Die Königin des Lichts

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Die Königin des Lichts
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Die Königin des Lichts

Eine spannende Geschichte für kleine und große Leute – gesponnen

Im Zauberland der Fantasie

Gisela Luise Till


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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2020 Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88-85 Langenargen

Lektorat: Melanie Wittmann

Titelbild: © Heike Georgi

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchausgabe erschienen 2018.

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

ISBN: 978-3-86196-751-4 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-296-8 - E-Book

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Inhalt

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Für meine Familie –

die ich für keine Zauberperle eintauschen würde!

Die Quelle des Lebens ist das Licht,

geh zur Sonne und du findest dich.

*

Das Versprechen

Die Sonne stand schon tief am Himmel, als Luzie im roten Schein der untergehenden Sonne die Bergwiese hinaufrannte. Ab und zu blieb sie stehen, vergewisserte sich, dass ihr niemand folgte, und eilte weiter. Das blonde Mädchen sah gehetzt aus. Ihr Blick irrte hin und her und suchte nach einem sicheren Versteck. Am liebsten hätte sie sich gleich hinter die ersten Büsche verkrochen, doch der Schlupfwinkel bot nicht genug Deckung. Sie lief bis zum Wiesenrand, blieb beim alten Heuschober stehen, lauerte nach allen Seiten und huschte in den Schuppen.

Leise fiel die Tür ins Schloss und sie stand im Dunkeln. Luzie lehnte sich keuchend an die Wand und schnaufte ein paarmal kräftig durch. Sie wartete, bis ihr Atem sich beruhigte, sank auf die Knie und kroch im Lichtschein, der unter ihrem Pullover leuchtete, hinter die abgestellten Bretter.

Ihr Vater mochte es nicht, wenn sie sich hier versteckte: Er befürchtete, dass die Bretter umkippen und sie verletzen könnten. Doch sie hatte keine Angst, solange sie achtgab, war alles gut! Das Versteck war sicher, abends trauten sich die Kinder nicht mehr hierher. Max war der Einzige, der sich das traute, und wenn sie Glück hatte, kam er heute nicht auf die Idee, hier nach ihr zu suchen. Das wünschte sie sich so sehr. Immer war sie die Erste, die gefunden wurde, das machte überhaupt keinen Spaß.

Luzie krabbelte in die hinterste Ecke, schlang ihre Arme um die Knie und kauerte sich in den engen Winkel. Es war so eng, dass bei jeder Bewegung die Latten bedenklich wackelten. Sie traute sich kaum noch zu atmen. Wenn die Bretter kippten, war alles verloren: Max würde es hören und sofort wissen, wo sie war.

In der Ecke war es beklemmend, aber sie tat, was sie sich vorgenommen hatte. Sie legte den Kopf auf die Knie, schirmte das Licht ab und blieb stocksteif hocken. Draußen war alles still. Nichts war zu hören. Die Minuten schlichen dahin. Luzie glaubte schon, eine Ewigkeit in der Enge ausgeharrt zu haben, als plötzlich draußen Stimmen kreischten. Der Wind wehte die Worte zu ihr herüber und sie hörte die Kinder rufen: „Blinki will sich verstecken, wir werden sie entdecken!“

Sie hielt sich die Ohren zu.

Da hörte sie es schon wieder. „Blinki, Blinki, die verrückte Blinki.“

Verärgert presste sie die Lippen zusammen. Egal, was sie tat, überall johlten die Kinder: „Blinki, Blinki, da kommt die blinkende Blinki!“

Der Name Blinki brannte wie tausend Nadelstiche in ihren Ohren. Diesen blöden Spitznamen wollte sie nicht mehr hören. Beim Verstecken war es besonders schlimm. Dann sangen alle Kinder zusammen:

„Blinki will sich verstecken,

wir werden sie entdecken!

Blinki, Blinki, die verrückte Blinki.“

Und jetzt passierte es schon wieder. Wo sie sich auch versteckte, das blöde Licht verriet sie immer. Wie sie dieses Licht hasste! Ach, sie hasste alles: den Namen Blinki und das Licht.

Luzie hockte in ihrem engen Versteck und vertraute darauf, dass noch niemand wusste, wo sie sich befand. Wenn sie sich ruhig verhielt und das Licht abdeckte, konnte es Stunden dauern, bis jemand sie entdeckte. Sie wusste genau, Max würde sie suchen. Aber was sollte sie tun, wenn er sie nicht aufspürte? Den Schlupfwinkel wollte sie nicht verlassen, selbst wenn es die ganze Nacht dauern würde.

Luzie stützte sich an der Wand ab, streckte vorsichtig ihre steif gewordenen Glieder und linste durch ein Astloch. Unten am Apfelbaum stand Max, sie konnte ihn sehen.

Er lehnte mit dem Kopf am Baumstamm und rief: „Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein, eins ... zwei ... drei ...“ Bei zehn drehte er sich um, schüttelte sein lockiges schwarzes Haar und schaute suchend umher.

Der zwölfjährige Junge war schlank und hochgewachsen. Er hatte ein aufgewecktes Lächeln und verschmitzte braune Augen. Obgleich er ein Jahr älter als Luzie war, liebte er es, mit ihr zu spielen, denn sie war klüger und stärker als alle anderen und hatte immer die besten Ideen.

Max betrachtete die Büsche und musterte den Schuppen. Es dauerte keine Minute, da sah er ein Licht durch die Ritzen der Holzwand schimmern und wusste sofort: Dahinter verbarg sich Luzie. Ein verschmitztes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er pfiff vergnügt vor sich hin, eilte die Wiese hoch, blieb an der hinteren Stallwand stehen und drückte sein Ohr an die Wand. Luzie hielt den Atem an. Plötzlich hatte sie das Gefühl, in ihrem Versteck eingesperrt zu sein. Max wusste schon wieder, wo sie sich verbarg. Egal, was sie auch tat, er fand sie immer und überall. Das machte überhaupt keinen Spaß!

Max schlich zur Vorderseite, riss die Tür auf, blieb breitbeinig im Eingang stehen und rief: „Eins, zwei, drei, gefunden!“

Luzie kroch mit steifen Gliedern aus ihrem Versteck. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie taumelte gegen die Bretter und schwankte zur Tür. Max reichte ihr die Hand, doch Luzie stieß ihn zur Seite und rannte davon. Der heftige Stoß traf Max in die Rippen. Er stolperte, rutschte aus und fiel hin. In dem Moment stürzten die Bretter um und begruben ihn.

Luzie hörte das Poltern, drehte sich aber nicht um. Aus Angst, sie könnte ein Kind treffen, das wieder ihren verhassten Spitznamen rief, schaute sie nicht nach links und rechts und sauste geradewegs nach Hause. Wütend knallte sie die Tür hinter sich zu, setzte sich an den Küchentisch und vergrub ihren Kopf zwischen den Händen.

Maria, Luzies Mama, blickte sie erstaunt an. „Was ist passiert? Warum bist du so verärgert?“

Luzie presste die Lippen zusammen, knallte ihre Faust auf den Tisch und murrte: „Ich spiel nie mehr Verstecken!“

Maria schüttelte verdutzt den Kopf. „Wieso nicht? Was ist passiert?“

„Das blöde Licht verrät mich immer. Max kann allein Verstecken spielen, der findet mich sowieso sofort.“ Luzie zog mürrisch die Stirn kraus. Sie hasste das Licht in ihrer Brust, das Leuchten ihrer Haut, das sie immer und überall verriet. Kein Mensch hatte so ein Licht – nur sie. Solange sie klein gewesen war, hatte sie es lustig gefunden, doch nun wurde ihr immer mehr bewusst, dass sie anders war als andere Kinder. Das, was ihr widerfuhr, war nicht normal! Sie fühlte sich so scheußlich und dachte: „Vielleicht bin ich verrückt? Nur Verrückte haben so ein Licht, darum bin ich auch die Einzige, die so leuchtet. So muss es sein! Ich bin verrückt und alle wissen es. Die Kinder rufen ja schon: Da kommt Blinki! Die verrückte Blinki!“

Luzie schluchzte, schluckte die aufkommenden Tränen runter und jammerte: „Mama, bin ich verrückt?“

Maria ließ bestürzt den Kochlöffel fallen. „Du meine Güte, Kind! Wie kommst du denn darauf?“

Luzie zuckte die Schultern und verschluckte die Worte, die ihr auf der Zunge lagen. Sollte sie sagen, dass die Kinder sie hänselten? Damit würde sie ihre Mutter nur ängstigen und das wollte sie auf keinen Fall. Sie zog ihr Taschentuch aus der Hosentasche, schnäuzte kräftig ihre Nase und suchte nach einer Antwort. Während sie die Nase umständlich abwischte, ging die Tür auf und Max humpelte herein.

Er sah fürchterlich aus: Die Haare standen ihm zu Berge, seine Hose war zerrissen, der Ärmel seiner Jacke hatte ein Loch und sein Arm blutete. Mit schmerzverzerrtem Gesicht presste er den Arm gegen seinen Körper und hinkte zur Küchenbank.

Maria schrie entsetzt auf: „Oh Gott, Max! Wie siehst du aus? Was ist passiert?“

„Ich bin gefallen, die Bretter sind auf mich gestürzt. Ich glaub, mein Arm ist gebrochen. Es tut so weh.“

Maria betrachtete den Arm. Er zeigte einige Hautabschürfungen und blutige Schrammen, schien aber nicht gebrochen zu sein. Sie eilte zum Wasserhahn, ließ kaltes Wasser über ein Tuch laufen und legte Max einen Verband an. „Hab keine Angst“, tröstete sie. „Ich muss den Arm kühlen, damit er nicht anschwillt.“

Während sie Max behandelte, ließ Luzie beschämt den Kopf hängen und Marie hegte den Verdacht, dass ihr Kind etwas angestellt hatte. Ihr Gefühl gab ihr recht, Luzie fühlte sich schuldig. Max war verletzt. Das hatte sie nie und nimmer gewollt! Im Gegenteil. Sie verabscheute es, wenn sie mit Max stritt, hinterher fühlte sie sich immer so schlecht, als hätte sie eine große Schuld auf sich geladen. Max war ihr Freund, er war stets lieb zu ihr, und egal, was sie auch anstellte, er verzieh ihr alles. Ihm wollte sie auf keinen Fall wehtun.

 

Luzie hatte insgeheim selbst auf etwas Trost gehofft, aber nun brauchte Max ihr Mitgefühl, er hatte Schmerzen. Sie setzte sich zu ihm, streichelte seinen Arm und bat: „Verzeih mir, das hab ich nicht gewollt. Tut es sehr weh?“

Er zuckte die Schultern. „Es ist halb so schlimm. Leg deine Hand drauf, dann ist es gleich vorbei.“

Max wusste, dass von Luzies Händen eine heilende Wirkung ausging. Immer wenn er sich verletzte und Luzie mit der Hand über die Stelle rieb, strömte eine Wärme in seinen Körper und der Schmerz verging. Deshalb war er Luzie auch nie lange böse, sie machte alles wieder gut. Es war sonderbar, immer wenn Luzie sich aufregte, passierten die merkwürdigsten Sachen. Das hatte etwas mit ihrer Kraft zu tun. Wenn sie wütend war, bekam sie Bärenkräfte und dann traute sich außer ihm kein Kind mehr in ihre Nähe. Einmal hatte sie so fest mit der Faust auf den Tisch geschlagen, dass er in zwei Teile zerbrochen war. Das konnte sonst niemand. Im ganzen Waldaland gab es kein Kind, das so viel Kraft hatte!

Luzie hatte etwas Geheimnisvolles, Unerklärliches; es war, als wohnten zwei Seelen in ihrer Brust.

Max saß grübelnd auf der Bank, als Maria ihm den Verband anlegte und sorgenvoll seufzte: „Ach, Luzie, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du die Kinder nicht schubsen darfst, du weißt doch, wie stark du bist. Du musst deine Kräfte im Zaum halten. Wenn du alle Kinder verletzt, will niemand mehr mit dir spielen. Sei froh, dass du Max zum Freund hast. Alle anderen kommen schon nicht mehr. Die Kinder haben Angst vor dir.“

Maria war in tiefer Sorge und hatte ständig Angst, dass Luzie etwas anstellen könnte. Sie liebte ihr Kind über alles und wollte ihren Sonnenstrahl so lange wie möglich beschützen. Doch die Zeit rückte immer näher, da sie Luzie in ihr Geheimnis einweihen musste. Sie konnte es nicht länger verschweigen, allmählich wurde es zu gefährlich. Luzie musste wissen, was mit ihr los war. Obwohl Maria wusste, dass es höchste Zeit war, ihrem Kind das Geheimnis zu verraten, schob sie es immer wieder vor sich her. Luzie sollte so lange wie möglich ein sorgloses Kind bleiben und wie alle anderen aufwachsen. Deshalb hatte sie die Wahrheit über Luzie und das Licht noch nicht über ihre Lippen gebracht. Doch lange konnte sie es nicht mehr verheimlichen. Je älter Luzie wurde, umso gefährlicher wurde es. Ihre Kräfte nahmen zu! Vor allem musste sie Luzie beibringen, ihr heißes Temperament zu zügeln, ihre Wut zu beherrschen und sich nichts unkontrolliert zu wünschen, was dann vielleicht in Erfüllung gehen und ungeahnte Folgen haben würde.

Maria lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wie oft hatte sie schon mit diesem inneren Zwiespalt gehadert und nun kämpfte sie schon wieder den gleichen Kampf. Sie wollte nicht schuld sein, wenn etwas Schreckliches passierte, nur weil sie den Mut nicht aufbrachte, um ihrem Kind die Wahrheit zu sagen.

Am Abend wartete Maria mit dem Abendessen auf Luzies Vater Falko. Sie erblickte ihn durchs Fenster und öffnete die Tür. Das Erste, was Falko sah, war Max’ Verband. Falko hätte sich gerne hingesetzt und etwas getrunken, aber Max sah so ramponiert aus, dass er gleich zu ihm ging. „Was ist passiert? Hast du dich verletzt?“

Max sah Hilfe suchend zu Luzie und stammelte: „Ja ... nein ... ich weiß nicht!“

Luzie wurde ganz verlegen. „Das ist meine Schuld. Das hab ich gemacht.“

„Duuu?“, wunderte sich Falko. „Wie ist das passiert? Was hast du angestellt?“

„Wir haben Verstecken gespielt, Max hat mich sofort gefunden, da hab ich ihn weggeschubst und die Bretter sind auf ihn gefallen.“

„Willst du damit sagen, dass ihr im Schuppen gespielt habt?“

Luzie ließ den Kopf hängen, ihre Lippen wurden ganz schmal und dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Falko bemerkte, dass ihre Schultern leicht zitterten, er konnte kaum hinsehen und streichelte tröstend ihre Hand. „Aber, aber, mein Sonnenstrahl. Hör auf zu weinen – so schlimm wird das doch nicht gewesen sein.“

Luzie trocknete ihre Tränen. Ihr Vater nannte sie Sonnenstrahl, das war ein gutes Zeichen. Sie kletterte auf seinen Schoß, schlang die Arme um seinen Hals und erzählte, was geschehen war.

Falko nahm ihr das Versprechen ab, den Schuppen mit den gefährlichen Gerätschaften zu meiden, und seufzte: „Geh schlafen, Sonnenstrahl, es ist schon spät, ich begleite Max nach Hause, ich will noch mit seinem Vater reden.“

Luzie verabredete sich mit Max für den nächsten Tag, ging in ihr Zimmer und zog ihre Kleider aus. In der Abenddämmerung leuchtete ihre nackte Brust besonders hell und ihr ganzer Körper war umgeben von einem goldenen Schein. Sie betrachtete ihr Spiegelbild und fragte sich, warum sie so anders war. Allein ihr blondes Haar sonderte sie von allen anderen ab. Niemand im Waldaland hatte solche blonden Haare. Alle waren schwarz- oder braunhaarig. Doch das konnte sie verstehen; ihre Oma wohnte in einem fernen Land und war auch blond. Befremdlicher waren ihre Augen, mit denen stimmte etwas nicht. Sie waren braun, von einem blauen Rand umgeben und wechselten wie feurige Diamanten die Farbe.

Es war sonderbar, manchmal strahlten ihre Augen wie die Sonne und schickten goldene Strahlen zur Erde. Deshalb nannte Papa sie auch Sonnenstrahl. Doch etwas passte nicht, das fühlte sie genau. Wenn sie nur wüsste, was. Es war alles so verworren. Genauso verworren war das Theater, das ihre Mama immer machte, wenn sie sich etwas wünschte. Nie durfte sie sich etwas wünschen.

Stattdessen sollte sie sagen: „Es wäre schön, wenn ich eine Katze hätte. Es wäre schön, wenn ich einen Hund hätte. Es wäre schön ...“

Das war doch blöd! Sie wünschte sich schließlich einen Hund! Und wenn sie gerne einen Hund hätte, warum sollte sie sich dann keinen wünschen?

Luzie fühlte sich plötzlich so allein und der Wunsch nach einem Hund wurde immer größer. Sie sah das Tier deutlich vor sich. In ihrer Fantasie hielt sie den Hund an der Leine und spazierte mit ihm im Zimmer umher. Sie sah sich schon mit Max und dem Hund im Wald herumtollen. Diese Vorstellung war so schön, dass ihre Sehnsucht nach einem Hund von Minute zu Minute drängender wurde. Sie konnte an nichts anderes mehr denken und das Verlangen steigerte sich noch.

Plötzlich kniff sie die Augen zu, und ehe sie wusste, was sie tat, flüsterte sie aus tiefster Seele: „Ich wünsche mir einen Hund! Einen wuscheligen weißen mit schwarzen Augen, schwarzer Nase und lockigem Schwanz!“

Während Luzie von dem Hund träumte, jaulte etwas unter ihrem Fenster. Sie zog ihre Schmusedecke vom Bett, wickelte sie um ihren nackten Körper und schaute zum Fenster hinaus. Sie lehnte sich weit hinaus und konnte kaum glauben, was sie sah. War das möglich?

Unten bellte ein weißer Hund und blickte ihr in die Augen. Es war genau der Hund, den sie sich gewünscht hatte.

Sie legte ihren Finger auf die Lippen. „Psst, sei still. Bleib, wo du bist, ich komm dich holen!“ Luzie schleuderte die Decke von ihren Schultern, schlüpfte in ihren Schlafanzug und schlich ins Treppenhaus. Vorsichtig lehnte sie sich über das Geländer, spähte nach unten und vergewisserte sich, dass niemand im Flur war. Die Luft war rein. Doch wie sollte sie den Hund hochholen? Niemand durfte ihn sehen!

Sie holte ihre Kuscheldecke, eilte zurück und hörte plötzlich unten eine Tür quietschen. Erschrocken blieb sie stehen und beobachtete, wie die Mutter eine Jacke aus dem Garderobenschrank nahm und damit ins Wohnzimmer ging. Erleichtert stieß Luzie die Luft aus und huschte die Treppe hinunter. Da die vierte und fünfte Stiege knarrten, schwang sie ein Bein über die Brüstung und rutschte das letzte Stück auf dem Treppengeländer hinunter. Sie öffnete die Haustür und pfiff leise durch die Zähne. Der Hund kam sofort angerannt. Luzie versteckte ihn unter der Decke und schlich mit ihm die Treppe hoch. Bei der vierten und fünften Stufe trat sie auf die äußerste Kante, überlistete das Knarren und kam geräuschlos nach oben.

In ihrem Zimmer tanzte sie durch den Raum. Sie drückte das Tier an ihre Brust, legte ihr Gesicht in sein weiches Fell und küsste seine schwarze Nase. Sie tanzte so glücklich durch den Raum, dass sie das Knarren der Stufen überhörte. Plötzlich klopfte jemand an die Tür. Luzie huschte ins Bett, schubste den Hund darunter und stellte sich schlafend.

In dem Moment, als der weiße Schwanz unter dem Bett verschwand, betrat die Mutter das Zimmer. Sie schloss das Fenster, strich Luzies gelbe Decke glatt und gab ihr einen Kuss. „Gute Nacht, mein Kind. Soll ich dir noch etwas vorlesen?“

Luzie schüttelte den Kopf. „Nöö! Heute nicht, ich bin müde und möchte schlafen.“

„Gut, wenn du zu müde bist, dann schlaf schön, ich lass dir die Tür etwas auf.“

Luzie gähnte. „Nein. Mach sie zu, ich schlaf sofort ein. Gute Nacht, Mama!“

Maria schüttelte den Kopf. Freiwillig war Luzie noch nie ins Bett gegangen. Und jetzt, ohne Licht und Gutenachtgeschichte, das war etwas völlig Neues. Sie warf ihrer Tochter einen fragenden Blick zu, sah, dass ihre Augen schon geschlossen waren, und verließ leise das Zimmer.

Kaum dass die Tür zu war, krabbelte der Hund unter dem Bett hervor und legte sich auf den Bettvorleger. Luzie schlug die Decke zurück, setzte sich auf den Boden, zog den Hund auf ihren Schoß und lachte. „Was bist du für ein kluger Hund! Dich hat der Himmel geschickt, jetzt gehörst du mir, ich geb dich nie mehr her.“

Luzie kraulte seinen Kopf und sah ihm fragend in die Augen. „Du brauchst einen Namen. Wie willst du heißen?“

Der Hund tapste mit den Pfoten auf Luzies Beine, stieß sie immer wieder an, tippelte hin und her und bellte. Luzie blickte besorgt zur Tür und zog den Hund zurück auf ihren Schoß.

„Psst! Nicht so laut, es darf niemand wissen, dass du hier bist. Warum tippelst du denn so herum? Willst du mir was sagen? Oder willst du Tipper heißen?“

Ein qualvolles „Wau, wau“ erklang.

„Heißt das Ja?“

Der Hund schlackerte mit den Ohren und jaulte: „Wau, wau.“

„Nein? Heißt zweimal bellen Nein?“

„Wau“, schnaufte er.

„Prima, jetzt weiß ich Bescheid. Einmal bellen bedeutet Ja, zweimal bellen Nein.“

Der Hund legte seinen Kopf schief und stieß ein zufriedenes „Wau“ aus.

Luzie zog die Stirn kraus. „Aber jetzt hab ich immer noch keinen Namen für dich. Wie soll ich dich nennen?“

Grübelnd streichelte sie sein Fell und nuschelte leise vor sich hin: „Wino ... Mino ... Bino ... Tino ...“ Bei Tino sprang sie auf. „Ich hab’s! Tino ist schön! Wie wäre es mit Tino?“

„Wau“, bellte der Hund.

„Du bist einverstanden?“

„Wau.“

„Prima, dann heißt du Tino. Jetzt müssen wir nur noch einen Schlafplatz für dich finden. Wo willst du schlafen?“

Tino hüpfte auf das Bett und kuschelte sich in Luzies Decke. Es dauerte nicht lange, da lagen beide Kopf an Kopf im Bett. Nach ein paar Minuten sprang der Hund auf, legte sich winselnd vor die Tür und hob sein Bein.

Luzie erschrak. „Oh Gott, du musst pinkeln! Ist es dringend?“

„Wuff, wuff, wuff“, kam es drängend von der Tür.

Luzie verstand: Es war dringend! Dreimal bellen bedeutete Alarm!

Sie spähte in den Flur. Unten wuselte die Mutter mit dem Staublappen herum. Jetzt konnten sie auf keinen Fall runtergehen. Der Hund musste irgendwo anders pinkeln. Aber wo? Sie schaute sich um, vielleicht gab es eine Möglichkeit in ihrem Zimmer? Doch es war nichts da, keine Vase, kein Topf, kein Becken. Nichts, wo Tino Pipi machen konnte. Sie blickte zum Fenster. Außer dem gab es nichts. Es blieb keine andere Wahl: Tino musste aus dem Fenster pinkeln!

Luzie schaute Tino fragend in die Augen. „Verstehst du, was ich sage?“

„Wau.“

„Ich wusste, dass du mich verstehst. Pass auf! Wir können nicht nach draußen, meine Mutter darf dich nicht sehen, du musst aus dem Fenster pinkeln. Ist das okay?“

„Wau.“

„Gut, dann machen wir es so. Ich halte dich an den Vorderpfoten fest, du stellst dich mit den Hinterpfoten draußen auf den Sims und dann machst du Pipi. Kannst du das?“

Tino bellte einmal kurz und sprang auf die Fensterbank. Luzie drehte sein Hinterteil nach draußen, legte einen Arm unter seine Vorderpfoten und hielt mit dem anderen seinen Körper fest. Dann hob Tino sein linkes Bein. Der Strahl traf den Fensterrahmen, spritzte Luzie ins Gesicht und floss innen auf die Fensterbank. Luzie zog Tino rasch zur Seite. Doch nun landete alles auf dem Fußboden. Das Kunststück war völlig danebengegangen.

 

Tino legte sich auf das Lammfell und sah Luzie unschuldig an. Die schüttelte lachend den Kopf, trocknete mit dem T-Shirt die Pfütze auf und schlich ins Badezimmer. Sie warf das Hemd in die Schmutzwäsche, wusch sich Hände und Gesicht und plumpste anschließend erleichtert auf das Bett. Tino sprang auf ihren Rücken und tollte mit ihr herum. Plötzlich bellte er Alarm und huschte unter das Bett. Kurz darauf öffnete die Mutter die Tür. Sie hatte komische Geräusche gehört und wollte nachsehen, ob alles in Ordnung war.

„Was geisterst du hier herum, kannst du nicht schlafen?“

„Dooch“, schwindelte Luzie. „Ich hatte Durst und hab Wasser getrunken.“

Maria blickte verwundert zum Fenster. „Weshalb steht das Fenster auf. Ist dir nicht gut?“

„Es war so heiß, ich hab etwas Luft reingelassen.“

Maria stellte das Fenster auf Kipp und strich mit der Hand über die Fensterbank. „Hier ist ja alles nass. Hast du Wasser verschüttet?“

„Ein wenig, das meiste hab ich aufgewischt.“

„Ach, hier ist noch alles nass. Ich hol mal einen Putzlappen.“ Die Mutter holte Wasser und machte alles sauber. Anschließend deckte sie Luzie bis zum Kinn zu. „Jetzt schlaf schön, gute Nacht.“

Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, sprang Tino ins Bett. Luzie drückte ihr Gesicht in sein Fell und kicherte: „Mein kluger, lieber Hund, du darfst bei mir schlafen und morgen gehen wir zu Max. Der wird staunen!“