Briefgeschichte(n) Band 1

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Georgetown, 22. November 1990

Lieber Dr. Senf, ich hätte Ihnen gern früher geschrieben, doch warte ich immer noch auf Post von Dover. Alles, was mir bisher zugeschickt wurde, ist dieser Auszug aus einer Aufstellung Doverscher Fabriken aus dem Jahre 1922. Diesen Auszug schickte mir die Bibliothekarin. Ich schrieb ihr sofort zurück und bat sie um mehr Information, doch bekam ich noch nichts Weiteres. Auch von der Dover Historical Society und der Zeitung The Daily Record habe ich noch keine Antwort erhalten. Dabei bin ich sicher, dass da mehr zu erfahren sein muss. Möglicherweise muss ich dort einmal hinfahren, um Nachforschungen am Ort anzustellen. Das wird aber erst im nächsten Jahr (1991) klappen, da ich im Augenblick hier nicht weg kann. Unterdessen könnten Sie mir bitte genau mitteilen, welche Auskünfte Ihnen besonders wichtig erscheinen.

Ich bekomme die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ jede Woche zugeschickt und lese in der die interessantesten Berichte aus Sachsen. Haben Sie Gelegenheit, diese Zeitung zu lesen? Das ist wohl die Beste der vielen Zeitungen in Deutschland, ein wirklich liberales Blatt. Der bedeutende frühere Kanzler Helmut Schmidt ist einer der Herausgeber.

Mit großer Freude hörte ich von anderen Geithainern, die ebenfalls mein Schreiben in der Leipziger Volkszeitung gelesen hatten. Was mich interessiert, ist, was in Geithain nach unserer Vertreibung geschehen ist. Der große Mann im Herbst 45 war ein Herr Kopp. Können Sie mir bitte sagen, was aus dem wurde? Er lebt sicher nicht mehr, er war schon damals nicht mehr so jung. Er war ein übler Bursche, der es darauf abgesehen hatte, meine Mutter in den Tod zu treiben. Das gelang ihm schneller, als er es selbst gehofft hatte.

Vielleicht kommt es Ihnen merkwürdig vor, lieber Dr. Senf, dass ich Sie um Auskunft über einen solchen Menschen bitte. Da er jedoch eine Schlüsselfigur im Leben meiner Eltern war, ist meine Bitte vielleicht nicht so abwegig. Ich habe 45 Jahre lang nach dem Sinn der Ereignisse im Herbst 1945 gesucht. Ich hoffe, dass Sie mich verstehen.

Meine Frau und ich wünschen Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und ein glückliches Neues Jahr.

Ihr Ulrich J. Sommer

Georgetown, 08. Dezember 1990

Lieber Dr. Senf, endlich habe ich Neues aus Dover. Die Zeitung dort veröffentlichte meine Bitte um Auskunft, Paul Guenther betreffend, und gestern erreichten mich diese Dokumente, die vielleicht auch für Sie von Interesse sind. Besonders finde ich die Photographien des Guentherschen Hauses aufschlussreich. Wie man ja auch an der Schule in Geithain sehen kann, Paul Guenther war ein Mann von Welt. Er hatte ein Auge für Kunst, er war ein großzügiger Mensch mit einem sozialen Gewissen und er wusste, dass man mit Geld etwas schaffen muss, was die Zeiten überdauert. Ich habe heute mit dem Herrn telefoniert, der mir diese Dokumente geschickt hat. Er erzählte mir, dass einige von Paul Guenthers Fabriken noch stehen und dass besonders die Häuser, die er für seine Arbeiter gebaut hat, alle noch existieren. Es heißt „Das deutsche Viertel“ (The German District). Leider wurde das Guenthersche Haus abgebrochen, um für eine Oberschule Platz zu machen. Bisher habe ich nichts weiteres über Mrs. Margarete Reiner, seine Tochter, erfahren. Ich werde weitere Forschungen anstellen.

Meine Frau und ich haben vor, im Frühjahr eine Reise nach Dover zu machen.

Lassen Sie mich bitte wissen, worauf ich besonders achten soll.

Alles Gute wünschen wir Ihnen und Ihrer Familie.

Ulrich J. Sommer und Frau Gisela

Geithain, 31.12.90

Lieber Herr Sommer,

so „zwischen den Jahren“ ist endlich mal etwas Zeit, um Briefschulden zu tilgen. Herzlichen Dank für Ihren Brief vom 8. Dezember d. J. und besonders für die Materialien zu Paul Guenther. Sie helfen uns sehr bei der Vervollständigung des Persönlichkeitsbildes dieses Mannes, dem Geithain so viel zu verdanken hat. Ich freue mich, dass Sie uns weiter unterstützen möchten und im Frühjahr in Dover an Ort und Stelle Weiteres erfahren werden. In einer Anlage zu diesem Brief sind einige konkrete Fragen formuliert. Der Geithainer Heimatverein und ich persönlich danken schon jetzt für die Bemühungen.

Im vorletzten Brief baten Sie mich, einige Recherchen zu Herbert Kopp einzuholen. Ich habe leider bisher noch nichts Schriftliches auffinden können. Eine Reihe Geithainer erinnert sich aber sehr deutlich – und es sind durchweg keine guten Erinnerungen. Kopp hatte den Spitznamen „der Leutnant“. Viele erinnern sich, dass er sich als ganz schäbiger „Entnazifizierer“ aufgespielt hat. Er ging nicht durch Geithain, sondern machte seine Streifzüge hoch zu Ross durch die Stadt. Er hat vielen Leuten übel mitgespielt. Meine Schwiegermutter Elsbeth Ladegast – die Ehefrau von Hans Ladegast, der bereits 1941 gefallen ist, in den 30er Jahren aber in Geithain ziemlich bekannt war – erinnert sich, dass sie Herrn Kopp eine detaillierte Aufstellung über den Besitzstand ihres Mannes, bis hin zu persönlichsten Dingen, liefern musste. Kopp war wohl in den ersten Monaten nach 1945 so etwas wie der Stadtpolizeirat von Geithain. Manche sagen wieder, er hätte sich das nur angemaßt. Lange dauerte der Kopp- Spuk wohl auch nicht, denn nach 1947 hört man nichts mehr von ihm. Herbert Kopp hatte vor 1945 eine Tochter der Familie H. geheiratet. Deren Bruder, also Kopps Schwager, heißt Ehrhardt H., lange Zeit auch im Polizei-Kreisamt tätig. Er lebt als Rentner in Geithain. Ich kenne ihn nur vom Ansehen.

Lieber Herr Sommer, das Schlimmste über Kopp habe ich von Ihrem Cousin, Herrn Dr. Sommer aus Ulm, Direktor der dortigen Industrie- und Handelskammer, gehört. Ich habe mich letztens sehr ausführlich mit ihm unterhalten können, denn er war Gast unseres Landrates. Zwischen dem Alb-Donau-Kreis und dem Kreis Geithain bestehen seit der Wende ziemlich enge Beziehungen. Ihr Cousin sagte, Kopp wäre direkt schuld am Tode Ihrer Mutter. Stimmte es, dass Kopp sie in den Bauch getreten hat? Es wäre wohl überhaupt einmal an der Zeit, einige Details über die Wochen und Monate unmittelbar nach 1945 zusammenzustellen. Ich weiß jetzt nicht, ob Sie es mir schon geschrieben hatten. In welches Lager ist Ihr Vater nach 45 eingeliefert worden? Wie lange war er dort und waren andere Geithainer mit ihm zusammen?

Bei dem Gespräch mit Ihrem Cousin habe ich viel über die Familiengeschichte der Sommers erfahren. Ich dachte immer, dass „der Sommerhof“ für die Geithainer Gegend ein feststehender Begriff sei, weil die Sommers schon seit mehreren Generationen hier lebten. Dabei ist Ihr Vater, wohl aus dem Vogtland kommend, der erste Sommer gewesen. Wissen Sie, wer vor Ihnen den Sommerhof besessen hat?

Nun muss ich noch einmal auf den Namen Kopp zurückkommen. In Geithain gibt es ihn nicht mehr. Aber in Tautenhain kenne ich eine Frau Kopp, die nach 1945 geheiratet hat. Der bewusste Herr Kopp hatte aber, jedenfalls nach jetzigem Kenntnisstand, keinen Sohn. Der Name Kopp taucht nun noch ein drittes Mal auf. Das wird Sie besonders berühren, da Sie mir einmal mitteilten, dass Ihre Eltern freundschaftliche Kontakte zu Angers auf dem Rittergut in Ottenhain hatten. Frau Anger war eine geborene Frau Kopp. Ich weiß, dass die Kopps seit etwa 1820 das Rittergut besaßen. Ob nun Herbert Kopp ein Nachfahre jener Kopps ist, weiß ich noch nicht. Mitunter kommen bei solchen Nachforschungen kuriose oder tragische Kombinationen zum Vorschein. Wenn Sie einverstanden sind, gehe ich den Kopp-Spuren weiter nach.

Nochmals vielen Dank für Ihre Unterstützung in Sachen Paul Guenther! Für 1991 wünsche ich Ihnen und Ihrer Frau alles Gute, besonders eine stabile Gesundheit und viel Freude an vielem. Sollten Sie einmal wieder nach Geithain kommen, würde ich mich sehr freuen, wenn wir uns zu einem persönlichen Gespräch treffen könnten.

Mit den besten Grüßen und Wünschen verbleibe ich

Ihr G. Senf

Georgetown, 07. Februar 1991

Lieber Herr Dr. Senf, herzlichen Dank für Ihren Brief vom 31. Dezember. Unterdessen ist mal wieder ein Krieg ausgebrochen, den man hätte vermeiden können. Schließlich wusste die Welt schon vor vielen Jahren, was für ein übler Bursche Saddam Hussein war. Hätten ihn die Waffen- und Giftgashändler der ganzen Welt nicht mit allem versorgt, dann hätte er weder die Kurden noch den Iran und schon gar nicht Kuwait angreifen können. Und nun ist Israel in Gefahr, an dessen Bestand alle friedliebenden Menschen der Welt interessiert sein müssen. Wollen wir hoffen, dass durch den Krieg zweierlei erreicht wird. Einmal, dass all diese Teufelswaffen, die Saddam angesammelt hat, vernichtet werden, und zum Anderen, dass wir uns aus der Abhängigkeit vom Öl befreien. Die Verschwendung in den westlichen Ländern der Welt stinkt zum Himmel und führt folgerichtig zur Vernichtung der Umwelt.

Über die Familie Kopp: Sie haben recht, das Rittergut in Ottenhain gehörte dieser Familie. Frau Anger war eine geborene Kopp. Der alte Herr Kopp lebte noch am Anfang der dreißiger Jahre. Ich kann mich an ihn erinnern. Ein paar Generationen zurück gab es da einen Sohn, der aufs schiefe Gleis kam, wie das so schön hieß, und dessen Zweig der Familie gipfelte in dem Herrn Kopp, der nach dem Einmarsch der Russen 1945, sozusagen zum Diktator von Geithain aufstieg. Die Vorgeschichte ist harmlos. Als junger Mann war dieser Herr Kopp ein Kommunist. Viele, sehr ehrenwerte Leute waren nach dem ersten Weltkrieg Kommunisten. Herr Kopp war unser Briefträger. In jedem Wetter fuhr er auf dem Fahrrad nach dem Sommerhof und brachte uns die Post. Sonntags ging ich ihm entgegen. Die Chemnitzer Zeitung hatte eine Sonntagsbeilage, auf die ich versessen war. Es war eine Seite mit lustigen Zeichnungen und die wollte ich haben, bevor mein Vater die Zeitung mit Beschlag belegte. Ich war damals 5 oder 6 Jahre alt. Herr Kopp war, sozusagen, mein Freund. Wenn er nicht in Eile war, bekam er in der Küche einen Kaffee, der damals aus gebrannter Gerste gekocht wurde, und manchmal machte ihm meine Mutter ein Bündel für seine Kinder, mit Sachen, aus denen ich herausgewachsen war. Mein Vater war arrogant und wenig taktvoll, und ich kann mich erinnern, dass er sich über Herrn Kopp lustig machte, auch in dessen Beisein. Er machte sich über Herrn Kopps politische Überzeugung lustig und der verteidigte sich nicht, sondern stimmte, halb verlegen, ins Gelächter ein. Nach 33 war dieses Thema dann tabu, und Herr Kopp brachte weiterhin die tägliche Post. Am 12. April 1945 , wenn ich mich recht erinnere, kamen die Amerikaner nach Geithain. Mein Vater war damals mit Schörner in Mähren. Warum weiß ich nicht. An sich war er der Adjutant von Scheppmann, dem letzten Reichsführer der SA (nachdem Lutze im Frühjahr 45 von Tieffliegern auf der Autobahn getötet worden war). Im Mai kam er nach Hause. Bald danach holten ihn die Amerikaner. Der Transport, zu dem er gehörte, hatte einen Verkehrsunfall und alle Nazis, die zu diesem Transport gehörten, waren mehr oder weniger verletzt und kamen in umliegende Krankenhäuser. Der Fahrer verlor sogar sein Leben. Wir fanden meinen Vater in Weißenfels. Er hatte eine Gehirnerschütterung, einen Schlüsselbeinbruch und mehrere Rippenbrüche. Anfang Juli kam er dann nach Geithain zurück, wenn ich mich recht erinnere. Er hatte keine Papiere. Die waren bei dem getöteten Fahrer geblieben. Das zivile Krankenhaus in Weißenfels entließ ihn, als er wieder einigermaßen in Ordnung war, wie jeden anderen Kranken.

 

Mitte Juli übernahmen dann die Russen Sachsen. Ich war gerade in Geithain, als die mit ihren Bündeln, auf Pferdewagen getürmt, durch die Stadt zogen. Münsters in Königsfeld wussten vom Abzug der Amerikaner, sie hatten sich mit einem Offizier angefreundet und der hatte sie vom bevorstehenden Einmarsch der Russen unterrichtet. Darauf verließen Münsters Königsfeld mit Pferd und Wagen und dem, was man in der Eile aufladen konnte, und setzten sich nach dem Westen ab. Die Gräfin rief uns an und unterrichtete uns von diesem Vorhaben. Meine Mutter wollte ebenfalls mit unseren Pferden gen Westen gehen, aber mein Vater war dagegen. Herr Anger war damals schon sehr krank, sodass auch Angers blieben, wie auch unsere guten Freunde Einsiedel in Hopfgarten. Mitte August wurde mein Vater von der Geheimpolizei abgeholt. Ich war gerade mit ihm in der alten Schmiede, die auch jetzt noch auf unserem Hof steht, als das Auto mit dem russischen Polizisten in den Hof fuhr. Sie nahmen ihn mit, so wie er war. Später hörten wir, dass er in Bautzen sein sollte, und da bin ich hingefahren, um ihm warme Kleidung zu bringen. Ins Lager wurde ich natürlich nicht hineingelassen, doch an der Rückseite war ein Feld mit einem hohen Zaun. Ein paar Männer liefen hinter dem Stacheldraht herum und ich rief den Namen meines Vaters, ob er den kenne? Und einer rief zurück ja, den kenne er, doch sei der am Tage nicht im Lager sondern auf einem Gut zur Rübenernte. Ich warf mein Paket über den Zaun. Am nächsten Morgen bin ich dann nochmal zum Lager gegangen. Ich dachte, vielleicht sehe ich meinen Vater, wenn die Männer zur Arbeit gehen. Da kamen viele heraus, alle unter schwerer Bewachung, aber mein Vater war nicht darunter. Ich bin mir nie sicher gewesen, ob er überhaupt in Bautzen war, aber mehrere Jahre nach dem Kriege kam ein Mann aus Bautzen zu meiner Tante Helene Sommer, die bis zu ihrem Tod im Jahre 1962 in Geithain lebte, und erzählte ihr, dass mein Vater schon 1946 im Lager Bautzen gestorben ist. Da war er im 60. Lebensjahr. Eine offizielle Nachricht habe ich nie bekommen. Auf dem Sommerhof fanden nach der Abholung meines Vaters Plünderungen durch die Geheime Sowjetische Polizei statt. Wonach sie suchten und ob sie etwas fanden, weiß ich nicht zu sagen. Ein Nazi-Sonderführer aus der Ukraine erschlich sich, kraft seiner Kenntnis der russischen Sprache, einen einflussreichen Posten in der Geithainer Kommandantur. Ich habe seinen Namen vergessen. Doch quartierten ihn die Russen bei uns ein. Meine Mutter hatte eine Auseinandersetzung mit ihm und er rächte sich, indem er eine Eingabe von uns, die Ernte betreffend, die wir in der Kommandantur eingereicht hatten, verschwinden ließ. Mitten in der Nacht wurde ich von einem bewaffneten Soldaten zur Kommandantur gebracht und dort eingesperrt. Dank einer baltischen Dame, die auf der Kommandantur als Dolmetscherin arbeitete, kam ich da wieder raus. Später wurde uns befohlen, die Kommandantur mit Lebensmitteln zu versorgen. Sahne, Butter, Äpfel, Kartoffeln, Gemüse etc. Zu diesem Zweck hatten wir einen jungen russischen Soldaten im Haus, der aufpassen sollte, dass alles mit rechten Dingen zuging. Das war übrigens ein netter Junge. Er war in meinem Alter und wir verstanden uns gut. Er sprach etwas deutsch und ich lernte von ihm etwas russisch. Wir haben auf diese Weise erstaunlich viel miteinander geredet.

Herr Kopp machte während dieser Wochen eine steile Karriere. Er wurde zum Polizeipräsidenten ernannt und hatte schließlich eine Truppe von 13 Polizisten zu befehlen, wenn ich mich da recht erinnere. Sie haben recht, er ritt hoch zu Ross durch die Stadt, kein Fahrrad mehr für ihn. Es war ein erstaunlicher Anblick. Hoch zu Ross kam er auch auf den Sommerhof, um die Enteignung voranzutreiben. An sich war unser Hof mit seinen nur 68 oder 69 Hektar kein Enteignungsmaterial (alle Höfe über 100 Hektar fielen unter diese von den Russen verordnete Bodenreform), aber Herr Kopp wollte unbedingt einen Hof enteignen und da kam ihm dieser Hof, zu dem er so oft in Kälte und Regen hatte hinausfahren müssen, gerade recht. Meine Mutter versuchte, mit Hilfe eines Rechtsanwaltes aus Leipzig, den Hof für mich zu halten, doch machte sie Herrn Kopp dadurch nur immer wütender. Schließlich wurde uns der Räumungsbefehl für den 20. Oktober, wenn ich mich nicht irre, zugestellt. Am 21. war die Enteignungsfeier. Wir hatten ein paar Möbel und persönliche Dinge, wie Familiendokumente und Photographien, zu einem Geithainer Spediteur gebracht und auch selbst in Geithain eine vorläufige Unterkunft gefunden. Wir hatten vor, nach Leipzig zu gehen, wo eine Tante ein Haus hatte (die Familie meiner Mutter hatte damals noch die „Leipziger Brotfabrik Gebrüder Joachim“), die dann drei Jahre später auch enteignet wurde. Ich war auf dem Hof bei unserem guten Hofmeister Paul Wüstner und seiner Frau geblieben, um die Enteignungsfeier mit anzusehen. Ein großes Spruchband am Haus verkündete „Junkerland in Bauernhand“ und ein anderes am Stall schrie: „Nieder mit den Ausbeutern“. Ein Rednerpult, mit Getreidegarben geschmückt, stand im Hof, und davor versammelten sich dann die Neusiedler und die Herren von der Partei waren auch da und natürlich Herr Kopp auf seinem Pferd. Auch war ein Schwein geschlachtet worden, fürs Festessen. Am nächsten Tag ging meine Mutter aus irgendeinem Grund zum Rathaus am Markt, da das eigentliche Rathaus damals Kommandantur war. Von dort kam sie nicht wieder zurück und wir wussten nicht, wo sie war. Wir suchten sie überall. Schließlich lief eine Cousine von mir (die Schwester von Dr. Sommer aus Ulm) durch die Gasse hinter dem Rathaus und hörte über sich die Stimme meiner Mutter, die aus einem Zellenfenster um Hilfe schrie. Es stimmt, was Ihnen mein Vetter erzählt hat. Sie war schon im Gefängnis in Geithain sehr krank. Ich durfte sie nicht besuchen und einen Arzt hatte sie, soviel ich weiß, auch nicht. Einige Tage später wurde mir befohlen, mich zum Abtransport mit meiner Mutter bereitzuhalten. Früh, es war noch dunkel, wurden wir von zwei jungen Polizisten zum Bahnhof gebracht und dann mit dem Zug nach Coswig transportiert, wo uns zwei Polizisten in einem Sammellager für „Junker“ ablieferten. Eine Sieben-Tage-Reise im Viehwagen brachte uns auf die Insel Rügen. Es gelang uns, von dort zu fliehen. Aber nun waren wir vogelfrei, mit den Schergen auf unserer Spur. Wir kamen nach Leipzig zurück und fanden schließlich ein Krankenhaus mit einem jüdischen Chefarzt, der uns beide unangemeldet aufnahm, wofür dieser gute Mensch doch eigentlich gar keinen Grund hatte, nach allem, was wir Deutsche den Juden gerade angetan hatten. Dort ist meine Mutter am 23. November 1945 an ihren inneren Verletzungen gestorben. Es ist eine merkwürdige Geschichte, finden Sie nicht auch? Irgendetwas fehlt und man fragt sich, was das ist. Es ist mir immer so vorgekommen, als wäre da ein Geheimnis gewesen zwischen meinen Eltern und Herrn Kopp, etwas, wovon ich nichts weiß. Sie schreiben, dass er schon längst nicht mehr lebt. So hat er wohl die Erklärung dieser Geschichte mit ins Grab genommen. Es wurde mir mitgeteilt, dass schon im November 45 alle Einrichtungsgegenstände vom Sommerhof und vom Spediteur in Geithain zur Turnhalle hinter der Kommandantur gebracht wurden, wo sich dann jeder nehmen konnte, was er wollte. Frau Thiemann schickte mir eine große Menge Photographien und Briefe meiner Familie, die ihr Vater, Herr Kurt Müller, über all die Jahre aufbewahrt hatte. Herr Müller war Bürgermeister nach dem Krieg bis zum Einmarsch der Russen. Er war ein sehr vornehmer Mensch, der meiner Mutter in diesem letzten Sommer sehr beistand. Ich nehme an, dass Herr Müller diese Briefe etc. in der Turnhalle gefunden hat.

Sie fragen, wem der Hof vor uns gehörte. Hier muss ich etwas ausgreifen. Mein Großvater Sommer war von abenteuerlicher Herkunft. Vielleicht erzähle ich Ihnen seine Geschichte einmal. Er war ein Mann voller Pläne und Ideen und er lebte auf großem Stil, er meinte sich das schuldig zu sein. Bis 1912 war er der Besitzer vom Rittergut in Lauterbach im Vogtland. Dann zog er nach Leipzig und kaufte das Bauchsche Kalk- und Ziegelwerk in der Nähe von Geithain sowie den Hof vom Bauer Götze daneben. Er und meine Großmutter lebten in der Bauchschen Villa am Bahnhof (im Mai 90 war da das Wehrbezirkskommando der Volksarmee drin), die Kinder waren im Krieg oder verheiratet. Möglicherweise wissen Sie mehr darüber als ich. Nach dem Kriege lebte mein Vater in dem kleinen Gartenhaus neben der Villa. Als etwa 1929 mein Großvater die Villa an Dr. Waurick verkaufte, richtete sich Dr. Waurick seine Praxis im Gartenhaus ein. 1919 lernten sich meine Eltern kennen und sie heirateten im April d. J. Meine Mutter war sehr vermögend und meine Eltern beschlossen, sich auf dem Bauchschen Grundstück ein kleines Gut aufzubauen. Vielleicht hatte mein Vater schon während des Krieges dieses Grundstück von seinem Vater gekauft. Man müsste im Grundbuch, wenn dass noch existiert, Nachforschungen anstellen. Der Sommerhof war als Landsitz wohlhabender Leute gedacht. Mein Vater wollte Turnierpferde züchten, eine Sache, die ihn sehr interessierte und wofür er großes Geschick hatte. Er war damals ein bekannter Turnierreiter. Die Inflation schrumpfte dann das Vermögen meiner Mutter erheblich und der Hof wurde ein Bauernhof wie jeder andere. Als Offizier des ersten Weltkrieges war mein Vater natürlich ein Mitglied des „Stahlhelms“ in den zwanziger Jahren. 1933 wurde der „Stahlhelm“ von den Nazis vereinnahmt, was meinem Vater erst nicht passte, aber dann hat er doch mit Eifer mitgemacht. Er war ganz in den Vorstellungen des ehemaligen Soldaten befangen. Die Nation stand über allem, Kommunisten waren vaterlandslose Gesellen. Meine Mutter hatte einiges von der Welt gesehen (sie studierte vor dem ersten Weltkrieg in England), und war, was man heute als liberal bezeichnen würde. Mein Bruder, der 1920 zur Welt kam, war ein mehr als begeisterter Hitlerjunge. 1939 meldete er sich sofort freiwillig und fiel im Mai 1940 im Westen.

Lieber Dr. Senf: Das ist nun aber genug. Wenn wir, wahrscheinlich Ende April, nach Dover fahren, will ich versuchen, Antworten auf Ihre Fragen, Paul Guenther betreffend, zu finden. Ich kann mir vorstellen, dass Sie viel zu tun haben. Die Probleme in Sachsen müssen überwältigend sein. Hoffentlich gelingt die Umstellung ohne schreckliche Rückschläge, wie sie sich, zum Beispiel, in Russland anbahnen. Was für ein Jahrhundert!

Adolf Anger, der zweitälteste Sohn der Angers aus Ottenhain, lebt in der Nähe von Köln. Wir besuchen sie immer, wenn wir in Europa sind. Er und seine Frau sind reizende Menschen. Interessieren Sie sich für seine Anschrift?

Herzliche Grüße auch von meiner Frau.

Ihr Ulrich J. Sommer