Buch lesen: «Sechs Geschichten»

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Inhalt

Impressum 2

Vorwort 3

Das außergewöhnliche, wunderbare Wirtshaus der Hedi S. 4

Die Frau des Kantors 20

Die Spinnerin 32

Die Kunigundenkapelle 42

Frühe Reisen in die DDR 50

Mein fabelhafter Bruder 66

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99010-985-4

ISBN e-book: 978-3-99010-993-9

Umschlagfoto: Pavel Losevsky | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Gottfried Horbaschk

www.novumverlag.com

Vorwort

Perikles: „Zum Glück brauchst du Freiheit, zur Freiheit brauchst du Mut.“

Sei es der großen Freiheit Glück oder sei es auch nur eine der vielen kleinen Freiheiten, von denen wir reden! Und lassen wir erst mal außer Acht, ob wir dadurch nur ein schnelles Glücksgefühl oder eine tiefe Zufriedenheit erfahren. Wer weiß solches schon im Voraus und wer kann ermessen, wie viel Freiheit man sich nehmen muss, um seine Wünsche, seine Sehnsüchte, seine Ziele, sein Handeln im täglichen Leben in eine Portion Glück zu verwandeln? Wir suchen unentwegt einen Weg, uns zu verändern, mehr oder weniger mutig aus dem tristen Alltag herauszutreten, der Eintönigkeit, dem Zwang, den Vorschriften, auch den moralischen und manchmal sogar den sittlichen Gepflogenheiten zu entkommen und nehmen uns hierfür die nötigen Freiheiten (und gegebenenfalls auch den erforderlichen Mut) heraus und glauben, solchermaßen Glück zu finden, was tatsächlich auch gelingen kann. Aber wie nah neben solchem Tun liegt das Misslingen, die Gefahr, das Fatale, der Verrat, das Unglück oder gar der Tod. Zwischen diesen beiden Polen wollen wir den bunten Reigen unserer Geschichten – so wie sie sich zugetragen haben – ansetzen, wobei sich die Ergebnisse mehr oder weniger weit auf einer der beiden Seiten wiederfinden können und das, was wir Schicksal nennen, in beide Richtungen hin als treibende Kraft wirken kann.

Das außergewöhnliche, wunderbare Wirtshaus der Hedi S.

Eine Milieustudie

Es kann der Vorübergehende oder auch der Eintretende auf dem etwas verblichenen Ausleger der zu beschreibenden Gastwirtschaft den stolzen Namen „Zum schwarzen Ritter“ erkennen und in dem nicht mehr gerade Hochglanz ausstrahlendem Piktogramm in der Mitte des Schildes gibt der schwarz gekleidete, mit metallisch glänzendem Helm sowie langen Sporen ausgestattete Held und Namensgeber der Lokalität in kämpferischer Pose seinem ebenfalls schwarzen Ross die Parade. Ansonsten fügte sich die Eckkneipe aber in die umliegende Vorstadt mit ihren traurigen Häuserzeilen ganz passabel ein. Keine allzu weite Entfernung musste man zurücklegen, um vom Marktplatz der mittelgroßen, fränkischen Universitätsstadt in diese Gegend zu gelangen. Verfolgte man die Richtung ein kurzes Stück weiter, erreichte man die Reste der Stadtmauer, kam zum Bahndamm und zum alten Kanal. Durch eine finstere Unterführung führte der Weg zum Stadtteil der „Werker“, wohl ein mundartlicher Ausdruck für ein Viertel mit heruntergekommenen Handwerksbetrieben, der einen oder anderen aufgelassenen Fabrik und mehr oder weniger subsozialen Bevölkerungsstrukturen. An den Bahndamm schmiegten sich hier auch einige schmutzige Holzhütten, einstmals wohl als Behelfsheime errichtet, mit zum Teil zweifelhafter Belegung, die unter anderem aber auch vom „Personal“ unserer naheliegenden Gastwirtschaft genutzt, bzw. bewohnt wurden.

Der Zugang zum Schwarzen Ritter erfolgte ebenerdig durch eine Tür, die in die abgeschrägte Ecke des Hauses eingelassen war, eine weitere, tückische Schwingtür, die bei so manchem späten Gast durchaus auch mal ein statisches Problem verursachen konnte, gab nach einem kurzen Flur dann den Zugang zu den im rechten Winkel angelegten zwei Teilen eines mittelgroßen Gastraums frei, wobei die Aufteilung dazu führte, dass der kleinere vordere Teil von der Theke, die im hinteren Teil lag, nicht einsehbar war. Die nüchterne Atmosphäre des einstmals einfachen, billigen Ecklokals wurde dadurch aufgepeppt, dass die Hedi S., als sie dieses übernahm, einen hohen Tresen einbauen ließ und davor einige klotzige Barhocker aufreihte. Dazu wurde es mit bei Bedarf Dämmerlicht abstrahlenden, schmucklosen, billigen bunten Lampen ausgestattet. Als Wichtigstes stellte man im vorderen Raum eine Musikbox auf und in der Mitte dieses Teils ließ man etwas Platz für eine eher enge Tanzfläche. Im Handumdrehen war die Atmosphäre einer kuschelig-lauschigen Amikneipe entstanden. Die Architektur begünstigte den vorderen Teil des Lokals als „free area“, und man kann sich ausmalen, dass diese sich vor allem in vorgerückter Stunde durchaus zum Chaos-Raum entwickeln konnte, dazu aber später noch einiges. Man hätte durch Einbau eines kleinen Fensterchens vom Schankraum her durchaus Einblick in diesen vorderen Teil herstellen können, aber vielleicht wollte die Wirtin auch gar nicht alles sehen.

Saß man nun am Freitag- oder Samstagabend an dem langen Tisch gegenüber der Theke, der auch als Stammtisch fungierte, konnte man beobachten, wie sich das Lokal langsam füllte. Kein ehrbarer Bürger der Stadt war unter den Eintretenden. Selbst Hilfsarbeiter, Kohlenträger, Straßenfeger oder Marktverkäufer kehrten nach Feierabend in der gegenüberliegenden Schankwirtschaft „Zur Stadt Paris“ mit seinen einfachen Holztischen zum Fassbier und einem Vesper, bestehend aus Presssack oder Stadtwurst ein. In den „Schwarzen Ritter“ sah man dagegen allerhand kuriose Gestalten hereingehen: Bunte Vögel, Nachtschwärmer, Renommisten, Alkoholiker, zwielichtige Halbweltgestalten, später auch ein paar Damen, eine Handvoll Studenten (darunter auch einige, die sich nur als solche bezeichneten) und als Wichtigstes natürlich vor allem Soldaten, Amerikaner. Auf deren Dollars ruhte das wirtschaftliche Fundament des ganzen Betriebes, denn für einen Dollar erhielt man damals vier Deutsche Mark.

Mit dem Fortschreiten der Stunden gestaltete sich der spätere Abend zunehmend abwechslungsreicher, wurde immer interessanter, konnte zu einem tollen Spektakel auflaufen, wenn es dafür auch kein Drehbuch gab, wenngleich sich die Szenen – ähnlich dem Spielplan einer Komödienbühne – in unregelmäßigen Abständen wiederholten. Natürlich nicht zu verschweigen, der ausgiebige Alkoholkonsum war Ursache und Motor für so manche außergewöhnliche Szene. Aber gerade deswegen gingen wir ja so gerne dahin.

Ehe wir uns an die typischen Abläufe oder auch an so manchen ungewöhnlichen Vorfall in diesem an Ereignissen so reichen Lokals erinnern, wollen wir uns der Haupt-Akteurin zuwenden. Die Hedi S. hatte ihren Platz hinter dem Tresen, wovon sie das Geschehen in großen Teilen des Lokals mehr oder weniger frei nach ihrem Gusto und darüber hinaus gemäß den dringendsten Notwendigkeiten reglementierte. Unter diesen war die wichtigste – wollen wir es nicht unter den Tisch kehren – Geld einzunehmen, und davon möglichst viel. Ihr Alter konnte keiner exakt benennen, mögen es gut 40 Jahre gewesen sein. Die mittlere Statur umhüllte ein hochgeschlossenes Kleid, meist in helleren Farben gehalten, das Gesicht war immer dick weiß geschminkt, ähnlich dem eines Clowns. Ihre schmalen Lippen bemalte sie in schrillen, kräftigen roten Farbtönen, manchmal auch etwas über die Ränder hinaus. Die roten Haare waren über der Stirn, wie es damals an sich schon nicht mehr der neuesten Mode entsprach, zu einer hohen Tolle aufgetürmt. Ihre ganze Erscheinung ergab zusammen mit ihrem leicht verschmitzten, aber auch frechen, zuweilen etwas ordinär wirkendem Lächeln eine Verbindung von wohlsituierter Bürgerlichkeit und einem Touch Verruchtheit, wobei letztere, sobald sie den Mund aufmachte, eindeutig überwog. Sie orientierte sich in ihrem Aussehen an den großen Film-Diven der 40-er und 50-er Jahre, zum Beispiel Kathrin Hepburn, ja, wenn man auch einige kleine Abstriche machen musste – vor allem am späten Abend – eine gewisse Ähnlichkeit konnte man ihr nicht absprechen.

Den Eingang des Lokals hatte sie immer gut im Blick. Wenn nun (vermeintlich) zahlungskräftige Gäste eintraten, insbesondere auch amerikanische Soldaten, hörte man zur Begrüßung in schöner Regelmäßigkeit: „Da kommt mein Freund! Komm mal her! Gibst’ mir einen aus?“. Das floss ihr auch im amerikanischen Slang leicht und lautstark über die knallroten Lippen. Cognac-Cola war der Gold-Standard. Davon wurden dann am Tresen sofort zwei eingeschenkt, und am besten danach gleich nochmal usw.

Kommen wir in diesem Zusammenhang zu einem wohl ausgefeilten Brauch diese liebe Gewohnheit betreffend. Denn nach dem so-und-so-vielten Drink und dem so-und-so-vielten Gast, musste einerseits darauf geachtet werden, dass sich nicht zu viele Gläser auf dem Tresen ansammelten, andererseits sollte ja auch die Übersicht gewahrt und der Kopf einigermaßen klar bleiben. Deswegen wurde nun einer von den armen Schluckern, meist ein Student, an das untere Ende des Tresen platziert und die Gläser machten bei einer kurzen Unaufmerksamkeit des Spenders dank einer geschickt ausgeklügelten Taktik eine wundersame Reise an das andere Ende der Theke und ggf. von dort weiter zu anderen armen Schluckern am Stammtisch, womit für die Verwertung bestens gesorgt war. Solches wurde an Zahltagen der Amerikaner schon in der Weise professionell vorbereitet, dass die Hedi dann Tage zuvor einem dafür in Frage kommenden Studenten zuflüsterte: „Kommst am Samstag rein und hilfst mir trinken?“

Leicht zu erraten, dass ein solches Ansinnen der Wirtin oft nicht ohne Gegenrede des für einen derartigen Nepp vorgesehenen Gastes ablief. Im Gegenteil, so mancher wehrte sich – so gut es eben ging. Die Debatte nahm an Fahrt auf, erregte zumindest in der Nähe, insbesondere an dem der Theke gegenüberliegenden Stammtisch interessierte Aufmerksamkeit. Es geht los! Kam die Hedi mit guten Worten nicht zum Ziel, wurden die Töne fordernder, barscher und vor allem lauter, andererseits auch die Gegenargumente des Betroffenen, die Situation schaukelte sich hoch, gewann an Dynamik und Interesse. Wenn sich trotz allem Debattierens kein Erfolg einstellte und es nicht zu dem spendierten Drink kam, machte die liebe Hedi dann andere Schubladen auf, nämlich die der Kraftausdrücke und Schimpfworte und davon hatte sie einen gewaltigen Vorrat auf Lager, nutzte ihn nach Kräften und man könnte hier kritisch anfügen, nicht in jedem Falle auf faire Art und Weise. Es wurden solche dann sowohl dem Gegner ins Gesicht geschleudert als auch allgemein – dann in der dritten Person – im Lokal verbreitet. Um die Situation und das Milieu lebendig zu beschreiben, wollen wir uns nicht scheuen, die gebräuchlichsten Schand-Begriffe der Hedi S. hier schon mal zu benennen. Die harmlosesten waren Lusch’, Blödgesoffen, Doldie, Deppele, Kanaille, Bankert, Bastard, Vollidiot, Missgeburt, Gesindel, Lumpenpack, Gossenpenner. Die nächste Stufe der Eskalation schloss dann schon sexuelle Merkmale ein: Schnallentreiber, Hurenbock, Inzucht-Depp, Affenschänder. Und im dritten Stadium müssen wir an dieser Stelle dann doch Abkürzungen verwenden, insbesondere um das Niveau unserer Geschichte nicht allzu weit absinken zu lassen: Flachw…, Mamaf…, Schlampenf…, Dummf…, F… knecht. (Jeder wird sie ergänzen können.) Die letztgenannten Metaphern wurden dann schon wieder etwas leiser und verschämt artikuliert, ein frivoles Lächeln begleitete sie. Mit solchem wurde der Triumph sichtlich genossen und konnte an dieser Stelle durchaus zu einem versöhnlichen Ende überleiten.

Nicht so aber dann, wenn das Wort „Baumholder“ von einem stark erregten oder massiv erzürnten Gast in das Wortgefecht oder allgemein in den Raum geworfen wurde. Solches zog die höchste erreichbare Steigerung des Streites unmittelbar nach sich. Dazu muss kurz erklärt werden, dass sich an jenem kleinen Ort der Pfalz ein großer Truppenübungsplatz der Amerikaner befand und das umliegende Städtchen eine mit solchen Institutionen üblicherweise einhergehende Infrastruktur beherbergte, insbesondere natürlich auch in Form von zweifelhaft beleumundeten Etablissements, in denen gewisse Damen zu verkehren pflegten, darunter auch unsere Protagonistin. Darüber hinaus diente ihr Ehemann daselbst als Polizist solange, bis das Pärchen aus nicht genauer bekannten Gründen den Ort verließ, weiß man’s, vielleicht auch verlassen musste, um sich weitab dieses verrufenen Fleckens eben hier in Franken eine neue Existenz aufzubauen. Also wieder zur Sache: Unsere liebe Hedi rastete allein bei der Erwähnung dieses Ortsnamens sofort total aus. Unter dem Abspulen aller ihr zur Verfügung stehenden Schimpftiraden rannte sie – wie von der Tarantel gestochen – durch das Lokal auf den Ärmsten zu, hätte ihm wohl gerne die Augen ausgekratzt, scheute sich auch nicht vor Handgreiflichkeiten. Ja, „da werden Weiber zu Hyänen“ (Schiller). Sie fluchte, tobte, fauchte gleich einer Otter: „Das hat Dir der Teufel gesagt“ (Rumpelstilz), riss sich allerdings dann doch kein Bein aus. Das Publikum hielt erst mal die Luft an… Irgendwann war’s aber dann vorbei wie der Sturm im Wasserglas. Der Zorn verrauchte so langsam. Gelegentlich gab es noch kleinere Nachbeben, auch das Publikum einschließend: „Schau nicht so blöd“, „Warte nur, bald bist du daran“, „Blödmann“, „Pass auf, dass du keine Watschn erwischst“ und der interessierte Zuschauer konnte beobachten, wie sich auf dem Gesicht ein triumphierendes Lächeln breit machte. Auch kam es dazu, dass der Gegner dann doch noch die aus dem Ruder gelaufene Situation mit einem Cognac-Cola beendete, somit die Hedi doch noch einen späten Sieg davontrug. Die andere Variante war die, dass durch die Schwingtüre – wie durch ein Wunder – ein neuer Gast eintrat, die Hedi schüttelte sich, setzte ihr verschmitztes Lächeln auf und das schöne Spielchen konnte von Neuem beginnen: „He du, gibst mir einen aus?“

Kommen wir als nächstes zum Stamm-Personal. Da wären zuvörderst zwei treue Bedienungen zu nennen, bezeichnen wir die erste als Susi, die zweite als Hilde. Daneben gab es noch den Vastl, der als Hausdiener fungierte und natürlich den Ehemann, Herrn S.

Man könnte leicht auf die Idee kommen, den beiden Bedienungen in diesem Milieu einen zweifelhaften Lebenswandel zuzuschreiben. Keineswegs! Sie waren dem Lokal treu ergeben, weil sie hier einen tollen Schnitt machten, ansonsten patente Mädel, die den Studenten meist zugetan waren, gelegentlich auch mal etwas zukommen ließen. Schließlich machten solche den wenigsten Trouble, selten echten Ärger, zwickten auch niemanden in den Hintern oder sonst wohin.

Die Susi, ein Zigeunermädchen, klein, nicht mehr ganz neu, flach gebaut, schwarzes Haar, dunkle Augen, roter Mund, auf der Oberlippe sprießten ein paar dunkle Härchen. Sie lachte sehr gerne und viel. Man konnte dieses fröhliche Lachen aber durchaus auch mal als sogenanntes „dreckiges“ interpretieren. Die Stimme war kehlig, immer rau belegt. Na ja, jeder wusste, dass sie sich nach getaner Arbeit fürchtete, allein in ihre Baracke im finsteren Stadtteil der Werker zurückzukehren und sich deshalb, wenn irgend möglich, einen freundlichen, späten Gast zur Begleitung erwählte, es durfte ruhig ein solider, ggf. auch farbiger GI sein. Soweit, so gut… Eines Tages war sie verschwunden. Niemand wusste wohin. Als sie nach geraumer Zeit, zunächst als Gast und in männlicher Begleitung wieder auftauchte, fiel ein schön gerundeter, schneeweißer Busen halb nur bedeckt auf und die zarten Fältchen im Gesicht waren ebenso wie die Härchen auf der Oberlippe wie von Zauberhand hinweg gewischt. Auch ihr Domizil am Bahndamm war einem anderen gewichen. Ob sie mit ihrem geänderten Outfit und den neuen Lebensumständen glücklicher war, wusste keiner so recht zu beurteilen. Ihr strahlendes Lachen aber und ihre unbekümmerte Leichtigkeit waren verschwunden. Gleich ob nun „Asphaltblüte“ die zutreffendste Charakterisierung ist, auf wunderbare Weise war dem Lokal eine neue, wohlfeile Blume erwachsen.

Anders die Hilde. Sie war von kräftiger Statur, zeigte ein eher verschlossenes Wesen, agierte pragmatisch und wusste sich in den meisten Situationen durchzusetzen. Sie lebte mit einem festen Freund zusammen. Dank ihres guten Schnitts, den sie im Schwarzen Ritter machte, besorgte sie im Wesentlichen die nötige Kohle für den gemeinsamen Hausstand und die gehobene Innenstadtwohnung.

Hatte die Hedi bei guter Geschäftslage dann irgendwann genug vom Cognac-Cola erwischt – niemand verträgt davon unbegrenzte Mengen – sieht so etwas eine gute Bedienung, eben die Hilde und verfrachtete ihre Chefin in die oben gelegenen Privatgemächer, genauer ins Bett und übernahm somit die Geschicke des Lokals für die nächste Zeit. Und eben zu dieser Stunde stellte sich bei manchem von uns ein schnelles Hungergefühl ein. Schnitzelsandwich! Diese amerikanische Spezialität wurde hier im Lokal saftig und sehr schmackhaft als einzige warme Speise vorgehalten. Appetit darauf, sodass uns das Wasser im Mund zerlief, hatten wir mächtig, aber kein Geld. Na ja, die Hilde bemerkte unser Verlangen und entschloss sich dann schon mal, für die Runde ein paar davon in die Pfanne zu schmeißen. Und wenn sie wegen zu hohen Betriebs nicht dazu kam, erledigten wir das in der Küche auch selbst. Und plötzlich tauchte die Hedi wieder im Lokal auf, erstanden wie Phönix aus der Asche. Noch etwas benommen, aber blitzschnell hellwach, wenn sie den Braten im wahrsten Sinne des Wortes roch oder gar die Reste davon noch sah und im Gegenzug dazu ihren ausgeraubten Kühlschrank in Augenschein genommen hatte. Mindestens die zweite Schublade der Kraftausdrücke wurde aufgemacht und es waren nun wir, über die sich eine riesige Tirade der Beschimpfungen ergoss. Ja, es wurde wieder laut im Lokal, sogar die GI’s hoben die Köpfe in unsere Richtung, auch wenn sie die Schandwörter nicht alle verstanden. Wir waren es jetzt, die ein hämisches Grinsen der anderen Gäste wegstecken mussten. Wir haben es überstanden, die Hilde auch! Das Geschäft musste weiter laufen, „the show must go on“. Der Abend war noch lang und bis zur Polizeistunde gab es noch genügend Möglichkeiten, den Verlust wieder einzuholen oder gar einen guten Schnitt hinzuzufügen.

Dazu dienten auch Würfelspiele, wozu die Hedi allzeit bereit war, ja gerne auch zu solcher Art von Zerstreuung aufforderte. Gespielt wurde um Schnaps, sofort zu trinken. Der Verlierer zahlt. Der Gewinner war natürlich immer der Wirt, in unserem Falle die Wirtin. Nur schade (für die Hedi), dass es dafür limitierende Faktoren gab, zum einen, dass die Sache für den oder die Mitspieler zu sehr ins Geld ging, zum anderen, dass die Wirtin es sich nicht noch mal leisten konnte, wieder auf ihr Zimmer gebracht werden zu müssen. So manches Mal geschah es aber doch…

Der Vastl spielte im „Schwarzen Ritter“ eine Nebenrolle, vorwiegend im Hintergrund agierend. Er fungierte als eine Art Hausdiener, den man nur selten zu Gesicht bekam. Man könnte ihn als den Prototypen einer verlorenen Existenz bezeichnen. Er galt als Alkoholiker (und war es wohl auch, zumindest früher, als er schon mal bessere Zeiten gesehen hatte), ansonsten ein ruhiger, unauffälliger und bescheidener Typ. Er hatte sein Quartier bei freier Kost und Logis im Hof-Teil des Anwesens, eine Mischung aus Hinterzimmer und Kellerloch. Seine Aufgaben waren, Holz und Kohlen zu schleppen, die Öfen am Brennen zu halten, Bierkästen und anderweitige Getränke heranzuschaffen und des Morgens – im Bedarfsfalle auch zwischendurch am Tage – das Lokal zu reinigen. Solches war nicht in jedem Falle eine appetitliche Angelegenheit. Selten saß er auch mal in seiner abgerissenen Kleidung bei den Gästen, was aber nicht gerne gesehen wurde. Wenn er auch nicht viel erzählte, unterlief es ihm doch zwischendurch, dass er in einem unbeobachteten Moment etwas aus der Schule plauderte.

Zum Beispiel über die Wirtsfamilie und über Herrn S., den „Herrn des Hauses“, den man ebenfalls nur recht selten in der Gaststube antraf und der dort auch nicht gern gesehen wurde. Er war Trinker, allerdings vom lauten, aufbrausenden Typ, befand sich zudem bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Alkoholkrankheit, in dem sich schon erhebliche psychische Veränderungen festgesetzt hatten, insbesondere Gereiztheit und Aggressivität. Meist frönte er seiner Sucht in den Privatgemächern, soweit er überhaupt noch etwas vertrug. Gelangte er hin und wieder dann doch einmal ins Lokal, zum Beispiel, wenn sich seine Gemahlin eine Auszeit nehmen musste, kam der Streit gleich mit. Es wurde erst mal auf alles und jedweden nach Kräften geschimpft, dazu mit eigenen Großtaten (wohl früherer Zeiten) reüssiert und überdies war er von einem zwanghaften Bedürfnis durchsetzt, hier endlich einmal „Ordnung“ (welche auch immer) zu schaffen, was keiner Ernst nahm und natürlich von Grund auf misslang. Das ging so lange, bis die Hedi wieder in der Tür stand und der „Chef“ mit einem kurzen Wink in Richtung Privatgemächer zurückgepfiffen wurde.

Fast jeden Abend konnte man unseren lieben Freund C. am Stammtisch antreffen, seines Zeichens Theologe in einem sehr hohen (mathematisch nicht näher bezeichneten) Semester, der von hier aus die Sünde, das Laster, Hedonismus und Promiskuität praxisnah studierte und sich mit einigen Bierchen über die Trennung von seiner Verlobten im fernen Kiel tröstete. Sorge musste er unentwegt dafür tragen, dass sein ebenfalls im fernen Kiel residierender Bischof nicht von seinem Umgang hier erfuhr, wovon ihm allerdings schon vage Kunde zugegangen war, weshalb unser Freund fortlaufend um den Erhalt seines Stipendiums bangen musste.

Einen unbezwingbaren Drang überkam unseren Freund M. regelmäßig, sobald er die Hilde erblickte. Er strotzte nur so vor Kraft, war im bürgerlichen Leben Capo auf dem Bau. Sie dagegen besaß ein wohlgerundetes Hinterteil und das musste hinein ins Spülbecken, das an sich für die Biergläser gedacht war. Passte gerade noch. Natürlich wehrte sich die Hilde mit Händen und Füßen, strampelte, kreischte und quietschte. Es war jedoch ein ungleicher Kampf und wenn die Hedi nicht dazwischen ging, endete dieser mit einem nassen Hintern der lieben Hilde. Die Münzen des Wechselgeldes mussten danach aus dem Wasser wieder herausgefischt, die Scheine in der Küche zum Trocknen ausgelegt werden, solide Dollar- und DM-Scheine konnten das ab, ansonsten war die Prozedur immer wieder ein fröhliches Spektakel, eine lustige Zerstreuung mit hohem Unterhaltungswert.

Man könnte an dieser Stelle noch so manchen Gast oder bunten Vogel skizzieren, vielleicht auch ein paar Damen aus dem vorderen Teil der Gaststube, in dem sich die Tanzfläche befand, mit denen sich allerdings vorwiegend die farbigen Gäste abgaben und dabei auch andere Interessen verfolgten als unsereins.

Überdies ist es an der Zeit, wie oben versprochen, einige typische Abläufe auf dieser nicht alltäglichen Bühne zu schildern. Es wurde getrunken, gelacht, geblödelt, gefrotzelt, geschäkert, gestritten, gegrölt, vielleicht auch mal eine Runde geschlafen. Dabei spielte sich das Geschehen bei Weitem nicht nur an den Tischen ab. Ein ständiges Wiegen und Wogen durchzog das Lokal. Vorwiegend dessen vorderen Teil, den mit der Musikbox, beherrschte ein immer währendes Movement vor allem der Farbigen, deren Ding es nicht war, ruhig auf einem Stuhl zu versauern. Andere taten es ihnen gleich.

Auf der Tanzfläche hingegen wiegten sich eng umschlungen die Paare zu den sich immer wiederholenden Lovesongs von Pat Boone, Elvis Presley, Mary Hopkins, Frank Sinatra, Conny Francis, Brenda Lee, The Platters u. a. Dazwischen bewegten sich – mehr oder weniger im Rhythmus – auch solche, die keine Partnerin gefunden hatten oder die sich erst eine erobern mussten. Überhaupt war es ein ewiges Kommen und Gehen, denn für nicht wenige war der „Schwarze Ritter“ nur eine Station auf einer Tour durch alle möglichen Spelunken der Stadt. Und wie fragte doch Luis Armstrong in seiner „New Orleans Function“ so treffend „…Oh, didn’t he ramble ?“. Ja, sie taten es und waren glücklich dabei.

Jedoch, wir alle wissen, das Glück ist endlich. So auch hier. Hatte dann doch mal einer zu viel davon genossen, benahm sich allzu ungebührlich oder war vielleicht zu solchem gar nicht mehr in der Lage, da er auf einer Bank oder dem Tisch schlief, vielleicht sogar darunter lag, musste von Seiten des Lokals – sicher erst nach einer wohlwollenden Toleranzphase, insbesondere solange der zahlende Gast noch ein paar Dollar im Sack hatte – nun doch interveniert werden, wofür als Akteure natürlich nur die Damen des Hauses in Frage kamen und zu ihrem Vorteil auch einige Übung in derartigen Aktionen vorzuweisen hatten. Vorhang auf! Nach allen Regeln dieser Kunst wurde der Ärmste dann nicht immer nur mit sanfter weiblicher, na ja, je nach Lage der Dinge und verbliebener Wehrhaftigkeit des Betroffenen auch mit brachialer Gewalt aus dem Lokal gebuchst. Die Szene wurde begleitet von der ganzen (bekannten) Tirade von Kraftausdrücken und Beschimpfungen der Hedi wie von einem aus dem Notenblatt gesprungenen Kontrapunkt. Sie scheute sich gegebenenfalls auch nicht, mittels eines finalen Trittes in den Hintern des Betrunkenen dem Akt sozusagen einen Schlussakkord aufzusetzen. Applaus aus dem Publikum! Triumphierendes Lachen! Jetzt gab’s erst mal ‚ne Pause. Eine kurze nur. Die Hedi hatte die Bühne noch nicht verlassen, schon ging die Schwingtüre erneut auf und es hatten sich in dieser tückischen Einrichtung zwei neue Gäste verstolpert und, da in noch schlechterem Zustand als der gerade Hinausgeworfene, blieb einer davon gleich am Boden liegen. Kurzes Atemfassen und „Da Capo“. Der zweite Akt konnte beginnen, die Vorstellung war noch nicht beendet. Die ergötzliche Unterhaltung des Publikums ging weiter…

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0+
Umfang:
93 S. 6 Illustrationen
ISBN:
9783990109939
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Bookwire
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