicht mit. Und der große Gorbatschow hat sich nun endlich dazu durchgerungen, der Partei den Garaus zu machen. Bravo!

Die Nachkommen von Paul Guenther habe ich bisher noch nicht finden können, obwohl ich einige Briefe auf den Weg schickte. Doch hat mir Herr Coulthard in Dover die alten Fotos der Fabrik nachfotografieren lassen, von denen ich Ihnen nur sehr schlechte Kopien geschickt hatte. Auch fand er einen anderen Paragraphen in einem Buch. Diese Sachen lege ich bei. Wahrscheinlich werden wir in etwa einem Jahr wieder nach Deutschland kommen, da bringen wir den Paul Guenther-Becher mit. Sie sind uns natürlich jeder Zeit hier willkommen.

Das Verhalten der Menschen in einer Diktatur, darüber sind Bände geschrieben worden, doch ist das Thema wohl unerschöpflich. Es ist wohl gar nicht unbedingt eine Frage der Intelligenz, ob man einer Diktatur widersteht oder nicht. Wie Sie ganz richtig feststellen, haben sich sehr intelligente Leute sowohl Hitler als auch Stalin und seinen Nachfolgern zur Verfügung gestellt. Es ist eine Frage des inneren Anstands. Viele, sogenannte einfache Leute, haben den Versuchungen, Böses zu tun, auf bewunderungswerte Weise widerstanden. Es hat natürlich oft auch etwas mit Religion zu tun, obwohl die Religion ihre eigenen Gefahren zur Unterdrückung birgt. Intellektuelle sind besonders durch die Macht gefährdet. Wenn dem geistigen Menschen die Möglichkeit gegeben wird, gehabte Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen, dann wanken viele und werden zu Handlangern der Macht. Wenn der Spuk zu Ende ist, will es keiner gewesen sein. Die großen Übeltäter muss man natürlich vor Gericht stellen, doch sollte man mit den Kleinen, die nur aus Angst mitgemacht haben, gnädig verfahren. Die Ankläger hätten es sicherlich nicht besser gemacht. Die Westdeutschen haben ja völlig vergessen, was es heißt, unter einer Diktatur zu leben. Jetzt haben sie die große Klappe. Und mit der sogenannten „Entnazifizierung“ hat sich Westdeutschland vor 40 Jahren nicht gerade hervorgetan. Wie schnell waren dort die Übeltäter des 1000jährigen Reiches wieder in leitenden Posten. Unterdessen ist Westdeutschland ein Land geworden, das man achten kann. Vor 40 Jahren war es das nicht. Im Herbst 1945, als wir plötzlich kaum noch Freunde in Sachsen hatten, da lernte ich etwas, das ich nie vergessen habe. In einer verteufelten Situation muss sich jeder selbst zu retten versuchen. Wenn man in einer solchen Situation Hilfe findet, dann ist das fast ein Wunder, und die Leute, die einem helfen, werden zu Heiligen in der Erinnerung.

Der Ausspruch Ihrer Mutter: „Wenn das der Führer wüsste!“, den habe ich oft gehört, im Kriege und auch vorher. Für mindestens 60 oder 70 % der Deutschen damals war Hitler so etwas wie ein Gott. Warum die Nazis die Ergebnisse ihrer Wahlen gefälscht haben, erstaunt mich jetzt. Sie hätten sowieso alle Wahlen nach 1933 gewonnen, selbst noch im Kriege. 1938 kam er zur Einweihung einer Autobahn in der Nähe von Chemnitz. Da strömte das Volk zusammen und schrie sich die Hälse wund, ich natürlich auch, als er schließlich kam, aufrecht im Wagen stehend, mit erhobenem Arm und dem durchdringenden Blick seiner stahlharten Augen. Dass das einer war, der sich an der Macht vollsoff wie normale Leute am Bier oder Wein, das hätten wir eigentlich merken sollen.

 

Sie fragten mich, ob Sie meine Briefe als Unterlagen zur Geschichte der Nachkriegszeit in Geithain verwenden können. Ja, natürlich. Doch muss ich Sie warnen. Meine Erinnerungen machen nicht den Anspruch objektiv zu sein. Ich habe viel über die dreißiger Jahre und danach aufgeschrieben. Wenn es Sie interessiert, schicke ich Ihnen diese Erinnerungen nach und nach. Wenn der Streik lange genug dauert, lege ich Ihnen schon diesmal etwas bei. Anbei etwas zur „Vergangenheitsbewältigung“. Das nächste Mal mehr.

Meine Frau und ich grüßen Sie sehr herzlich. Hoffentlich ist Chemnitz von der Art, dass Ihnen Zeit zur Heimatforschung bleibt. Ihnen und Ihrer Familie wünschen wir alles Gute.

Ihr Ulrich J. Sommer