Wir statt Gier

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Existenziell wichtig wird die zeitgemäße Ausdifferenzierung solcher Werte schon in Anbetracht der absehbaren Personaldilemmata, die in den nächsten Jahren auf die Krankenhäuser zukommt und für die Patienten ohnehin längst Realität ist. Stattdessen werden nicht operationalisierbare Werte wie „Botschaft Jesu Christi“ (33 Prozent) und „Evangelium“ (24 Prozent) zum Gegenstand der Leitbilder gemacht. Das sind Wertmuster, die insbesondere mit Blick auf die zunehmende Ausdifferenzierung der Patientendemografie keinen Wert für die Positionierung der Gesundheitsunternehmen haben. Vor allem aber sind es Wertmuster, die in ihrer unzeitgemäßen Interpretation völlig ungeeignet als Verhaltenskompass und Motivationsmotor für die Mitarbeiter der Krankenhäuser sind. Operationalisierbare Werte wie Fairness und Teamorientierung hingegen versinken in den meisten Krankenhausleitbildern in der Bedeutungslosigkeit.

Aspekte, die für ein Krankenhaus, das als Unternehmen an einem dem – zumal verletzlichen, weil kranken – Menschen dienenden Markt platziert ist, absolut selbstverständlich sein sollten, geraten in vielen Kliniken ins Hintertreffen: Respekt gegenüber dem Patienten wird viel zu selten vorausgesetzt. Auch der Bezug zur Gemeinnützigkeit, also dem Dienst am Menschen, oder einer bedingten Unterordnung wirtschaftlicher Aspekte unter jene der Diakonie – was nicht nur jeder Notfallpatient sich von einem Krankenhaus wünschen würde – sucht man in den meisten Leitbildern vergeblich. Von einem dezidierten Serviceverständnis fehlt – wie so häufig in Deutschland – ohnehin in fast allen Leitbildern jede Spur.

Leitbilder, die so ethikfern gewichten, die so altbacken auf traditionellen, nicht operationalisierbaren und oft auch nicht mehr zeitgemäßen Werten aufbauen, anstatt sich dem Schatz an christlichen Werten anhand zeitgemäßer Interpretationen zu bedienen, der ihnen naturgemäß zur Verfügung steht, sind praktisch nutzlos für die Zwecke, denen sie eigentlich dienen sollten: Sie sind nicht geeignet, um das Unternehmen nach außen als ethisch sauber und – an einem so breit aufgestellten und gleichzeitig sensiblen Markt wie dem Gesundheitsmarkt besonders wichtig – werteprogressiv darzustellen.

Oft wird vom Klinikmanagement vergessen, dass nicht nur die Patienten während ihres Aufenthalts direkt erfahren, wie sehr die Klinik die (selbst) gesetzten Erwartungen an Wertekonformität erfüllt, sondern eine oder zwei weitere Generationen durch die Freunde, Kinder und Enkel der Patienten in diese Erfahrung mit eintauchen – bei jedem einzelnen Besuch. Jeder „Touchpoint“ eines Patienten oder Besuchers mit Klinikpersonal, dritten Dienstleistern, Atmosphäre und kollegialem Umgang wird im individuellen Erfahrungsspeicher fest eingebrannt. So baut sich schnell ein ganz bestimmtes Bild von den „gelebten Werten“ und möglichen Diskrepanzen einer Klinik auf. In Zeiten der Social Networks und zukünftiger Bewertungsplattformen im Gesundheitssektor kommt eine zusätzliche Dynamik durch die Weitervermittlung dieser Eindrücke im Internet auf.

Viel wichtiger noch: Starre, nicht dem Zeitgeist entsprechende Leitbilder sind nicht geeignet, um das Unternehmen von innen heraus anzutreiben. Schon heute ist absehbar, dass das deutsche Gesundheitswesen in den nächsten Jahren kreativ sein muss, um seine angespannte Personalsituation im Griff zu behalten. Dann sind Kliniken im Vorteil, die ihren Angestellten im von Kostendruck geprägten Gesundheitssektor einen Arbeitsplatz bieten, der ihnen ermöglicht eben jene Werte zu leben, die sie zu dieser Karriereentscheidung geführt haben. Kein Angestellter hingegen wird sich für ein Unternehmen entscheiden, das mit den Evangelien als Leitwert aufwartet und gleichzeitig Effizienz in der Positionierung vor Respekt setzt.

Noch bedenklicher: Heilberufe gehören zu den emotional anspruchsvollsten überhaupt. Dass immer mehr Ärzte den Wunsch entwickeln, unter den dramatischen wirtschaftlichen Bedingungen in vielen Kliniken das Handtuch zu werfen, reiht sie ein in die Gruppe der ambitionierten High Performer, denen aus extrinsischen Gründen verweigert wird ihre Werte zu leben.

Die seelische Unterforderung des mittleren Managements

Sehr häufig ist im Zusammenhang mit beruflicher Stagnation, Orientierungslosigkeit und allgemeinen Karrierethemen speziell im mittleren Management von der Gefahr des Burnouts die Rede. Diese Gefahr entsteht durch die Überforderung gerade von High Performern durch ein Übermaß an operativer Verantwortung, wie sie etwa mein Coachee Martin in sich vereinte. Selten thematisiert wird hingegen die seelische Unterforderung, die insbesondere im mittleren Management mindestens ebenso verbreitet ist wie ein hohes Burnout-Risiko. Dabei ist die seelische Unterforderung ein Symptom der gleichen Rahmenbedingungen: Machtspielchen unter den Kollegen, knappe Budgets und ein Mangel an Mitarbeitern sind laut einer Umfrage, die der Focus 2011 zitierte, die größten Managersorgen auf der mittleren Führungsebene. Die wenigsten Manager hingegen fühlen sich durch ihre eigentlichen operativen Aufgaben übermäßig belastet.

Diese Kombination von Belastungsfaktoren führt dazu, dass die Führungskräfte sich ihren Aufgaben aufgrund der vielfältigen emotionalen Stressoren nicht mit der notwendigen inneren Ruhe und Kreativität widmen können. Sie erledigen ihren Job nach Vorschrift, oft genug sogar mit Hilfe von fragwürdigen Methoden, um gegenüber ihren internen Konkurrenten nicht das Nachsehen zu haben. Erneuerungen, die zu Kosten und vorläufigen Reibungsverlusten führen könnten, werden schon aus diesem Grund von den Verantwortlichen oft gar nicht erst ins Spiel gebracht: Sie sind unpopulär, wenn es darum geht, möglichst konfliktarm die Karriereleiter zu erklimmen.

Ein High Performer, der bestimmte Ideale verfolgt und seinen Job bewusst gewählt hat, um Fortschritt mitzugestalten, wird in einem solchen Umfeld fachlich allerdings sehr früh an die Grenzen des Machbaren stoßen. Er ist auf kurz oder lang immer stärker in interne politische Spielchen verstrickt und verbringt immer weniger Zeit damit, seine Fähigkeiten zu nutzen oder gar zu erweitern. So wird er gezwungenermaßen auch die konstruktive Seite der Personalführung zunehmend vernachlässigen, weil sie auf der Jagd nach Benchmarks nicht als Sofortmaßnahme taugt.

Wenn überhaupt, wird er noch mehr Autorität ausüben, nicht aber sich die Zeit nehmen, die Kreativpotenziale seiner Mitarbeiter zu ergründen. Er verliert die Freude an den Inhalten seines Berufs, denn er kann sich ihnen nicht mit der nötigen Muße widmen; alles, was er sich fachlich erträumt hat, scheint ohnehin nicht realisierbar. Er ist seelisch unterfordert, denn die Werte, mit denen er sich für seinen Beruf und das Unternehmen entschieden hat, sind zu Worthülsen verkommen – er kann sie nicht umsetzen, er kann sie nicht leisten. Sein Potenzial bleibt ungenutzt – er ist unzufrieden.

Diese seelische Verfasstheit ist nicht nur für sich genommen schon schlimm genug – sie ist auch der ideale Nährboden für einen Burnout. Wenn der innere Antrieb, der Feuereifer für die Sache, verlorengeht, gewinnen die hohen Belastungen durch andere Faktoren des Jobs schnell die Überhand. Ihnen aber lässt sich nicht mit Leidenschaft folgen, denn sie widersprechen der menschlichen Natur. Unsere Seele ist auf Gemeinschaft programmiert und will Erfolge im Zusammenspiel der individuellen Ausprägung von Fähigkeiten und Bedürfnissen und die Zielerreichung als Team sehen, um glücklich zu sein – nicht bloß eine höhere Gehaltsstufe durch ständige Selbstkorruption, die gegen unser instinktives Moralverständnis verstößt. Eine „höhere Stufe“ zu erreichen hat im Sinne unserer seelischen Programmierung nichts mit finanziellen Vorteilen zu tun.

Was wir wirklich wollen, ist das Erreichen emotional verankerter Ziele und Wünsche – ganz nach individueller Prägung. Wir sind auf persönliche Ideale programmiert. Wenn wir ihnen nicht nachgehen, sie dauerhaft nicht ausleben können, bleiben wir seelisch unterfordert. Eine Gehaltserhöhung ändert daran nicht das Geringste. Wir wollen, ja wir brauchen mehr als das, um das Gefühl zu haben, dass wir einen erfüllten, einen „richtigen“ Weg gehen – für uns, und mit anderen. Denn unsere Führungsqualitäten sind an besagte Ideale gebunden. Können oder dürfen wir dieses Potenzial nicht ausschöpfen, bleiben wir als Manager immer unter unseren Möglichkeiten. Im schlimmsten Fall richten wir sogar ordentlich Schaden an – weil wir nicht werteorientiert aus innerem Antrieb heraus führen, sondern rational, zahlengläubig und politisch.

Die alte Schule hängt im Bereich personell bedingter Innovationskraft schon aus diesem Grund den flexibleren, übersichtlicheren Startups oft hinterher. Dort wird nämlich viel öfter das Augenmerk darauf gelenkt, der Integration des Leistungspotenzials von High Performern die passenden Rahmenbedingungen zu schaffen, anstatt den einzelnen Manager mit Nebenkriegsschauplätzen und seiner Persönlichkeit widersprechenden Verantwortlichkeiten zu belasten.

4 Wölfe im Schafspelz: Schwarzes Marketing und andere öffentlichkeitswirksame Verfehlungen

Es würde viel weniger Böses auf Erden geben, wenn das Böse niemals im Namen des Guten getan werden könnte. (Marie von Ebner-Eschenbach)

Dass Werte in weiten Teilen der Wirtschaft, insbesondere im operativen Management, über viele Jahre als Erfolgsfaktoren ignoriert worden sind, ist ein Versäumnis des Managements mit dramatischen Folgen. Oft folgt es jedoch nicht böser Absicht, sondern beruht schlicht auf der Unterschätzung – wenn nicht Ignoranz – von vermeintlich weichen und damit ineffektiven Wertethemen. Manche Unternehmen machen sich jedoch ganz gezielt eines viel schlimmeren Vergehens schuldig: Wenn Werte zu Waffen werden, ist das der Todesstoß der Businessethik.

 

Schmutzige Geschäfte: Das wertemissbräuchliche Marketing der alten Schule

Zu den schmutzigen Geheimnissen der alten Schule gehört – neben Verschleierungstaktiken wie im Fall FIFA – auch das Ausnutzen von Schwächen aufseiten der Konkurrenz, um über die eigenen Lücken an gleicher Stelle hinwegzutäuschen. Besonders dramatisch ist, dass so agierende Unternehmen die Bedeutung von Werten an den Märkten der Zukunft erkannt haben, sich ihrer jedoch nicht konstruktiv im Sinne der eigenen Umstrukturierung (und damit im Sinne langfristigen Erfolgs) bedienen, sondern sie destruktiv einsetzen, um der Konkurrenz zu schaden und sich so einen kurzfristigen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.

Was sie dabei ignorieren ist die Intelligenz des Schwarms. Die Netzgemeinschaft, und zunehmend auch Konsumenten im Allgemeinen, die durch verschiedenste Informationsquellen von dieser Schwarmintelligenz profitieren, hat insbesondere seit der jüngsten Finanzkrise sehr sensible Antennen für derartige Verstöße gegen die ethische Anspruchshaltung gegenüber Marken entwickelt, die mit gemeinschaftlichen Werten werben. Eines der jüngeren Beispiele ist die Affäre um eine geplatzte Marketingkampagne von Facebook, die über die Netzgemeinschaft hinaus auch in den konventionellen Medien für Furore sorgte.

Worst-Practice-Beispiel 3: Facebook und das Schwarze Marketing

Ein amerikanischer Tech-Blogger legte im Mai 2011 einen Skandal offen, der den abstoßenden Versuch von Facebook offenbarte, dem Konkurrenten Google mit einer PR-Kampagne durch Schwarzes Marketing zu schaden. Schwarzes Marketing ist eine Methode, gezielt das Image der Konkurrenz zu attackieren – hinterlistig, im Verborgenen und mit unsauberen Mitteln. Facebook hatte diesen Weg beschritten, indem es eine PR-Agentur dafür bezahlt hatte, bei Bloggern und Journalisten auf eine negative Berichterstattung über vermeintliche Sicherheitslücken des Google-Features „Social Circle“ hinzuwirken.

Diese Methode ist leider nicht neu; neu ist, dass selbst ein Unternehmen wie Facebook nicht mehr damit davonkommt. Noch bis vor kurzem war es nicht unüblich, dass Firmen Konkurrenten durch eine schmutzige Kampagne, also durch unethisches Wettbewerbsverhalten hinter den Kulissen, anschwärzen konnten. Und das oft nur, weil ihre Produkte auf dem Markt keinen Wettbewerbsvorteil mehr hatten, die Innovationsrate zurückfiel oder schlichtweg die Produktqualität und der Kundennutzen sich gegenüber dem Wettbewerb in Luft auflösten. Dass ausgerechnet ein junger Unternehmer wie Mark Zuckerberg glaubt, solche bigotten Winkelzüge nötig zu haben, hinterlässt einen umso bittereren Nachgeschmack.

Die Fallzahl solcher Skandale wird jedoch bereits in nächster Zukunft abnehmen. Die Kunden sind mündiger geworden und können über die Tools des Internets und speziell der sozialen Medien auf eine bisher ungekannte Transparenz zurückgreifen, um derartige Verkettungen und Machenschaften vermehrt selbst aufzudecken bzw. in Echtzeit darüber informiert zu werden. Auch die Medien sind aufgrund dieses Bedarfs schneller, hellhöriger und kritischer geworden – der investigative Journalismus erlebt insbesondere im Dunstkreis der Netzgemeinschaft eine Renaissance unter neuen Vorzeichen. Auch die Tageszeitung USA Today beispielsweise veröffentlichte statt der erwünschten Anti-Google-Story einen Artikel über die unethische Anfrage der Facebook-Agentur Burston Marsteller.

Facebook bediente sich hier also ganz gezielt an den Wertebedürfnissen der Kunden, für die die Sicherheit im Internet im Rahmen sozialer Interaktion zunehmend an Bedeutung gewinnt. Genau in diesem Bereich jedoch hatte sich Facebook in der Vergangenheit selbst immer wieder in Schwierigkeiten gebracht, wenn neue Features mit potenziellen Datenschutzlücken ohne Einwilligung der Kunden aktiviert wurden, oder gar Nutzerdaten auf sehr undurchsichtige Weise durch das Unternehmen weitergegeben wurden. Da Google zu diesem Zeitpunkt eher für seine Sicherheitsbemühungen gelobt wurde, versuchte Facebook mit dem Versuch, Falschmeldungen über Google zu lancieren, seine Wettbewerbsposition wieder zu stärken, indem es die Kunden täuschte – und zwar ausgerechnet in Bezug auf Werte, die ihnen besonders am Herzen liegen.

Eine Pervertierung von Wertethemen für Marketingzwecke wie bei der vereitelten Schmutzkampagne von Facebook ist in Zeiten werteorientierter Märkte – glücklicherweise – äußerst riskant. Für Unternehmen bedeutet die wachsende Schwarmintelligenz: Der Kunde muss heute nicht mehr nur im Sinne seiner Bedürfnisse als Konsument umworben werden – er hat zunehmend auch Wertansprüche. Facebook hat in dieser Hinsicht bisher jämmerlich versagt; nicht umsonst ist das Wachstum bei den Nutzerzahlen rückläufig, in den USA war im Sommer 2011 sogar ein Rückgang der Nutzer zu verzeichnen.

Nicht mit mir: Die ethische Verweigerung der Handlanger

Bedeutsam im Sinne der Wirtschaftsethik ist der Skandal um Facebook jedoch noch aus einem anderen Grund: Mit dem Journalisten, der den Skandal publik machte, war es ausgerechnet ein Profiteur der Kampagne, der die Meuterei anzettelte. Auch die früheren Handlanger, durch die Schwarzes Marketing und verwandte Methoden bisher möglich waren, gehen zunehmend auf die Barrikaden. Immer mehr Menschen erkennen, dass auch eine (in diesem Fall sicher gute) Bezahlung den Schaden durch ihren ganz persönlichen Werten entgegenstehendes Handeln langfristig nicht aufzuwiegen vermag. Geraten derartige Informationen an die Öffentlichkeit – und das wird täglich wahrscheinlicher – ist im Ernstfall nicht nur der Job weg; der Ruf ist ruiniert. Und das kann sich, bei zunehmender Bedeutung werteorientierter Positionierung, niemand mehr erlauben. Unethische Geschäftspraktiken sind auf Dauer der Weg in den Ruin auch für die Großkonzerne der alten Schule – unternehmerischer Selbstmord auf Raten.

So hat auch die Leitung von Facebook im Nachgang der Affäre bitter lernen müssen, dass Schwarzes Marketing das falsche Mittel im Wettbewerb um aufgeklärte Nutzer ist – immerhin hat man dem Konkurrenten Google mit dem Skandal durch das Medienecho eine kostenlose Werbekampagne geschaltet und sich durch den Versuch der Verharmlosung noch weiter ins ethische Abseits begeben.

Schlimmer geht’s nimmer: Die Gier der Polit-Unternehmer

Mark Zuckerberg ist nicht der einzige Unternehmer, der sich mit pseudoethischen Täuschungsmanövern am neuen Wertebewusstsein der Konsumenten die Zähne ausbeißt. Auch in Deutschland haben wir es immer noch und immer wieder mit solchen Wertemissbräuchlern zu tun. Ich habe bereits ausgeführt, dass die Politik sich über lange Zeit schuldig gemacht hat, der Wirtschaft wertfreies Verhalten vorzuleben. Eine Steigerung dieser Unkultur liegt vor, wenn Politiker als Unternehmer solche Praktiken direkt in die Wirtschaft hineintragen.

So geschehen im Fall des CDU-Politikers und Krisen-PR-Agenten Wolfgang Stock. Er mimte den werteprogressiven Vordenker, als er an der Uni Frankfurt/Oder die Initiative „Wiki-Watch“ gründete – mit dem vorgeblichen Motiv, Wikipedia-Opfern zu helfen, denen gezielt durch tendenziöse Einträge bei Wikipedia geschadet wurde. Ausgerechnet Stock jedoch nahm es mit der Wertetransparenz im Web ganz und gar nicht genau, sondern nutzte die Plattform, um Geld zu verdienen: indem er bei Wikipedia Lexikonartikel zugunsten des skandalträchtigen Pharmakonzerns Sanofi-Aventis umschrieb.

Das Problem: Stock gehört zu jenen Meinungsbildnern der alten Schule, die ihre Fühler mitten in der Bundespolitik genauso haben wie mitten in den Medien. Bevor er die Krisen-PR-Agentur gründete, in deren Namen er für Sanofi-Aventis arbeitete, war er als Journalist in verantwortungsvollen Positionen tätig: bei der Berliner Zeitung, als Focus-Korrespondent, als Politikchef bei der Welt am Sonntag. Er hat Biografien über Roman Herzog und Rita Süßmuth mitverfasst, sogar über Angela Merkel – deren Video-Podcast er ebenfalls erfunden und anfangs auch produziert hat.

Wie der Spiegel im Juli 2011 berichtete, hatte Stock unter verschiedenen Nutzernamen Artikel über Sanofi-Aventis und deren Medikament Lantus positiv bearbeitet, das in den Verdacht geraten war, krebserregende Wirkung zu haben. Zudem editierte er mehrfach in einem Absatz mit der Überschrift „Kritik“ den Artikel über das Pharmaprüfungsunternehmen IQWiG, das ein Gutachten über Lantus erstellt hatte. In diesem Abschnitt warf er den Prüfern unter anderem vor, „die Versorgungssicherheit von 500.000 Patienten in Deutschland“ zu gefährden und durch seine Empfehlungen „jährlich etwa 660 Tote in Deutschland“ zu verursachen.

Stock wies den Vorwurf von sich, die Wikipedia-Artikel gegen Bezahlung oder in Erwartung bezahlter Aufträge seitens des Pharmariesen verändert zu haben. Fakt ist: Sanofi-Aventis hat eingeräumt, durch Stocks PR-Agentur beraten worden zu sein, die auf ihrer Website mit Stillschweigen wirbt: „Als Berater bringen wir uns für Ihren Erfolg ein, bleiben aber vollständig im Hintergrund. Auf unsere Vertraulichkeit können Sie sich verlassen, während unserer Zusammenarbeit und danach.“ Fakt ist: Wikipedia hat die Benutzernamen, mit denen der Spiegel Stock in Verbindung bringt, gesperrt – weil Administratoren, die auf das Aufspüren missbräuchlicher Edits spezialisiert sind, dies für notwendig hielten. Fakt ist auch: Der Lehrstuhl, an dem Stock „Wiki-Watch“ gegründet hat, reagierte äußerst brüskiert auf die Enthüllungen um seinen Mitarbeiter und zog in Erwägung, das Projekt einzustampfen.

Hier hat ein Politiker und Unternehmer nicht nur die Werte missbraucht, für die Wikipedia als gemeinschaftliche Errungenschaft steht; er hat auch gezielt die Öffentlichkeit über seine verwerflichen unternehmerischen Motive hinweggetäuscht, indem er sich durch die Gründung von „Wiki-Watch“ als Wächter eben jener Werte aufspielte. Eine solche Pervertierung von demokratiefördernden Werten wie der freien Meinungsbildung durch Informationsangebote im Internet kann gar nicht hart genug abgestraft werden. Dass ausgerechnet die Verbindungen eines Mannes wie Stock bis in die höchsten Ebenen deutscher Politik, Wirtschaft und Bildung reichen, spricht einmal mehr für die tiefe Verwurzelung der alten Schule des Wertemissbrauchs in traditionellen gesellschaftlichen Eliten – in der Politik, in der Wirtschaft, in den Medien, sogar in der Wissenschaft.

Dass der Skandal ans Licht kam, weil die Selbstreinigungskräfte der Netzgemeinschaft auch im Fall von Wikipedia ihren Dienst vorbildlich verrichtet haben, spricht allerdings dafür, dass diesen Cliquen der unethischen Kriegsführung harte Zeiten drohen.

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