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Afrika - mon amour

Gisela Raeber

Impressum

Umschlagaquarell von Gisela Raeber

Copyright: Gisela Raeber 2018

giselaraeber@gmail.com

Druck und Vertrieb: epubli (Neopubli Gmbh, Berlin)

Erster Teil

Der Baum, der sich zu beugen versteht,

wird nie vom Wind gebrochen

Afrikanisches Sprichwort


Barcarole

Vogelgezwitscher erfüllt die erholsame Stille. Die hohen Baumwipfel wiegen sich lautlos. Vereinzelt durchdringende Sonnenstrahlen malen Arabesken auf den Boden. Man könnte sich fast im Elbsandsteingebirge glauben. Aber nein, irgendwo kreischt ein Papagei. Einige Affen hangeln sich durch die Bäume. Vom Fluss steigt der leise Gesang der Pygmäenfrauen herauf. Die feuchte Hitze ist drückend.

Nel gönnt sich eine kleine Pause. Ihr khakifarbenes Hemd klebt auf der Haut. Mit einem Taschentuch wischt sie die Schweißperlen von ihrer Stirn und streicht einige Haarsträhnen, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst haben, zurück. Durst. Sie holt ein großes Glas Wasser aus der Küche und trinkt in gierigen Schlucken.

Den ganzen Vormittag hat sie damit verbracht mit einigen Pygmäen, die Gregory und ihr hier im Camp für den Wildschutz zur Seite stehen, die fünfte Gästehütte fertigzustellen. Das Palmblätterdach ist halb vollendet.

„Komm Simossa!” ruft sie. Ein einjähriges Schimpansenmädchen springt herbei.

„Uuhh Uuhh Uuhh Uh Uh.” gluckst es und strahlt Nel mit seinen großen braunen Kulleraugen an. Im Handumdrehen klettert es auf ihren Rücken und schlingt die seidenweich behaarten Arme um ihren Hals. Dort wird es jetzt bestimmt für die nächste halbe Stunde bleiben.

„Du kleines Lausmädchen!” Nel setzt sich auf den Baumstumpf vor der Küche und tätschelt Simossas Kopf. Ein Lächeln spielt um ihren Mund. Sie ist glücklich.

In ihrem Kopf schwingt noch Jacques Offenbachs Barcarole, die Gregory heute zum Frühstück aufgelegt hat, bevor er mit dem Pick-up nach Yokadouma fuhr .

Le temps fuit et sans retour

Emporte nos tendresses,

Loin de cet heureux séjour

Le temps fuit sans retour.

Zéphyrs embrassés,

Versez-nous vos caresses,

Zéphyrs embrassés,

Donnez-nous vos baisers!

Vos baisers! Vos baisers! Ah!

Belle nuit, ô nuit d'amour,

Souris à nos ivresses,

Nuit plus douce que le jour,

belle nuit d'amour!

Ah! Souris à nos ivresses!

Nuit d'amour, nuit d'amour! Ah!

Gregory hatte sogar zu singen versucht. Fürchterlich falsch! Im Gedanken daran grinst sie.

„Ich schufte zwar hier wie eine Besessene. Ich würde mal wieder gerne ins Konzert gehen oder in einem schicken Restaurant speisen.“ denkt sie. „Aber alles in allem habe ich hier im Regenwald meine Lebensaufgabe gefunden. Wenn ich mich da erinnere, wie alles anfing...“

Der Traum von Afrika

Ihre Eltern hatten sie Petronella getauft, nach ihrer Großmutter. Das konnte in Petra oder Nelly verkürzt werden. Doch sobald sie reden konnte, bezeichnete sie sich selbst als Nel. Dabei blieb es. Der Name war schön kurz, klang energiegeladen und niemand sonst hieß so. Das gefiel ihr. Schon als Kind hatte sie einen Sinn für das Besondere.

Sie war zehn, als ihr ein Bildband über Zentral-afrika in die Hände fiel. Sie schaute sich die Fotos an und war fasziniert von den exotischen Tieren, der dunklen, glänzenden Haut der Menschen, den kriegsbemalten Männern, den in farbenfrohe Boubous gekleidete Frauen mit imposantem Kopfschmuck. Sie träumte von Savannen ohne Horizont und dichten Tropenwäldern, animiert durch ein subtiles Spiel von Licht und Schatten. Immer wieder holte sie das dicke Buch heraus und blätterte darin. Jedes Mal entdeckte sie etwas Neues, den klugen Gesichtsausdruck eines Affenbabys, die geometrischen Streifen des Zebras, die stolze Mähne des Löwen, das Angst einflößende Profil des Nashorns. Sie konnte sich nicht satt sehen.

„Dort möchte ich einmal hin“, vertraute sie ihrer Mutter an.

„Das ist aber sehr weit weg“, war die Antwort.

„Na und? Es gibt doch Schiffe und Flugzeuge.” Nel gab sich mit der Antwort ihrer Mutter nicht zufrie-den. Wie sollte sie auch verstehen, was in den Köpfen von frustrierten, im kommunistischen System eingepferchten Erwachsenen vorging?

Wenn Nel in ihrem Buch blätterte, konnte sie förmlich das Kreischen bunter Vögel und das Rauschen des Wasserfalls hören. Ihre Nase saugte den Modergeruch des Urwaldbodens auf. Beim Anblick der trockenen, sonnendurchfluteten Steppe wurde ihr ganz heiß. Obwohl draußen der Dezemberschnee leise fiel.

Ihr Wunschzettel ans Christkind war kurz. Er umfasste nur ein einziges Wort „Afrikabücher“.

„Afrika“, flüsterte sie. „Wenn ich groß bin, will ich nach Afrika.”

Als Ungarn 1989 die Grenze öffnete floh Nel mit ihrem damaligen Partner Klaus aus der DDR und kam über Österreich „nach drüben“, nach Westdeutschland. Fünfundzwanzig Jahre alt war sie gerade und erlebte Auffang- und Flüchtlingslager, Ablehnung wie auch Großzügigkeit seitens der Bundesbürger.

Nel und Klaus ließen sich in Bad Honnef bei Bonn nieder. Es galt einen neuen Anfang in dem völlig anderen Deutschland zu suchen, sich durchzukämpfen, seinen Platz zu finden.

Mit Klaus war sie schon im Kindergarten befreun-det. Er war der Nachbarsjunge. Später drückten sie zusammen die Schulbank, fingen beide das Betriebswirtschaft Studium an und hatten vor der Flucht schon einige Jahre zusammen gelebt. Klaus war unternehmungslustig, offen und sehr sportlich aber absolut nicht belastbar. Er schob jede Schwierigkeit auf Nel ab. Schlussendlich kam sie sich fast wie seine Mutter vor, die sich immer um alles für ihn kümmern musste.

Ein Jahr war in der Zwischenzeit vergangen. Täglich ging Nel in die Uni, hatte auch einen kleinen Job als Serviererin gefunden. Es war nicht leicht, sich als Ossi hier am Rhein zu behaupten.

Trotzdem war es nicht das, was ihr zu schaffen machte. Sie hatte vielmehr das Gefühl, daß ihr Leben mit Klaus ihr langsam entglitt.

Sie verstanden sich zwar noch immer gut, aber Liebe konnte das doch sicher nicht sein. Gab es das große, das überwältigende Glück? Sie wusste es nicht, und wenn sie untätig darauf wartete, würde sie es höchstwahrscheinlich niemals finden. Über eines war sie sich klar: wenn sie mit Klaus zusammen war, verspürte sie kein Kribbeln mehr, schlug ihr Herz niemals höher.

Gedankenverloren rührte sie in der Gemüsesuppe, die sie zum Abendessen zubereitete.

In den letzten Tagen wirkte Klaus des Öfteren abwesend. „Ich muss mit ihm reden“, sagte sie sich. „Ich kann so nicht weitermachen. Das Routineleben, das wir derzeit führen, befriedigt mich absolut nicht. Wir sollten uns vielleicht trennen.“

Als Klaus an diesem Abend heimkam, machte Nel einen bekümmerten, fast niedergeschlagenen Eindruck.

Klaus bemerkte es gar nicht. Er hatte andere Sorgen.

„Ich habe mir heute das Buch Jenseits von Afrika von Tania Blixen gekauft. Hast du das mal gelesen?“ Nel deutete auf das dicke Buch, das auf dem Tisch lag, und fügte kopfschüttelnd hinzu: „Was für eine dumme Frage, natürlich nicht.”

„Nein, natürlich nicht!“ Klaus ahmte ihren ironischen Ton nach. „Aber ich kenne die Anziehungskraft, die Afrika, die Wildnis und das Abenteuer auf dich ausüben. Die teile ich nicht mit dir, das weißt du. Ich brauche Sicherheit, Geborgenheit, ein geregeltes Leben.”

„Eben Klaus! Seit unserer Kindheit sind wir die besten Freunde, und ich habe immer auf dich zählen können. Wir haben so viel miteinander geteilt, so viel unternommen und können auf schöne Momente zurückblicken. Aber ich frage mich, ob ich glücklich bin. Richtig glücklich. Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt. Weißt du es?

„Glück ... meinst du nicht eher Liebe. Ich glaube, du fragst dich, was Liebe ist.”

„Ja. Und ich zweifle daran, daß Liebe das ist, was wir füreinander empfinden. Wir sind beide einfach automatisch in diese sehr bequeme Zweisamkeit gerutscht.”

„Du hast vielleicht Recht.” Klaus nickte versonnen. „Zwanzig Jahre kennen wir uns schon, sind durch dick und dünn zusammen gegangen, haben uns immer gut verstanden. Wir sind tolle Freunde, aber ...

„Aber so echt geknistert hat es nie.” vervollständigt Nel seinen Satz.

Klaus nickte und blickte sie offen an.

„Daß du das gerade heute auf den Tisch bringst. Ich glaube...“, er zögerte.

„Was glaubst du?“

„Ich... ich glaube, ich bin dabei, mich in eine Studienkollegin zu verlieben. Seit drei Wochen überlege ich mir, wie ich es dir beibringen soll und habe bisher den Mut dazu nicht aufgebracht.”

Nel schaute ihn erstaunt an, dann hellte sich ihr Gesicht auf. Sie stupste ihn in die Seite, und beide brachen in Lachen aus.

„Das trifft sich ja bestens. Ich freue mich für dich. Wie wär’s also, wenn wir uns trennen und dabei gute Freunde bleiben. Ist das ein Vorschlag?“ fragte Nel.

„So einfach hätte ich mir das im Traum nicht vorgestellt.” erwiderte Klaus, sichtlich erleichtert. „Ich stand vor einem großen Problem, das ich hin und her wälzte, ohne einen Ansatz zur Diskussion zu finden. Und du legst mir die Lösung einfach in den Schoß.“

Er legte die Arme um Nel und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Über ihre Schulter schaute er in den Suppentopf.

„Ah, die leckere Gemüsesuppe deiner Mutter. Dann lass uns doch jetzt zuerst mal essen. Ich habe einen Mordshunger. Dabei können wir in Ruhe weiterreden. Und was hältst du davon, wenn wir anschließend ins Kino gehen um unsere Scheidung zu feiern?“ er malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. „Auf dem Programm steht „Jenseits von Afrika“ mit Meryl Streep und Robert Redford. Erzähl mir nur nicht, daß du das noch nicht wusstest.“

 

„Natürlich habe ich das gesehen. Deswegen habe ich doch das Buch gekauft.“

Der Afrika-Virus

Nach ihrer Trennung von Klaus mietete Nel ein Zimmer bei einer sehr netten alten Dame und widmete sich ausschließlich ihrem letzten Studienjahr der Betriebswirtschaft. Sie büffelte wie verrückt.

Ihr Diplom in der Hand, nahm sie eine Stelle im Afrikareferat der Deutschen Stiftung für Internationale Entwicklung (DSE) in Bad Honnef an. Dort wurden Fachkräfte für ihren Einsatz in den sogenannten Dritte-Welt-Ländern vorbereitet. Die Kurse umfassten unter anderem landeskundliche, kultur- und alltagsbezogene Themen sowie internationale und lokale Sprachen.

Hier fühlte sie sich wohl. Der Bildband über Afrika fiel ihr ein und ihr Kindertraum vom schwarzen Kontinent. Ihr größter Wunsch war damals, im Regenwald zu leben und Tiere zu beobachten, die Menschen dort kennenzulernen. Dieses erste Buch über Afrika war nicht das einzige geblieben, das sie las. Tania Blixen und ihre kenianische Farm hatten sich dazugesellt. Aber auch Wilbur Smith und seine Abenteuer in Südafrika. Und natürlich historische Werke und wunderschöne Bildbände.

An einem der DSE Kurse nahm Olaf teil, der sich bei der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) auf ein Projekt im Kongo vorbereitete. Er lud Nel zu einem Kaffee auf einer Rheinterrasse ein. Dies war der Anfang zu langen Diskussionen, und bevor Olaf in den Kongo abreiste, gab er ihr seine Adresse. Dann hörte Nel nichts mehr von ihm und warf drei Jahre später seine Karte fort. Zwei Tage danach stand er plötzlich in ihrem Büro. Er sollte jetzt eine Aufgabe in Burundi übernehmen. Der Vertrag war auf drei Jahre festgelegt. Nel und Olaf knüpften dort an, wo sie vor drei Jahren aufgehört hatten. Sie verbrachten viel Zeit miteinander und redeten lange. Als Olaf dann nach Burundi flog, versprach Nel ihm, ihn dort während ihres Urlaubs zu besuchen. Und so landete sie Weihnachten 1993 zum ersten Mal in Bujumbura auf afrikanischem Boden. In Ruanda schwelten gerade die Anfänge des Bürgerkriegs zwischen Hutu und Tutsi und griffen auch auf Burundi über.

Olaf war Geologe und seine Aufgabe umfasste den Umwelt- und Naturschutz im Landesinneren, wo auf über eintausend Höhenmetern ein sehr angenehmes Klima herrschte.

Nel verbrachte mehrmals dort ihre Ferien mit ihm. Auf ihrem letzten Flug nahm sie eine neue Projektausschreibung für Südost-Kamerun mit. Sie war vor einigen Tagen auf ihrem Schreibtisch im Afrikareferat gelandet. Nel dachte, das wäre etwas für Olaf, insbesondere da sich sein Burundiaufenthalt dem Ende näherte.

Olaf war von dem Projekt angetan, bewarb sich und wurde für den Posten eingestellt. 1996 machte er eine Schnuppertour nach Kamerun. Die vom WWF unterstützte Aufgabe bestand unter anderem darin, im Südosten des Landes Schutzgebiete für die Naturwälder auszuweisen. Zusammen mit dem Dzanga-Sangha Nationalpark in der Zentralafrikanischen Republik, dem Nouabalé-Ndoki-Nationalpark im Norden des Kongos und dem Lobéké-Park in Kamerun sollte hier ein großes grenzüberschreitendes Naturreservat geschaffen werden. Das Projektgebiet in Kamerun, etwa so groß wie Hessen, war zu dieser Zeit fast noch ein weißer Fleck auf der Landkarte.

„Das ist ein ganz schwieriger Standort, und die Arbeit ist wirklich anspruchsvoll.” berichtete Olaf bei seiner Rückkehr. „Es sind so viele verschiedene Instanzen involviert. Wenn ich dahin gehe, dann nicht allein. Da musst du mitkommen“.

Der Vorschlag fiel bei Nel auf fruchtbaren Boden. Bereits bei ihrem ersten Besuch in Burundi hatte sie der Afrika-Virus erwischt.

„Hier bietet sich eine Gelegenheit, auf die du schon so lange wartest.” fügte Olaf lachend hinzu. „Und widersprich mir bloß nicht.”

Nel ließ sich für zwei Jahre von der DSE beurlauben und bereitete gemeinsam mit Olaf die Reise vor.

Da es sich um einen festen Arbeitsvertrag handelte, konnten sie viel Gepäck mitnehmen. Koffer und Kisten wurden verladen, sogar eine Wasch- und eine Nähmaschine waren dabei.

Eine Ruine

Im Juni 1996 kam Nel allein in Kameruns Hauptstadt Yaoundé an. Olaf musste vorher beruflich noch eine Woche nach Burundi zum vollständigen Abschluss des vorigen Projekts.

Da in Yaoundé derzeit ein großer internationaler Kongress stattfand, waren alle Hotels belegt und die GTZ brachte Nel am Stadtrand in einem riesigen Haus unter, dessen Besitzer gerade in Europa seine Ferien verbrachte. Es gab dort neun Schlafzimmer, jedes mit einem eigenen Bad, was wohl einiges über die Größe aussagte. Dazu eine Meute Doggen, die ständig kläfften und verköstigt werden mussten.

Da saß sie nun und wartete und langweilte sich und stellte sich zum zwanzigsten Mal die Frage, ob Olaf überhaupt irgendwann erscheinen würde.

Er traf tatsächlich nach acht Tagen ein. Und dann brachen sie sofort nach Yokadouma auf, in den Südosten des Landes nicht weit von der Grenze zur Zentralafrikanischen Republik.

Die Stadt und die ganze Gegend lebten hauptsächlich vom Holzabbau in den nahegelegenen Tropenwäldern. Die angesiedelten, vor allem europäischen Holzfirmen, betrieben hier den sogenannten selektiven Holzeinschlag.

Sechshundertfünfzig Kilometer betrug die Entfernung von Yaoundé. Einhundertfünfzig davon waren asphaltiert.

Danach gab es nur noch Piste, riesige Schlaglöcher, tiefe Fahrrinnen und Brücken mit maroden Brettern. Täglich donnerten hier in beiden Richtungen bis zu siebenhundert Holzlaster durch. Sie brachten ihre Ladung in die Hafenstadt Douala zur Verschiffung.

Zwölf Stunden dauerte im Durchschnitt die Fahrt von der Hauptstadt bis nach Yokadouma. Es war ratsam unterwegs einmal zu übernachten, weil die Route einfach zu aufreibend war.

In Yokadouma angekommen, machten sich die beiden auf die Suche nach einem Haus. Die ersten Monate verbrachten sie in einer bescheidenen Herberge. Sie belegten dort zwei Räume, einen für Kisten, Koffer, Hausrat und sonstige Artikel, die sie mitgebracht hatten. Den anderen benutzten sie als Schlafzimmer mit Bett, Tisch und einer primitiven Dusche. Eine Glühbirne baumelte von der Decke, der einzige verfügbare Stuhl wackelte bedrohlich.

Die LKW-Fahrer waren dort Stammgäste. Wenn sie im Morgengrauen ihre Fahrt aufnahmen, wurden Olaf und Nel von dem Lärm der Holzlaster und ihrem Abgasgestank geweckt. Das alles wirkte deprimierend auf Nel, die außer Ferien in Burundi noch keine Afrikaerfahrung hatte. Manchmal fragte sie sich, was sie hier überhaupt mache und kam sich vor wie im falschen Film.

Endlich im September fand Olaf ein Haus. Aber was für eines! Eine Ruine, die aus der Kolonialzeit stammte und im ehemaligen administrativen Teil der Stadt auf einem Hügel gelegen war. Groß war es, mit riesigem Grundstück, aber völlig heruntergewirtschaftet. Kein Strom. Kein Wasser. Das Dach war eingefallen, die meisten Fenster und Türen fehlten. Sie waren wohl irgendwann als Brennholz verwendet worden.

„Olaf, wie sollen wir denn hier bloß leben? Das ist doch völlig desolat. Hier muss alles, aber auch alles, erneuert werden.” hielt Nel ihm entgegen. „Zuerst diese miese Herberge und jetzt ein Trümmerhaufen. Da habe ich mich zwei Jahre beurlauben lassen und falle hier allmählich einer Depression zum Opfer.“

„Ach komm schon“, meinte Olaf, „wir schaffen das. Du bist doch sonst immer so optimistisch. Ich gebe zu, das Haus verlangt eine Menge Arbeit, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, wie es dann nachher aussehen wird. Eine schöne Terrasse, große, helle Zimmer, viel Platz, ein Garten.... Eine Waschmaschine haben wir ja schon.“

„Also, ich weiß nicht. Ich fühle mich völlig überfordert.“

„Du wirst doch jetzt nicht verzagen, Schatz, das ist eben Afrika! Da müssen wir durch!“ Olaf nahm Nel in die Arme und wirbelte sie herum. Dann lachte er und vollführte eine kreisrunde Armbewegung.

„Schau dir mal die Lage an. All das für uns alleine. Schön auf dem Hügel gelegen mit herrlicher Aussicht. Und Nachbarn stören uns auch keine. Wo sonst findest du so etwas?“

Und so lebten sie anderthalb Jahren lang auf einer Baustelle. Sie schliefen auf Matratzen am Boden. Elektrizität und Wasserleitungen wurden angelegt, das Dach gedeckt. Nel hatte Bilder aus einem alten Ikea-Katalog ausgeschnitten und sie zu den einheimischen Schreinern gebracht, damit sie Tische, Stühle, Schränke, Fenster, Türen und Betten anfertigen konnten. Alle sechs Wochen fuhren sie nach Yaoundé, kauften dort Baumaterial, Werkzeug, Geräte, Stoffe und Farben und kamen mit einem vollgepackten Pick-up zurück.

Sie zeichneten, maßen, berechneten, schnitten zu, schraubten, hobelten, bauten, strichen, und ab und zu fluchten sie wie die Fuhrkutscher.

Hinzu kam, daß es oft fünf Tage lang keinen Strom gab. Kam er endlich wieder, passierte das in Stößen, da es keinen Spannungsregler gab. Die Nähmaschine ging von alleine los. Es erinnerte Nel an den alten Charly Chaplin Film „Moderne Zeiten“.

War sie gerade beim Wäschewaschen, fiel das Wasser aus und nach ein oder zwei Tagen brauchte das Naß seine Zeit, um bis auf ihren Hügel zu gelangen. Welcome to Africa!

Aber sie schafften es. Nel machte sogar einen kleinen Teil des Geländes urbar, um einen Gemüsegarten anzulegen. Die Beete wurden mit Brettern eingefasst, damit die Erde in der Regenzeit nicht fortgeschwemmt würde. Gemüse und Salat brachten zwar nicht viel. Mal war es zu warm und zu trocken, dann wieder zu nass. Oder verschiedene Plagegeister fraßen über Nacht die zarten Triebe ab. Doch Schnittlauch, Zitronenmelisse, Koriander, Dill und Minze gediehen wunderbar.

Gleich daneben baute Olaf einen Kaninchenstall.

Nel stöberte ein gemütliches Sofa auf, auch ein paar Bilder zur Dekoration. Sie kaufte ein gutes Duzend Kerzen, nicht nur für die Romantik sondern auch für den Stromausfall. Musik-CDs hatte sie von zu Hause dabei.

Sogar Kissen und Vorhänge nähte sie und war froh, daß sie eine Nähmaschine mitgebracht hatte. Irgendwann war die dann kaputt. Nel brachte sie zur Reparatur nach Yaoundé. Vier Wochen später holte sie sie wieder ab. Das Ding funktionierte immer noch nicht. Es fehlte ein Teil. Das wurde einfach ausgebaut, um eine andere Maschine zu reparieren. Nochmals welcome to Africa.

Mit Olaf war Nel oft im Projektgelände unterwegs. Rund um den Park wurden Holzkonzessionen an europäische Firmen vergeben, um den Abschlag kontrollierbar zu gestalten. Es wurde eine Pufferzone zwischen dem Nationalparkgelände und den Dörfern angelegt.

Die beiden lernten in der Gegend viele einflussreiche einheimische und ausländische Akteure kennen. Das war sehr wichtig. Man war solidarisch und konnte sich gegenseitig helfen. Zum Beispiel hatten die Holzgesellschaften immer ihre eigenen Flugpisten. Wenn man mal ernsthaft krank wäre, könnte man so schnell wegkommen.

Olaf hatte ihr gesagt, sie könne sicherlich an seinem Projekt mitarbeiten. Leider stellte sich heraus, daß dies wegen ihrer damals noch mangelhaften Französischkenntnisse praktisch nicht möglich war. Trotzdem fühlte sie sich frustriert, als Olaf die Frau eines kamerunischen Mitarbeiters als Sekretärin engagierte.

„Olaf, ich glaube es ist an der Zeit, daß ich mich anderswo umsehe, wie ich mich nützlich machen kann. Ich möchte gern eine sinnvolle Aufgabe übernehmen. Wir kennen ja inzwischen viele Leute und ich bin praktisch veranlagt. Irgendwo werde ich sicherlich einen Job finden.“

Und das ergab sich auch bald. Als sie das nächste Mal in Yaoundé waren hörte sie, daß die GTZ gerade plante, eine Bibliothek für die Projektverwaltung einzurichten. Hier sollten sämtliche Dokumente, Unterlagen, Berichte und Veröffentlichungen aus den Projekten zusammengetragen werden. Es gab bereits ein Computerprogramm für Klassifizierung, Nummerierung und Stichwortsuche. Nel sprach vor und wurde sofort engagiert. Vor Ort arbeitete sie sich ein und nahm jede Menge Kartons voller Material mit nach Yokadouma, wo sie die Arbeit verrichtete und beim nächsten Besuch in Yaoundé ablieferte. Das dauerte mehrere Monate und wurde recht gut bezahlt.

Anschließend beauftragte die GTZ sie damit, ein modernes Organisationssystem für den neuen Büroleiter umzusetzen. Es ging vor allem darum, das Ablagesystem zu überarbeiten, Ordner zu sortieren und neu zu beschriften. Das war zwar keine umwerfend spannende Arbeit, überbrückte aber die Zeit und brachte ebenfalls etwas Geld ein.

 

In der benachbarten Zentralafrikanischen Republik besaß die GTZ im Dzanga-Sangha Park eine Lodge, die noch in den Anfängen steckte. An diesem Projekt war der WWF ebenfalls beteiligt. Hier lag ein neuer und wesentlich anspruchsvollerer Auftrag für Nel. Sie sollte die ersten Touristen betreuen und die vorgeschlagenen Programme evaluieren. Die Gäste machten mit den einheimischen Pygmäen stundenlange Streifzüge durch den Urwald, beobachteten Tiere oder wohnten der Palmweingewinnung bei. Das absolute Highlight war eine eindrucksvolle Saline, wo der WWF eine große Aussichtsplattform für etwa zwanzig Personen eingerichtet hatte. Salinen sind durch ihre Mineral- und Salzvorkommen ein magischer Anziehungspunkt für Waldelefanten, Büffel, Bongos, Antilopen und unzählige Vögel, die man von der Plattform aus beobachten konnte. Dort arbeitete Nel einige Monate, empfand es als einen Traumjob. Sie verstand sich auch recht gut mit einem jungen Schweizer Ehepaar, das im National-park arbeitete.

Wenig später wurde die Lodge privatisiert und von einer deutschen Pächterin übernommen. Sie war allerdings selten vor Ort, sondern organisierte und dirigierte alles von der Hauptstadt Bangui aus. Deshalb brauchte sie einen Manager, der sich um Lodge und Gäste kümmerte.

„Können Sie das vorübergehend für die ersten vier bis fünf Wochen machen?” fragte sie Nel, „bis ich einen Einheimischen für den Posten finde? Auf die Dauer sind Sie mir nämlich zu teuer!“

„Diplomatie ist wohl nicht gerade ihre Stärke.” dachte sich Nel bei dieser Bemerkung.

Die Schwierigkeiten fingen an. Nel hatte fast keinen Spielraum mehr. Für alles musste sie bei der neuen Pächterin die Bewilligung einholen. Das Essen wurde in Bangui vorgekocht, eingefroren und per Flugzeug geschickt. Gut war es auch nicht, und der ansässige Koch war sauer. Kreativität wurde nicht mehr gefragt. Speisen aufwärmen war nicht sein Ding.

Einmal in der Woche wollte die Chefin alle Einzelheiten mit Nel per Funk regeln, aber Nel bekam dann immer nur ihren Assistenten an die Strippe.

Sie stritten sich wegen aller möglichen Kleinigkeiten. Dann wurde Nel auch noch Geld aus der Kasse gestohlen, als sie einmal dringend nach draußen gerufen wurde und das Büro abzuschließen vergaß.

„Na gut, das ziehe ich Ihnen einfach von Ihrem Gehalt ab!” meinte die Chefin aus der Hauptstadt kaltblütig.

Die ständigen Reibereien und Ärgernisse mit dieser Frau führten schließlich dazu, daß Nel den Job auf-gab. Sie kündigte und fuhr wieder zurück nach Yoka-douma.

Ihre Schweizer Freunde brachten sie bis zur Grenzstation. Dort musste sie eine Piroge nehmen, die sie in einer Stunde ans andere Flussufer übersetzte. Für die Zollbeamten hatte sie einen Kasten Bier dabei. Der beschleunigte die Formalitäten.

Im nächsten Ort fragte sie bei den ansässigen Holzfirmen nach, ob sie in einem ihrer Lastwagen bis Yokadouma mitfahren könne. Das wurde dann für den nächsten Tag organisiert.

Inzwischen war ihr hundselend zumute, sie fühlte sich schwach und hatte Kopf- und Gliederschmerzen. Schweißausbrüche wurden von Schüttelfrost abgelöst.

Dazu kam hohes Fieber. Malaria.

Sie hatte schon vorher Malaria gehabt und wusste, daß es auch diesmal vorübergehen würde.

Zu Hause angekommen, kurierte sie sich erst einmal aus. Und dann musste sie feststellen, daß Olaf sie betrog....

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