Wir statt Gier

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Was über Jahrzehnte hinweg unter dem Deckmantel des Schweigens im großen Stil betrieben werden konnte, kommt heute allerdings vermehrt ans Licht der Öffentlichkeit. Meldungen über Korruptionsskandale sind inzwischen auch im Wirtschaftsteil der Zeitungen an der Tagesordnung. Immer geht dabei der Schaden zu Lasten des gesellschaftlichen Wohlstands, oft genug aber auch zulasten der Wohlstands des Einzelnen; um individuelle wie gemeinschaftliche Sicherheit. Gespielt wird in jedem Fall mit den Werten, die die gesellschaftliche Aufgabe von Wirtschaft wie von Politik ausmachen.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Wirtschaftsethik mehr noch als die Ethik anderer gesellschaftlicher Bereiche in diesen Tagen als Widerspruch in sich betrachtet wird: Wirtschaft und Ethik, das bringt in der Öffentlichkeit kaum noch jemand zusammen. Die Krise der Ethik findet ihr Epizentrum in der Krise der Wirtschaftsethik.

Und doch liegt meine Hoffnung für die Ethik inmitten ihrer Krise nicht zuletzt genau hier: in der Wirtschaft. Bevor wir uns jenen Funken der Hoffnung inmitten des Gerölls der Wirtschaft alter Schule zuwenden, gilt es allerdings noch genauer hinzuschauen, wie die Vertreter jener alten Schule unseren Unternehmen täglich Schaden zufügen. Das geschieht nämlich schon weit unterhalb der Ebene des wirtschaftspolitischen Lobbyismus, in Unternehmen aller Art, tagtäglich, in unser aller Umfeld, innerhalb unseres persönlichen Radars. Nur hinschauen müssen wir selbst.

3 Management: Ein Missverständnis

Ein wahrhaft großer Mann wird weder einen Wurm zertreten noch vor dem Kaiser kriechen. (Benjamin Franklin)

Begleiten Sie mich in die Geisterbahn der alten Schule der Unternehmensführung: Willkommen in den ethischen Untiefen des seelenlosen Managements. Willkommen in einer Arbeitswelt, die – unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung – selbst inmitten von Finanzkrisen und Aufruhr an den Märkten noch heute für Millionen von Arbeitnehmern an der Tagesordnung ist.

Low Performers: Die Pockets der Schnarchnasen

Wenn Bruno M., Sachbearbeiter in der Verwaltung eines großen deutschen Industriekonzerns, morgens zur Arbeit geht, könnte er genauso gut direkt in den Park gehen und sich in die Sonne legen – der Effizienzgewinn seiner Firma wäre in etwa der gleiche. Bruno M. trinkt erst einmal einen Kaffee, und plaudert in der Teeküche eine Runde mit der attraktiven Sekretärin. Dann beantwortet er einige aufgelaufene Korrespondenz (von der Vorwoche) mit Rückfragen, ohne auch nur die fraglichen Akten zu konsultieren. Nach seiner Mittagspause telefoniert er ausgiebig mit seiner Frau, bevor er zwei Stunden lang veraltete Vorgänge aussortiert. Schließlich verbringt er die restliche Zeit bis zum Feierabend damit, sein E-Mail-Postfach aufzuräumen, weil die IT-Abteilung wegen knapper Serverkapazitäten alle Angestellten dazu aufgefordert hat. Dann geht Bruno M. nach Hause.

Überspitzt? Vielleicht. Unrealistisch? Keineswegs. Solche Schnarchnasen wie Bruno M. bremsen die Effizienz unserer Wirtschaft auch heute noch in ungeahntem Ausmaß – sie sind ein Fossil jahrzehntealter, grob hierarchischer Unternehmensstrukturen, die in Großkonzernen vielerorts noch immer unverändert an der Tagesordnung sind.

Selbst Krisen und schlechte Auftragslagen können dieser Sorte Mitarbeiter in der Regel nichts anhaben – sie kleben wie angewachsen in ihren Pockets im Schatten der Produktivkraft, weil sie völlig unauffällig bleiben und selten Rechenschaft ablegen müssen. In der Regel halten sie jene Abteilungen besetzt, die selbst die toughste Geschäftsführung gern ignoriert, weil sie Bereiche betrifft, die vermeintlich keinen Effizienzgewinn bringen, sondern dem bloßen bürokratischen Funktionieren von Unternehmen dienen. Eine Self-fulfilling Prophecy: Die Mitarbeiter in diesen Zeitlupen-Pockets setzen schließlich auch alles daran, dass das so bleibt.

Low Performance als Lebensaufgabe

Da die Low Performer bevorzugt in wenig kontrollierten Arbeitsbereichen sitzen, sind solche Abteilungen oft regelrechte Horde der Faulheit. Diese Zusammenrottungen entstehen keineswegs zufällig, sondern habe meist mit dem Charakter der Arbeit zu tun, die aufgrund überholter Unternehmensstrukturen in den fraglichen Abteilungen anfällt: „Drückebergerei ist … verbreitet, wo es Mobbing gibt, Leute gefrustet und lustlos sind und keine interessanten Aufgaben haben. Mit einem weiteren Modewort heißt ein solches Syndrom dann ‚Boreout‘, nicht zu verwechseln mit Burnout – die Leistung sinkt aus Langeweile statt durch das Ausgebranntsein. Häufig seien das Bereiche, die wenig Veränderung erleben, in denen die Mitarbeiter alles ‚schon immer so gemacht‘ haben und sich in ihrer Position sehr sicher fühlen“ , zitiert Spiegel online die Karriereberaterin Doris Brenner.

Selbst wenn man ihnen auf die Spur käme: Meist sind diese Kollegen mit ihrer Minderleistung so lange unter dem Radar durchgetaucht, dass ihre Dienstjahre das Unternehmen im Falle einer Kündigung empfindlich teuer zu stehen kämen – teurer manchmal, als ihr Gehalt die paar Jahre bis zur Rente noch weiterzuzahlen. Und bis dahin haben sie genügend Zeit, Jüngere in ihren Club aufzunehmen.

Von Leidenschaft für den Job kann bei diesen Arbeitnehmern meist keine Rede sein. Das ist allerdings auch nie ihr Ziel gewesen: Angestellte wie diese suchen sich ihren Arbeitsplatz, sogar ihren Beruf gezielt daraufhin aus, dass sie mit möglichst wenig Aufwand bei möglichst hohem Gehalt einen maximal sicheren Posten bis zur Rente einfach blockieren können. Ihnen geht es nicht um die Ziele des Unternehmens, persönliche Bestätigung oder gar Erfüllung im Job – ihnen geht es einzig und allein um Absicherung. Und es gibt in den meisten Großkonzernen der alten Schule in Deutschland genügend Nischen, in denen diese Schnarchnasen die Zeit bis zur Rente absitzen können, ohne jemals wirklich etwas Nennenswertes geleistet zu haben.

Komplex ist nicht gleich ausgereift

Klar ist: Herausragende Unternehmenserfolge sind so nicht zu erzielen. Die Low Performer sind ein Grund dafür, warum die schwerfälligen Konzerne mit ihren bremsenden Hierarchien nur noch selten die Urheber von Innovation in jenen Bereichen sind, auf die es an den Märkten der Zukunft verstärkt ankommt, nämlich bei Kunden- und Anwendernutzen, strategischer Handlungsfähigkeit, interner Kommunikation und Kooperationsmanagement. Diese Rolle haben längst die Entrepreneurs, die kleinen Startups, immer öfter sogar studentische Gründer übernommen.

Die Unternehmen alter Schule zeichnen sich also, vereinfacht formuliert, dadurch aus, dass sie vor Jahrzehnten erzielte Erfolge nur noch verwalten, anstatt Innovation zu riskieren und damit bisherige Erfolge aufs Spiel zu setzen. Innovationen kaufen sie maximal ein, indem sie Ideen oder gleich ganze Startups aufkaufen und sich deren fertig entwickelte Erfindungen einverleiben. Ihre Strukturen sind meist so komplex und überdiversifiziert, dass das Top-Management ohnehin kaum eine Ahnung hat, was seine Angestellten so treiben. Dass solche Strukturen sich dennoch über Jahrzehnte halten und sogar immer weiter ausdifferenzieren konnten, hat einen einfachen Grund: Diese Komplexität ist ein optimaler Nährboden für die ungestörte Postenverwaltung der höheren Gehaltsstufen.

Verantwortlich für das Ausheben und gründliche Umstrukturieren jener Pockets der Faulheit wäre auf dem Papier meist das mittlere Management mit dem Instrument der Personalführung. Genau die jedoch ist in großen Unternehmen häufig eine Achillesferse. Wie die Financial Times Deutschland berichtete, ist die Qualität der Personalführung oft die geringste Sorge deutscher Führungskräfte. Die Zeitung berief sich dabei auf eine branchenübergreifende Studie, für die Entscheidungsträger von 118 deutschen Unternehmen mit mehr als 400 Mitarbeitern befragt wurden. Einer der Durchführenden der Studie, Carsten Steinert, Professor für Personalmanagement an der Hochschule Osnabrück, wurde dort zitiert: „Der Stellenwert der Personalführung ist gering.“ Mit dramatischen Folgen auch für die Effizienz des Unternehmens, denn „aufgrund schlechter Personalführung entstünden Reibungsverluste in den Abteilungen, zudem ‚kündigten‘ Mitarbeiter innerlich – dies führe zu Dienst nach Vorschrift.“

Es gibt also durchaus gute Gründe dafür, warum die Pockets der Low Performer wachsen und gedeihen können. Und selbst wer eine Stelle vielleicht noch brennend für die neue Aufgabe angetreten hat, kann aufgrund falscher Personalführung immer noch zum Low Performer werden.

Die schwarzen Ritter der Kennzahlen

Die Schuld nur beim mittleren Management zu suchen, greift allerdings deutlich zu kurz. Werte wie ein innerliches Brennen für die Aufgabe, das Bedürfnis nach beruflicher Erfüllung, oder – im besten Fall – eine persönliche Begeisterung für die Mission des Unternehmens, das immer in irgendeiner Form den Menschen dient, für die es produziert oder Dienstleistungen erbringt, fallen neu eingestellten Mitarbeitern nicht einfach zu. Wie in der Politik, der Kirche oder jeder anderen Position mit Vorbildfunktion können Werte auch innerhalb eines Unternehmens nur dadurch transportiert werden, dass sie gelebt und vorgelebt werden. Wenn einem Abteilungsleiter jedoch täglich aus der Chefetage suggeriert wird, dass allein die Benchmarks zählen – wie soll er da ein Gefühl dafür entwickeln, was seine Mitarbeiter tatsächlich für ihre Aufgabe entflammt? Noch einmal Carsten Steinert: „Wenn Führung im Top-Management keine Rolle spielt, fühlt sich die mittlere Ebene schlecht behandelt“, weshalb das mittlere Management oft gar keine Veranlassung sehe, Führungsqualitäten zu entwickeln. Von den Auswirkungen solcher Unternehmensführung auf das Betriebsklima können sich Millionen von Arbeitnehmern in Großkonzernen täglich ein Bild machen – wenn sie nicht schon selbst zu den Abgestumpften gehören.

 

Low Performance auf Unternehmens- wie auf Individualebene ist also ein klares Managementproblem. Und damit ist es, so ungern die schwarzen Ritter der Kennzahlen das auch eingestehen mögen, ein klares Werteproblem. Die Manager in den fraglichen Positionen haben allerdings ganz andere Probleme, als sich um renitente Mitarbeiter zu kümmern. Wenn Ihr Chef Ihnen nicht vorlebt, dass Sie ihre Mitarbeiter für Ihre Aufgabe begeistern müssen – und können! – werden Sie wahrscheinlich nicht geneigt sein, sich die Mühe selbst zu machen. Im Zweifel handeln Sie sich womöglich noch Ärger dafür ein, dass Sie sich um ihre so genannten Soft Skills kümmern, anstatt die Zahlen aufzupolieren und notfalls ein paar Stellen zu streichen, um die Benchmarks zu erreichen.

Benchmarking ist das Lieblingstool der Unternehmensführung alter Schule. Kennzahlen lassen sich wunderbar seifig argumentieren und suggerieren bei Bedarf in jeder Präsentation, man wolle es mit den Besten der Branche aufnehmen (wenn man nicht laut selbst geschönten Statistiken sowieso schon dazugehört). Damit aber lässt sich kein Blumentopf mehr gewinnen, wenn es auf strategische Unterschiede zur Konkurrenz ankommt statt auf bloß numerische Vergleichswerte, wie auch die Unternehmensberatung McKinsey kürzlich in ihrem Newsletter mahnte: „Good strategies … emphasize difference – versus direct competitors, potential substitutes, and potential entrants – not industry-wide best practices.“

Die blinde Zahlengläubigkeit ist in Zeiten global ausdifferenzierter Märkte jedoch dem Untergang geweiht. Schon deshalb, weil keine westliche Firma es billiger machen kann als die Chinesen. Akzeptieren Sie es besser heute, denn es wird noch lange Zeit so bleiben. Wettbewerbsvorteile liegen heute nicht mehr in den Bereichen, die sich benchmarken lassen, sondern in werteorientierter Produktinnovation und Personalführung. Doch dazu später mehr.

Das Verantwortungsdogma: Ein Egotrip

Unter Umständen glaubt Ihnen die Chefetage nicht einmal, wenn Sie Schwachstellen in der Personaldecke anführen. Sie mögen doch gefälligst, wird Ihr Chef Ihnen dann sagen, mal die Verantwortung für die schwachen Leistungen Ihrer Abteilung übernehmen. Und schubst Sie damit in eine der fiesesten Fallen, in die man im Laufe eines Managerlebens geraten kann: das Verantwortungsdogma.

Über Jahrzehnte hinweg haben Personalverantwortliche, Berater und Trainer Führungskräften eingeredet, Sie müssten für jeden Furz, der in ihrer Abteilung entweicht, die volle persönliche Verantwortung übernehmen. Das ist ausgemachter Blödsinn, der schon Generationen von Managern in die Verzweiflung und nicht selten auch in den Burnout getrieben hat. Verantwortung ist ein unabdingbarer Bestandteil von Führung – das steht außer Frage. Und natürlich möchte ich nicht bestreiten, dass ein Manager für die Ergebnisse seiner Einheit verantwortlich zeichnet und dafür zu sorgen hat, dass sie ihren Job erledigt. Natürlich soll er Einsatz zeigen und sich um seine Projekte kümmern, als hinge seine Karriere daran. Tut sie ja auch.

Was allerdings bei der „Erziehung“ nachwachsender Managergenerationen seit Jahrzehnten aus der Tugend Verantwortung gemacht worden ist, hat gerade nichts mit Führung zu tun: die Weitergabe patriarchalischer Führungsmethoden. Manager, denen beigebracht wurde, alles und jeden kontrollieren zu müssen – und eine Generation später wieder ihre Management-Sprösslinge aufs selbe falsche Gleis zu setzen.

Es gibt verschiedene Formen der Verantwortung. Die lösungsorientierte, die werteorientierte, die teamorientierte – sie alle gehören zur Managementkultur. Allerdings kann man als Manager keinen größeren Fehler machen, als neben der operativen Verantwortung für das Geschäft auch noch die persönliche Verantwortung für die Unwägbarkeiten der Weltwirtschaft, die charakterliche Prägung seiner Angestellten und den Jahresbonus seines Chefs zu übernehmen. Das hält auch niemand lange durch, der nicht über eine eiserne Frusttoleranz verfügt. Und, mit Verlaub: Die haben die wenigsten.

Ein Manager ist kein Priester. Ein Manager ist kein Kindergartenpädagoge. Ein Manager ist vor allem nicht der Vater seiner Mitarbeiter, und darf deshalb kein Patriarch sein. Ein Manager ist ein Manager. Und ein Manager ist nicht unfehlbar. Sein Ziel kann und darf nicht sein, „Untergebene“ nach seinem Vorbild zu erziehen. Wer fürs Ego ein Alter Ego braucht, ist als Manager ungeeignet.

Für die Mehrzahl der heute aktiven jüngeren Führungskräfte, die trotz einer völlig veränderten Lebens- und Wirtschaftswelt von patriarchalischen Vorgesetzten unternehmenssozialisiert werden, bedeutet das zwei mögliche Krisenszenarien: Entweder, sie machen den Job eine Weile, haben früher oder später die Schnauze voll und schmeißen auf die eine oder Art hin – oder sie brennen innerlich aus. Oberflächlich leichter scheint vielen leider, es ihren „Vorbildern“ in der Chefetage gleich zu tun und aus dem Verantwortungsdogma einen Egotrip zu machen. Wer auf diesem Holzweg einmal angekommen ist, droht jederzeit einzubrechen. Immer wieder begegne ich bei Beratungsgesprächen oder Coachingsitzungen Führungskräften, deren Schultern unter der Last der Verantwortung krumm geworden sind – und die genau deshalb glauben, ihren Job besonders gut zu machen.

Verantwortung für alles und jeden aber ist kein Wert der Unternehmensführung – denn genau wie Sie als Manager sollte auch jeder einzelne Ihrer Mitarbeiter die Verantwortung für seine Aufgaben übernehmen. Ihre Verantwortung im Management liegt, neben den operativen Aufgaben, vielmehr darin, für die Werte Ihres Unternehmens einzustehen und deren tägliche Umsetzung sicherzustellen.

Welche Werte das sind? Eben. Genau da liegt in den meisten Unternehmen alter Schule der Hund begraben – es mangelt an operationalisierbaren Unternehmenswerten. Weshalb Ihr Chef es sich am leichtesten macht, indem er Ihnen den Alibi-Wert der Verantwortung auftischt und Sie nach seinem Vorbild erzieht: als Führungskraft, die nicht nur ihren operativen Verantwortungsbereich führt, sondern gottgleich meint, auch in die Verantwortungsbereiche seiner Angestellten und am besten auch noch in deren Privatleben eingreifen zu müssen – weil ein „verantwortungsvoller“ Chef sich nun mal um seine Schäfchen kümmert. Vor allem aber kann er, physisch erschöpft und seelisch ausgebrannt, ganz einfach zur „Verantwortung“ gezogen werden, wenn es in seinem Bereich hakt. Was sich blendend argumentieren lässt mit – Sie wissen schon, den Benchmarks.

Die großen Blockaden: Egothemen und Charakterfehler

Dass viele Chefs der alten Schule statt Unternehmenswerten das Verantwortungsdogma vorleben, ist oft der Tatsache geschuldet, dass sie ihrerseits es von ihren Mentoren so vorgelebt bekommen haben. Oft spielen bei dieser Führungssozialisierung allerdings auch individuelle seelische und biografische Themen eine maßgebliche Rolle.

Gegen charismatische Führungskräfte ist ganz und gar nichts einzuwenden – im Gegenteil, wir brauchen mehr von diesem Menschen in der Wirtschaft, denn sie sind den charakterlosen Kennzahlenreitern allemal vorzuziehen. Ein charismatisches Auftreten wird allerdings allzu oft mit einem dogmatischen verwechselt. Und wer gelernt hat, dass er ab einer bestimmten Position im Unternehmen schalten und walten darf, wie es ihm beliebt, der verwechselt oft Verhandlungssituationen und interne Konflikte mit seinen persönlichen Egothemen.

Führungskräfte stehen in der Regel im Schnittpunkt diverser externer Anspruchshaltungen, die sich auf ihre Persönlichkeitsentwicklung auswirken: eigener Ehrgeiz und Karrieredruck, das Verantwortungsdogma vonseiten des Chefs, die Pflichten als Familienernährer und meist auch noch sehr intime Themen, die oft bis in die Kindheit zurückgehen und den Charakter geprägt haben (etwa die Erwartungshaltung eines „erfolgreichen“ Vaters). Sie alle schlagen sich unbewusst auf den persönlichen Führungsstil nieder. Das ist nur allzu menschlich – hilfreich für ein freies, beseeltes Arbeiten oder gar wirtschaftlich im Sinne des Unternehmens ist es ganz und gar nicht.

Vor kurzem hatte ich einen Coachee – nennen wir ihn Martin – der in genau jene Art von Wertekonflikt verwickelt war und davon auf vielfältige Weise beeinflusst wurde. Die verschiedenen Wertmuster, mit denen er biografisch konfrontiert worden war, hatten sich bei ihm zu einem regelrechten Knoten in der Seele verdichtet, den er selbst nicht mehr zu entwirren in der Lage war.

Martin war in einem sehr konservativen Elternhaus aufgewachsen und hatte zwar eine sehr behütete Kindheit erlebt, dafür aber auch sehr wenige Freiheiten kennengelernt. Sein Vater hatte ihm früh eingeimpft, dass aus ihm einmal „etwas werden müsse“. Nach einem hervorragenden Studienabschluss hatte er schnell eine Stelle in einem eigentümergeführten mittelständischen Unternehmen gefunden.

Der Eigentümer des Unternehmens wurde bald zu einem persönlichen Mentor und integrierte ihn regelrecht in seine Familie. Er verstärkte damit allerdings auch genau jene antrainierte Erwartungshaltung, die Martin von seinem Vater mitbekommen hatte und von der er sich nie hatte befreien können. Martins Frau hatte ihn früh zur Vaterschaft gedrängt, obwohl Martin keine innerliche Bereitschaft dazu fühlte – es schien ihm einfach die logische biografische Konsequenz, dem Begehren seiner Frau nachzugeben, nachdem das Gehalt stimmte und der Job sicher schien. Beruflich war er von morgens bis abends damit beschäftigt, für den alternden Unternehmer die Fäden zusammenzuhalten, und versuchte darüber hinaus weitgehend unreflektiert, seinen Mitarbeitern ein Mentor nach dem Vorbild seines Chefs zu sein. So war er schon mit Ende dreißig ein zwar erfolgreicher, aber auch seelisch ausgezehrter Mann. Er hatte – ganz im Sinne des Verantwortungsdogmas – innerlich die Verantwortung dafür übernommen, das Unternehmen in eine erfolgreiche Zukunft zu führen, indem er das Erbe des alten Patriarchen fortführte.

Als er zu mir kam, sah Martin sich gerade erstmals mit einer Aufgabe konfrontiert, der er sich nicht mehr gewachsen fühlte: Er hatte erkannt, dass das Unternehmen mit der stolzen, traditionsorientierten Art des Wirtschaftens, für die der Eigentümer stand, nicht mehr überlebensfähig war. Der junge Manager sah sich dennoch in der Verantwortung, den Spagat zu leisten. Dabei begann er erstmals zu ahnen, dass die Werte, denen er sein Leben lang gefolgt war, nie seine eigenen gewesen waren, und begann sich äußerst unwohl in seiner Haut zu fühlen. Dass er kurz vor dem Führungskollaps stand, fiel ihm erst auf, als einige seiner besten Mitarbeiter sich frustriert von ihm abwendeten und bald darauf das Unternehmen verließen, weil sie sich Martins Ansprüchen nicht mehr gewachsen sahen. Sie konnten mit seinem zunehmend inkongruenten, die realen Möglichkeiten des Unternehmens überschätzenden Führungsstil nicht mehr umgehen.

Persönliche Wertekongruenz, diese harte Lektion musste Martin im Coaching lernen, ist nicht erblich, sondern allein durch persönliche Erfahrung, unerschöpfliche Neugier und die Bereitschaft zum Scheitern zu erlangen. Martin hatte die Wertmuster und die Führungsdogmen seines Vaters und seines Mentors übernommen und schlitterte nun in einer Wirtschaftswelt auf die Katastrophe zu, die grundlegend anders war als die, in der sich die beiden alten Herren ihre Sporen verdient hatten. Innerlich war er frustriert, unzufrieden, schlicht unglücklich.

Geschichten wie die von Martin gibt es viele in der Wirtschaft – auch oder gerade die harten Hunde in den Chefetagen sind nicht frei von solchen Problemen. Wenn sich die innere Werteinkongruenz von Führungskräften auf deren Führungsstil auswirkt, kann das dramatische Folgen für Unternehmen haben – ganz zu schweigen von einer Wirtschaft, die aufgrund des besonderen Ehrgeizes solcher dogmatischer Persönlichkeiten geradezu von derartigen Wertekonflikten dominiert wird.

Worst-Practice-Beispiel 1: Blatter und wie er die Welt sah

Ein besonders abschreckendes Beispiel für die Folgen, die eine egomanische Alleinherrschaft und aufgeblasenes Machtgebaren in Unternehmen oder, wie in diesem Beispiel, einer Organisation haben kann, ist die FIFA unter Sepp Blatter.

 

Im Mai 2011 wurden aus FIFA-internen Quellen Korruptionsgerüchte im Zusammenhang mit der Vergabe der WM 2022 an Katar laut, in die auch der FIFA-Boss selbst verwickelt sein sollte. Blatter legte das Feigenblatt der Moral an und zerrte die vermeintlich Verantwortlichen vor die FIFA-interne Ethikkommission. Vizepräsident Jack Warner und Mohamed Bin Hammam, der bei der anstehenden Vereinspräsidentschaftswahl gegen Blatter antreten wollte, wurden vorläufig von ihren Ämtern suspendiert; Bin Hammam trat zudem höchst überraschend von seiner Kandidatur zurück. Blatter jedoch wurde freigesprochen, obwohl Bin Hammam ausgesagt hatte, der Schweizer habe von der Korruption gewusst. Auf einer Pressekonferenz hatte Blatter sogar noch die Nerven zu behaupten, es gäbe keine Krise bei der FIFA, obwohl der Korruptionsskandal weltweit die Schlagzeilen beherrschte. Wenige Tage später wurde der Patriarch erneut zum Präsidenten gewählt.

Was in diesen Tagen intern bei der FIFA tatsächlich stattgefunden hat, lässt sich nur mutmaßen – im Sinne werteorientierter Führung kann man jedoch klar sagen, dass hier alles falsch gemacht wurde, was man nur falsch machen kann.

Die FIFA als größter Verein der Welt definiert sich als „Fußballfamilie“. Blatter verwendete diese Formulierung sogar, als er ankündigte, die „Probleme werden wir innerhalb unserer FIFA-Familie lösen“. Die Positionierung als „Familie“, die sich durch gemeinsame Werte definiert, wurde zum Dogma, als er gegen jede Transparenz beschloss, die Klärung eines so massiven ethischen Verstoßes wie eines Korruptionsskandals unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen. Zudem blieb Blatter eine klare Positionierung schuldig, als sich weigerte, zu den Vorwürfen gegen seine Person Stellung zu nehmen.

Egal, ob Blatter an der Korruption teilhatte oder nicht – der moralische Makel wird an ihm als Führungsperson haftenbleiben, die FIFA unter seiner Ägide immer den Beigeschmack eines unsauberen Vereins haben. Die Werte einer Fußballgemeinschaft, die Werte des friedlichen, gleichberechtigten, internationalen Zusammenhalts und der gemeinsamen Leidenschaft für den fairen Wettkampf wurden hier aufs Massivste verletzt. Sogar die interne Ethikkommission, eigentlich für die Wahrung dieser Werte zuständig, hinterließ den Eindruck eines zahnlosen Tigers unter Blatters Fuchtel.

Es ist ein Extrembeispiel für die Wertekultur sogar der alten Schule, wenn familiäre Werte missbraucht werden, um ohne Rücksicht auf das Ansehen der Organisation ein Patriarchat zu führen. Blatter hat sich im Verlauf des Skandals auf eine Stufe mit Demagogen wie Silvio Berlusconi gestellt: Er hat sich egogetrieben sein eigenes System geschaffen und Schwache um sich geschart, um mit allen Mitteln seinen Machterhalt zu betreiben. Selbst in maximal dynastisch versuppten Unternehmen der alten Schule in der freien Wirtschaft wäre ein so extrem werteverachtendes Verhalten heute intolerabel und Blatter längst weg vom Fenster. Es ist eine Frage der Zeit, bis sich die Gemeinschaft von Fußballbegeisterten, die letztlich die wirklichen Werte der FIFA lebt, gegen ihn wendet.

Leitbilder: Ein Kompass ohne Magnet

Beizukommen ist der egogesteuerten Unternehmensführung – neben der persönlichen Entwicklung, der sich jede einzelne Führungskraft immer wieder stellen sollte – nur durch verbindliche Unternehmenswerte, die von jedem einzelnen Mitarbeiter, vom Fließband bis in die Chefetage, verbindlich gelebt werden und nicht von Egothemen kontaminiert werden dürfen. Wie aber ist es um die Wertekultur in deutschen Unternehmen bestellt?

Leitbilder sind für die meisten Top-Manager heute so etwas wie ungeliebte Stiefkinder: Sie sind schwer greifbar, man muss sich auf sie einstellen, sich ernsthaft mit ihnen beschäftigen, und sie sind nicht besonders begabt in Mathe. Und doch gehören sie zum Unternehmen wie der verzogene Stiefsohn zur zweiten Ehe – man kann sie nicht einfach ignorieren.

Entsprechend ist es um die Qualität der meisten Leitbilder heute bestellt. In der Regel sind sie bloße Instrumente der Markenkommunikation und vollgestopft mit inkongruenten Wertkonstrukten, dass es einem schwindlig werden kann. Sie geben nicht wider, was das Unternehmen ausmacht, sondern spiegeln Trends aus der Marktforschung und statistisch erhobene Bedürfnisse der sogenannten Zielgruppe. Was sie in aller Regel nicht spiegeln, sind die Menschen und die Ideen, die das Unternehmen von innen heraus befeuern. Kein Wunder also, dass sich kaum ein Manager mit ihnen identifizieren oder gar in seiner Personalführung an ihnen orientieren kann.

Ein besonders extremes Beispiel dafür sind die Leitbilder konfessioneller Krankenhäuser, die naturgemäß meist einem Wertekanon folgen, der in seiner Urform nur schwer mit den operativen Aufgaben eines gewinnorientiert arbeitenden Unternehmens vereinbar ist. Und doch haben sich die meisten Vorstände jener Kliniken bei der reinen Lehre christlicher Theologie bedient, als es branchenübergreifend unabdingbar wurde, dass Unternehmen, die etwas auf sich halten, mit einem Leitbild aufwarten mussten.

Worst-Practice-Beispiel 2: Leitbilder konfessioneller Krankenhäuser

Gemeinsam mit einigen Kollegen habe ich 2011 die Leitbilder konfessioneller Krankenhäuser in der ersten Studie dieser Art in Deutschland umfassend analysiert. Die Studie deckte mit 509 Kliniken 70 Prozent aller konfessionellen Krankenhäuser in Deutschland ab – die insgesamt immerhin ein Drittel aller Krankenhäuser in der Bundesrepublik ausmachen.

Die Ergebnisse hielten einige Überraschungen parat, die uns in der Summe zu der Erkenntnis führten, dass die Krankenhausleitbilder das Potenzial, das ihre christliche Werteorientierung bietet, bei weitem nicht ausreichend nutzen. So erfuhren die christlichen Werte in der Mehrzahl der Leitbilder eine so unzeitgemäße und praxisfremde Interpretation, dass sie gar nicht dazu geeignet waren, sich auf die Motivation, also den seelischen Antrieb der Mitarbeiter auszuwirken. Sie machten in der Gesamtheit der Leitbilder zudem nur 18 Prozent der Aspekte aus, die als handlungsleitend in den Leitbildern benannt wurden, und waren damit im Schnitt fast gleich gewichtet mit den meist wertfernen pekuniären Aspekten (12 Prozent), die ein Krankenhaus in der Regel ebenso wenig wie andere Unternehmen bei der wertorientierten Markenkommunikation voranbringen.

Ein Leitbild, eine Marke profitiert nicht davon, dass sie etwa Wirtschaftlichkeit als Leitwert des Unternehmens ausgibt – diese abstrakte Aussage trifft auf jedes Unternehmen zu, das darauf angewiesen ist, Gewinn oder doch zumindest Kostendeckung zu erwirtschaften. Ähnlich unspezifisch und damit für die Werteorientierung unbrauchbar sind Leitwerte wie „Entwicklung“ (45 Prozent) und „Zielorientierung“ (32 Prozent), wenn diese nicht praxisnah und umsetzungsorientiert definiert werden.

Die Gruppe von Aspekten, in der man bei einem konfessionellen Unternehmen hingegen die Motivatoren vermuten würde, die die Gemeinschaft der Mitarbeiter zusammenhält und die Seele des Unternehmens charakterisieren, sind die operationalisierbaren, lebenstüchtigen christlichen Werte. Leider ging es in der Mehrzahl der Leitbilder hier genauso hölzern und unzeitgemäß zu wie in der Gruppe der betriebswirtschaftlichen Aspekte: Nächstenliebe etwa, die eher als Grundvoraussetzung gelten sollte, wurde in 54 Prozent der Krankenhausleitbilder als Leitwert des Unternehmens angeführt – und damit viermal so häufig wie die Entscheidungsfreiheit der Mitarbeiter in Glaubensfragen, die in einem zukunftsorientierten Unternehmen – auch christlicher Prägung – für die Außenwirkung des Unternehmens um ein Vielfaches wertvoller wäre.