Buch lesen: «Monopoly»
Giovanni Orelli, geboren am 30. Oktober 1928 in Bedretto, studierte in Zürich und Mailand und war Lehrer in Lugano. Seine erste Erzählung «L'anno della valanga» machte ihn schnell bekannt. Es folgten verschiedene Romane und Gedichtbände. Auf Deutsch sind im Limmat Verlag erschienen: «Der lange Winter», «Walaceks Traum» sowie der zweisprachige Gedichtband «Vom schönen Horizont / E mentre a Belo Horizonte ...». Heute lebt Giovanni Orelli in Lugano.
«Giovanni Orelli gehört gewiss zu den kühnsten, doch auch zu den heitersten Poeten dieses Landes. Ärmer wäre die italienische Literatur und wären die Literaturen der Schweiz ohne die melancholische Anarchie seiner Gedichte und seiner Prosa.» Neue Zürcher Zeitung
GIOVANNI ORELLI
MONOPOLY
ROMAN
Aus dem Italienischen von Elke Büsser-Schwenn
DAS MANUSKRIPT VON LAUSANNE
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Der Rat der Fakultät hat mir den dankenswerten Auftrag erteilt, den Nachlass des uns so teuren Professors Cornelius Agrippa zu ordnen. Er, der vor kurzem von uns gegangen ist, war Ordinarius für Geschichte der Magie an der Universität Lausanne.
Gewiss war ich als sein bescheidener Assistent hinlänglich vertraut mit Professor Agrippa, der mir in der leider all zu kurzen Zeit meiner Tätigkeit an der Universität Lausanne doch bald erlaubt hatte, ihn Cornelius zu nennen. Ich muss aber von vornherein gestehen, dass ich überrascht bin: In seinen Schriften konnte ich nur wenig, bedauernswert wenig entdecken, das als Ergebnis ernster wissenschaftlicher Forschung bezeichnet werden könnte. Ich fand einen Stoss abgenützte Zettel mit Notizen zu seinen Vorlesungen über Cyprian von Antiochien: über die glückliche Verbindung und Verflechtung von dessen Lehren mit denen des Okzidents und der daraus erwachsenen grandiosen Gestalt des Faust, der mit dem Teufel paktiert (behandelt von Marlowe, Calderón und Goethe): ein Thema, das Cornelius Agrippa sein ganzes Leben lang verfolgte; er betrachtete es nicht aus der Distanz des objektiven Forschers, sondern als ein Besessener. Hinzuzufügen sind einige Aufzeichnungen von geringem Interesse über Raimondo Lullo und die Geschichte der Magie von Thorndike. In vier 182 mal 126 Millimeter grossen, karierten Schulheften, deren Seiten fortlaufend mit römischen Ziffern nummeriert sind, fand ich hingegen etwas, das man vielleicht als Chronik oder als Tagebuch bezeichnen könnte und neben dessen Titel – «Das Monopoly-Spiel» – sehr deutlich ein Untertitel zu lesen steht: «Iter ludicrum per Helvetiam», und eine – am Rande vermerkte – Variante: «Iter iocosum»: Ich habe mich entschlossen, dieses Tagebuch oder diese Chronik abzuschreiben und dem Fakultätsrat zu übersenden, um mich zumindest meines Auftrags mit Anstand zu entledigen.
Aus Gründen wissenschaftlicher Genauigkeit muss ich allerdings festhalten, dass der gewöhnlich klar verständliche Text durch zahlreiche Streichungen und radierte Stellen in zwei Fällen Rätsel aufgibt. Im Kapitel «Basel» findet sich eine Erklärung dafür – wie man an gegebener Stelle sehen wird. Doch liegt der Fall ganz anders, sobald man auf den Namen Dash stösst. Es ist nicht meine Aufgabe, den rätselhaften Tod des Albin Dash und anderer Finanzgrössen zu untersuchen. Um dem Leser behilflich zu sein, könnte man vielleicht darauf hinweisen, dass auch Agrippa im Kapitel «Lausanne» gewisse merkwürdige Andeutungen macht. Hier sei nur vorweggenommen, dass Dash damals im Begriff war, zur bedeutendsten Persönlichkeit der Hochfinanz unseres Landes aufzusteigen, wobei er seinem erbitterten Gegner Helmut Crunch – der bei seinen kulturellen Tätigkeiten und in gewissen «public relations» von Cornelius Agrippa unterstützt wurde – um eine Nasenlänge voraus war – wenn es erlaubt ist, sich in diesen Dingen sportlicher Ausdrücke zu bedienen.
Im übrigen habe ich mich begnügt, die Interpunktion in Ordnung zu bringen, die von Professor Agrippa in geradezu altertümlicher Weise vernachlässigt wurde. Ich habe es jedoch sorgfältig vermieden, am Inhalt des Textes irgend etwas zu verändern, selbst wenn der Professor dabei nicht immer eine gute Figur machen wird. Er war in seinem Wesen voller Widersprüche, wenn ich so sagen darf; das trifft sich ja häufig bei Menschen, die gezwungen sind, ihr Leben lang im Dienst der Mächtigen zu stehen, in einem Land der «Gleichen», wie es heisst, wo aber jedermann das «Spiel der Liberalen» mitzuspielen hat, sonst wird es ihm schwerlich gelingen, in einer Villa zu leben, «deren Tor von einem Wachhund gesichert ist», wie Macchiavelli sich ausdrückt.
Agrippa trägt eine Maske – doch er lässt sich herbei, sein geheimes Ich in diesen Tagebuchblättern zu enthüllen (wie es die Besiegten oft zu tun pflegen). Das Ergebnis ist eine Mischung von Liebedienerei, Begierde, Anarchie, vagem Liberalismus und Opportunismus, wie es oft bei Menschen in Erscheinung tritt, die aus der Gosse kommen und mühselig bis zu den mittleren Ästen des Baumes emporgeklettert sind, um sich einen Platz an der Sonne zu sichern.
Doch Cornelius Agrippa lebt nicht mehr, und selbst wenn er es wollte, wäre er nicht mehr in der Lage, seinem Leser die Hand zu reichen, um gemeinsam mit ihm eine Reise anzutreten, die zuweilen in ein Labyrinth führt.
Was mich betrifft, so betone ich noch einmal: es liegt mir an unbedingter Manuskripttreue, und ich möchte der mahnenden Worte unseres Autors gedenken – dem ich jetzt das Wort überlasse.
Er pflegte den Vers eines antiken Schriftstellers zu zitieren:
O Qual der Feder, mit der man betrügt;
Schmerz ist das Brot, von dem man sich nährt.
Verwesung, Würmer, Knochen, gloria mundi.
Verwesung, Asche, Gestank, Knochen und Würmer,
Das ist dein Ruhm, das ist der Wahnsinn der Liebe.
G. O.
... Warum kann sich jeder Tyrann eurer Fäuste bedienen, wenn ihn nach Gütern und Macht anderer Völker gelüstet? ...
Tommaso Campanella
Aus dem Sonett «An die Schweizer und Graubündner»
WIE MAN MONOPOLY SPIELT
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Um Monopoly zu spielen, muss man mindestens zu zweit sein. Doch hat auch dieses Spiel seine Regeln und seine Ausnahmen. Man könnte nach dem Frühstück das Spiel vor sich auf den Tisch legen und anfangen, allein zu spielen, indem man die verschiedenen Rollen in seiner eigenen Person vereinigt: man ist gleichzeitig der Bankhalter, der verwegene Spieler, der bedachtsame Spieler, der x, y, z. Man könnte die Züge jedes einzelnen Spielers selber lenken und auf diese Weise Glück, Krise und Umsturz bestimmen.
Der Spielleiter kann den Spieler x verwöhnen, kann ihm zu seinem unerhörten Erfolg gratulieren, dagegen kann er den Spieler y bis zum letzten Rappen ausquetschen und ihn dann seinem Schicksal überlassen. Doch erst wenn man mit anderen Personen spielt, gewinnt das Spiel seinen wahren Reiz, erst dann ist es gerecht und billig – und es tut wohl. Wenn es wahr ist, dass Gott, der Schöpfer, sich in souveränem Gleichmut die Nägel putzte und dann sprach, «ES WERDE», so sollte man sich auch fragen, warum Gott am ersten Schöpfungstag überhaupt beschlossen hat, die Welt – und dann den Menschen – zu erschaffen. Was war vor dem ersten «ES WERDE»? Eine graue Ewigkeit? Ein Gott der Einsamkeit? Lichtjahre der Langeweile?
Gott hatte sicher seine guten Gründe, den Menschen zu erfinden, aber wer die ganze Schöpfung für einen Irrtum hält, hat wohl nicht ganz unrecht.
Das gleiche gilt für die Bank und für das Spiel Monopoly: welchen Reiz könnte es noch haben, wenn nicht mehrere Spieler daran beteiligt wären? Darum ist es zweckmässig, ja geradezu notwendig, einen Partner zu haben. In diesem Spiel braucht er keinen Namen. Für die Bank ist er nur eine Zahl, ein Nummernkonto.
Hauptperson ist das Geld. Es klirrt vergnüglich am Kassenschalter, auf dem überall reichlich vorhandenen Marmor. Kein Spieler wird also beim Namen genannt, und auch im Spiel bleibt unsere Bank einem ihrer heiligsten Prinzipien treu: der Geheimhaltung. Der Spieler hat natürlich die Möglichkeit, seine privaten Notizen über Gewinn und Verlust zu machen, genauso wie ich selber es hier tue.
Ich bin Cornelius Agrippa, und ich befasse mich mit Public Relations für einen der bedeutendsten Bankiers unseres Landes, Helmut Crunch. Ich komme aus einer Bauernfamilie, doch gehöre ich heute zu den wenigen, die in massgeblichen Gesellschaftskreisen Beachtung finden. Ich bin geboren und aufgewachsen in einer dem Namen nach liberalen Gesellschaft, die aber in Tat und Wahrheit konservativ ist und in der die Besetzung der leitenden Posten durch Parthenogenese geregelt ist, wobei diese Selbstreproduktion nach strengsten Auswahlkriterien vor sich geht, die zu Anfang in der Schule, danach in der Armee und auf anderen Gebieten wirksam werden.
Doch um das Gesicht einer demokratischen Gesellschaft vor sich und vor anderen zu wahren, um allgemein überzeugend zu wirken, gewährt man einer bescheidenen Anzahl von mittellosen, doch hinreichend intelligenten Leuten das Privileg, an den Brüsten der Wissenschaft zu saugen, an der Alma Mater, an unseren ausgezeichneten Universitäten zu studieren. Dort findet man darum nicht selten die Söhne von Bauern, Maurern und Schmieden, die mutig und ihres ehrenvollen Auftrags bewusst ihre Studien betreiben. Sie werden unterstützt und schliesslich in massgebliche Kreise aufgenommen, wo man sich ihres Eifers, ihrer respektvollen Dankbarkeit (wieviel Schweiss hat dieser Aufstieg gekostet!) zu bedienen weiss, um die Bindung zur Klasse der Kundschaft, zu den Klienten, im klassenlosen Abstimmungsritus neu zu festigen. Im vierten Studienjahr hat es mich auf die fantastischen Wege der Magie verschlagen. Das ist kein totes Gleis. Doch kehren wir zu den Namen zurück: Die Namen der anderen Spieler werden aus verständlichen Gründen verschwiegen, nicht aber die Namen der Männer, die – wie man so sagt – die Fäden in der Hand halten.
Meine Notizen werden also, während die Würfel rollen, bestimmte Persönlichkeiten beim Namen nennen: Bankdirektoren, Finanzleute, Grundbesitzer, Spekulanten, Versicherungsunternehmer – und auch andere, weniger wichtige Leute. Die bedeutendsten sind jedenfalls Helmut Crunch, mein Chef, Walter Krachnuss, Maximilian Galak, Jean-Marie Pralines, Rudolf (Rudi) Toblerone.
Es liegt in der Natur des Monopoly-Spiels, die Wirklichkeit zu verzerren. Da gibt es keine Landschaften, nicht einmal unfruchtbare Landstriche, man trifft weder auf Dörfer noch auf Vorstädte oder armselige Bergtäler. Jeder Staat wird durch vier Streifen dargestellt, die die Seiten eines Quadrates bilden. Jeder Streifen setzt sich aus zehn Feldern zusammen, und jedes Feld trägt den Namen eines charakteristischen Platzes oder einer bekannten Strasse einer Stadt. In der nationalen Fassung des Spiels ist Zürich daher den Städten Mailand, Paris, Frankfurt, New York gleichgestellt. Monopoly ist ein multinationales Spiel.
Es ist meine Pflicht, vor dem ersten Würfeln darauf hinzuweisen, dass schon zu Beginn des Spiels eine empfindliche Störung eintrat, und zwar durch den geheimnisvollen, noch ungeklärten Tod von Albin Dash jr., der auf dem Wege war, zur wichtigsten Finanzautorität des Landes aufzusteigen.
Dash ist über die Felsplatten eines steilen Wildbaches hinabgestürzt, der sich in Kaskaden bis zum Talgrund ergiesst. Dieser an sich schon mysteriöse Tod wird noch geheimnisvoller durch einige Ereignisse, die in der Geschichte unseres Landes einzig dastehen. Da sind drei Tage nach dem Tode von Dash – der am 26. September, dem Fest der Heiligen Cyprian und Justine, eintrat – in Olten, Montreux und Rapperswil sehr merkwürdige Dinge geschehen:
In Olten hat jemand um sechs Uhr morgens einen dumpfen Fall auf der Strasse gehört. Es hätte ein herabfallender Ast sein können; in der Nacht vorher herrschte ein gewaltiger Föhnsturm.
Es war jedoch kein Baumast, sondern ein schwarzgekleideter Mann mit neuen, schwarzen Schuhen. Wieso kauft man sich einen Tag vor seinem Tod neue Schuhe?
Es war ein Bankdirektor, ein sehr bekannter Mann aus Olten. Am selben Tag um acht Uhr morgens entdeckte in Montreux eine Putzfrau im Hause des Vizedirektors der dortigen Niederlassung die Leiche des Hausherrn. Er sass im Sessel, lässig ausgestreckt wie einer jener Schwachköpfe, die im Korbstuhl unter der sengenden Sonne dösen. Die Pistole war zu Boden gefallen.
Und am Abend desselben Tages sah ein Fischer, der am Ufer des Zürichsees in der Nähe von Rapperswil langsam dahinruderte, einen Schatten im Schilf liegen. Als er mit dem Boot näher heranfuhr, gab es keinen Zweifel mehr: ein schwarzgekleideter Mann lag auf dem Grunde des Sees, der hier nur etwa drei Meter tief ist. Das Gesicht lag im Schlamm. Die Identifikation machte keine Schwierigkeiten, und man kam zum längst gefürchteten Ergebnis: es war einer der bekanntesten Geschäftsleute der Bahnhofstrasse. All das geschah, während jeder normale Bürger seiner Arbeit nachging, während die Züge mit gewohnter Pünktlichkeit am Hauptbahnhof einliefen, während niemand an so etwas wie Streik dachte – den man hierzulande ja so gut wie abgeschafft hat –, während sich Arbeit und Freizeit in gewohntem Rhythmus ablösten; ein Virus war in höchste Kreise eingedrungen, ein tödlicher Wirbel erfasste die Exponenten der Hochfinanz.
Die begrüssenswerte Zurückhaltung, das Schweigen der Presse ist erklärlich.
Der Mann auf der Strasse aber fühlte sich doch ein wenig beunruhigt. Die Fälle von Olten, Rapperswil und Montreux blieben ja nicht die einzigen. An einem Morgen kann es passieren, dass man die Wohnungstür öffnet und auf dem Treppenabsatz einen leblosen Körper liegen sieht – einen Bankprokuristen –, doch passiert das nur selten, eigentlich geschah es nur ein einziges Mal, in Rorschach. Oder man sieht einen Mann kopfüber das Treppenhaus hinabstürzen, einen Chefbuchhalter. Viel häufiger sind jedoch die Fälle von Vergiftungen mit Barbituraten oder mit rasch wirkendem Zyankali.
Schliesslich verfielen die Zeitungen auf die merkwürdigsten Beschönigungen, Metaphern, Wortmalereien; wie sollte man diese immer weiter um sich greifenden Erscheinungen von weitreichender Bedeutung erklären! Es gibt viertausend Banken im Lande; es ist, als stocherte man in einem Haufen Kuhmist voller Fäulnis und Würmer.
Man sprach von Bankrott, von Unregelmässigkeiten, die bislang nicht geklärt werden konnten, und schliesslich von kolossalen Verlusten. Doch müsse man mit einem Urteil zuwarten, bis sich die Lage beruhigt hätte. Man ist dabei, den Fall zu untersuchen. Strengstens. Die Bank xxx ist geschlossen worden. Hunderte von kleinen Sparern haben ihre Einlagen verloren. Heute hat man sich davon überzeugt, dass eine Tür der Bank y zu einem Anwaltsbüro führt und dass dieses Anwaltsbüro Verbindungen zu einer Treuhandge sellschaft mit Sitz in Liechtenstein hat. Die Treuhandgesellschaft hat sich unvorsichtigerweise in allzu kühne Geschäfte eingelassen und fliegt auf.
Nicht jeder erträgt diese Panikstimmung. Mancher versucht, sich in Sicherheit zu bringen und demissioniert. Mancher besonders Sensible findet keine andere Lösung mehr als den Selbstmord. Anderen hat man nahegelegt, sich zur Verfügung zu halten. Die Schwesterbanken haben beachtliche Summen bereitgestellt, um die Verluste zu decken. Es ist in jedem Fall besser, Skandale zu vermeiden.
Endlich beruft der Generaldirektor der Zentrale die Aktionäre mit eingeschriebenem Expressbrief zu einer ausserordentlichen Generalversammlung ein. Er werde alle Fragen beantworten. Für diese Zusammenkunft mietet man den grossen Ausstellungspavillon im Schmuck aller Kantonsbanner und Städtefahnen. Man scheut das Licht des Tages nicht. Presse und Fernsehen sind geladen.
An den Wänden hängen grosse Tafeln mit grafischen Darstellungen, Zahlen, Prozentsätzen.
Der Generaldirektor spricht hochdeutsch, vermeidet den Zürcher Dialekt. Der Generaldirektor gleicht Arturo Toscanini.
Er spricht länger als zwei Stunden, erlaubt sich keine Zigarette, hat ein Stückchen Watte ins lange Mundstück gesteckt. Nur ein einziges Mal nimmt er die goldgeränderte Brille ab und putzt sie mit seidenem Taschentuch.
Nur ein einziges Mal trinkt er einen Schluck Mineralwasser. Glücklich die Männer, die niemals schwitzen!
Die Hände sind schneeweiss unter den Reflektoren der Fernsehkameras. Merkwürdige Fragen werden gestellt. Man könnte vermuten, dass die Fragen nur von den Neffen und den Schwiegersöhnen des Generaldirektors kommen.
Schon am gleichen Abend können Radio und Fernsehen dem Lande seine Sicherheit zurückgeben.
Als der Generaldirektor die Sitzung schliesst, geben die namhaften Persönlichkeiten aus Bankwesen und Politik, die die Versammlung über direkten Fernsehanschluss verfolgt hatten, ihren Sekretärinnen den Auftrag, herzliche Glückwünsche zu telegrafieren.
Die Seuche ist vorüber. Sie hatte sogar etwas Heilsames – wie alle Seuchen. Mit hartem Besen hat sie unbarmherzig die schwächsten Elemente hinweggefegt und hat den gesunden Geist der Bank gekräftigt. Verjüngt tritt sie aus dieser Prüfung hervor: Erneuerung des Blutes – wie bei den Radrennfahrern am Ende der Saison.
Als der Generaldirektor der Bank sich endlich zu den Seinen zurückzog, hatte er manchen warmen Händedruck zu erwidern. Das Übel war besiegt, das Leben kehrte in die gewohnten Geleise zurück. Auch das Monopoly-Spiel konnte beginnen.
I START
«Die Menschen sind freigeboren, sie leben in Freiheit und besitzen die gleichen Rechte. Soziale Unterschiede gründen sich ausschliesslich auf den Nutzen für das Allgemeinwohl. Lassen wir’s dabei: Diese Freiheit und diese Gleichheit bedeuten ganz einfach, dass alle Menschen grundsätzlich frei sind, ausser in den Fällen, wo sie abhängig sind; auch sind sie gleich in allen Dingen, ausser in den Fällen, wo sie ungleich sind: also eigentlich nie.»
Professor Vilfredo Pareto1 aus Lausanne trieb seinen Sarkasmus so weit, dass er endlich in lautes Gelächter ausbrach, was bei ihm äusserst selten vorkam. Dabei sah er dem Bankdirektor zu, wie er dem Spieler den Würfel überreichte, die Spielmarken, das Blatt mit den Spielregeln, die doch alle von klein auf kennen, und schliesslich – man sollte es nicht für möglich halten – eine beträchtliche Summe für jeden Spieler. Sind wir denn hier im Schlaraffenland? Klärt denn keiner den Professor Pareto darüber auf, dass die Regeln des Monopoly es so bestimmen? Meinetwegen – amüsiert euch nur, schmunzelte der grosse Ökonom. Verstohlen beobachtete er den Direktor der Nationalbank, der als «Starter» den ersten Wurf hatte und schon die schachbrettartig gemusterte Flagge zum Start erhob. Und er murmelte leise die dunklen Worte: «Die sogenannten Oberklassen sind gewöhnlich auch die reichsten.»
Am Anfang war der erste Wurf, und wir waren alle gleich. Der Bankhalter verteilte gelbe Couverts, die für alle Mitspieler die gleiche Summe enthielten. Ein junger Bursche unter der hoch über uns flatternden Fahne zählte bedächtig die Karten. Unsere Aufgabe war es, die empfangenen Gelder in bestmöglicher Weise zu nutzen, in vollem Vertrauen auf unser Glück und auf unsere Begabung, und in der Gewissheit des Fair Play. Ohne Gehässigkeit schauten wir einander an; wir sassen in einer Linie wie die Radrennfahrer vor dem Start, und wir lächelten uns zu, als ob die Fotografen mit ihren Blitzlichtern und die Fernsehleute schon bereitstünden. Der Direktor der Nationalbank, der Starter, blickte uns alle freundlich an.
«Auch du kannst mitmachen!», war auf seiner Stirne zu lesen. «Du kannst aufsteigen, Erfolg haben, Karriere machen, die Zukunft absichern, die anderen überrunden.»
Ein Spruchband über unseren Köpfen sprach es aus: «Wille ist Macht.» Da wurde über Lautsprecher bekanntgegeben, dass der Start um eine halbe Stunde verschoben sei. Der Grund wurde nicht erwähnt. Inzwischen konnte man in der Halle nebenan einen Kurzfilm ansehen, der von der Bankiersvereinigung zur Verfügung gestellt worden war. Er zeigte die Lebensgeschichte eines berühmten jungen Mannes, der vor hundert Jahren gelebt hatte: Albin Dash sen.
Tagtäglich klopfte dieser ärmlich gekleidete junge Mann an eine andere Tür. Einmal öffnete ihm ein Drogist, das andere Mal ein Typograf mit einer Schirmmütze, ein andermal ein Hufschmied mit dem Eisen in der Hand. Alle schüttelten den Kopf und zuckten die Schultern. Die Mutter begriff die Qualen ihres armen Jungen nur zu gut, und sie trocknete sich mit dem Schürzenzipfel die Augen, als sie wieder zum Waschzuber ging. Der Vater war ärgerlich, blätterte unwillig in der Zeitung. Und eines Tages schlenderte der Junge mit den Händen in den Hosentaschen durch die Stadt und geriet vor das Portal einer Bank, als ob der Himmel ihn dorthin geführt hätte. Warum nicht hier? Doch einer der Beamten gab ihm höflich und geduldig zu verstehen, dass es hier keine Arbeit für ihn gebe: Wir befinden uns in der Krise. Sie müssen sich anderswie behelfen.
Man behalf sich anderswie, das hiess, man lief wieder durch die Strassen, woher man gekommen war. Da sah der Junge plötzlich beim Durchqueren eines Innenhofs jener Bank eine Nadel am Boden liegen. Er bückte sich, um sie aufzuheben. Der Bankdirektor aber, der ihn von einem Fenster des ersten Stockwerks aus beobachtet hatte, schickte seinen Privatsekretär zu ihm hinunter: Der junge Mann solle heraufkommen. Und als sie beide oben angekommen waren, sah man den Direktor in seinem Büro auf und ab gehen. Seine neuen, schwarzen Schuhe knarrten. Er sah aus wie Arturo Toscanini. «Du bist ein braver Junge. Ich habe gesehen, wie du dich gebückt hast. Auch ich habe so angefangen. Von jetzt an bist du unser Lehrling.»
Der Film zeigte dann, welch rasche, glänzende Karriere dieser junge Mann in den folgenden Jahren durchlief. Jetzt wurde er von einem anderen Schauspieler dargestellt, einem eleganten, gut aussehenden Mann, und auch dieser ähnelte schliesslich immer mehr Arturo Toscanini. Nur schade, dass man seine Mutter nicht mehr zu sehen bekam. Vielleicht war sie noch am Leben.
Der Junge wurde einer der grössten Bankiers der Welt. Ihm war es zu verdanken, dass man unser Land allenthalben im Ausland respektierte, dass man den Fleiss und die Initiative seiner Bewohner schätzen lernte. Die Bankgesellschaft hat ihre Filialen in (alpuaueiiscu geordneu) Beirut, Bogotá, Buenos Aires, Caracas, Guayaquil, Hongkong, Lima, Mexiko, Panama, Rio de Janeiro, São Paulo, Singapur. Er hat uns seinen in aller Welt berühmten Namen, sein unerhörtes Glück hinterlassen. Er war ein Beispiel höchsten Pflichtbewusstseins.
«Das Leben der grossen Bankiers erinnert oft an das Leben der Heiligen», so äusserte sich eine Dame, als sie die Halle verliess. Uns geht es besser als dem alten Albin Dash (oder schlechter, je nachdem): wir besassen von Anfang an viel mehr als eine Nadel. Und unsere Kinder brauchten sich um ihre Zukunft keine Sorgen zu machen.
In unserem Land erhält jedes neugeborene Kind ein auf seinen Namen ausgestelltes Sparkassenbüchlein. Mit anderen Worten: das ist sein erstes amtliches Dokument, etwa wie der Geburtsschein oder der Taufschein. Und jene erste Nadel ist ein Silbertaler – oder eine Banknote, ein Geschenk der Bank. Niemand kann mehr von sich behaupten, er sei arm zur Welt gekommen. Das Sparbüchlein ist ja etwas viel Gescheiteres als die Sparbüchse vergangener Zeiten oder das tönerne Sparschweinchen, das eines Tages in Trümmer geht, und die Patin beklagt sich bei der Mutter: es sei ein Jammer, wenn man gewissen Leuten Geld schenke. Doch am Ende beruhigte sich auch die Mutter. Man schwieg ein wenig, während man den Zucker in die Kaffeetasse rührte. Wenn das verdammte Sparschweinchen nicht gewesen wäre, wer würde sich heute – nach fünfzig Jahren – noch der Patin erinnern!
Das Sparschwein wird mit Münzen gefüttert, das Sparbüchlein mit Banknoten – jedes Ding zu seiner Zeit –, und die Häupter des Familienclans überweisen in regelmässigen Abständen; der Ritus der Zahlung wird eingehalten. Man ist den Kinderschuhen kaum entwachsen, hat man schon ein Vermögen auf dem Sparbuch. Der von der Bank verkündete Neopositivismus, der von fähigen Fachleuten für Public Relations glaubhaft vertreten wird, pflanzt ein neues Reis auf die alten Stämme der Rousseau, Pestalozzi und Claparède. Man erfährt nicht nur, dass die Erziehung des Menschen durch die Technik des Sparens etwa hundert Jahre vor seiner Geburt beginnt. Man lernt vor allem, dass es überaus wichtig ist, das neugeborene Kind von Anfang an, sobald seine gewaltige Lernfähigkeit sich zeigt, auf die richtige Bahn zu lenken: Sparsamkeit, Vorsorge für die Zukunft, Versicherung gegen die verschiedenartigsten Übel, Freude an gewissenhafter Arbeit, am ehrlichen Wettbewerb, technische Begabung, Fähigkeit zur Neuerung in der industriellen Produktion, Verantwortungsbewusstsein, Ent schei dungssicherheit, Führungskraft, Freude an gewinnbringender Tätigkeit. Alles im Zeichen eines gesunden Prinzips: Wer sich selber hilft, dem hilft Gott.
Durch diese Gedankengänge beflügelt, waren wir nun bereit, den Würfel rollen zu lassen. Ein Bote in kaffeebrauner Nestlé-Livree hatte sich dem Direktor der Nationalbank genähert, doch dieser zog es vor, den Start nicht weiter zu verzögern. Man war ja schon im Bilde, dass man in dieser Depesche allen Tochterfirmen den allzufrühen Tod des Albin Dash mitteilte, der durch einen Unglücksfall ums Leben gekommen war. Über Felsplatten war er abgestürzt, über marmorglatte, in Jahrtausenden abgeschliffene Gesteine – ein Sturz, in dem sich wie in rasendem Rücklauf sein steiler Aufstieg widerspiegelte, seine triumphale Karriere von einem Posten zum anderen, unaufhaltsam nach oben bis hin zum Sessel des ersten stellvertretenden Generaldirektors. Und jetzt dort unten, im sprudelnden Wasser, mit aufgerissenen Augen, ausgestreckten Händen – mit welchen Gedanken? An den höchsten Posten, der sich hoffnungslos in der Ferne verlor? An die Mutter? An den Grossvater Albin Dash Senior, dessen lebensgrosses Porträt wie ein weltlicher Heiliger, streng und gerecht, im Vestibül über der Eingangstür – zwischen einem Rubens und einem Böcklin – aus dem Rahmen blickte? Oder dachte er an die erste Schlittenfahrt mit fünf Jahren in den Winterferien, den Fuhrweg entlang, der das Bergdorf von oben bis unten durchschnitt. An einem Mäuerchen kam der Schlitten plötzlich zum Stehen und versank in den hohen Schneewehen eines Gartens.
Oder dachte er an die Kombination des Panzerschranks, der mit geöffneten Türen im Bachgrund lag und darauf wartete, verschlossen und gesichert zu werden.
Der Direktor der Nationalbank verlas die Trauerbotschaft und bat darum, sich zu einer Schweigeminute zu erheben. Natürlich wusste er, dass man eine Minute sagt, dann aber im Geiste nur bis sieben zählt, sich bedankt und wieder Platz nimmt.
Er beschloss daher, bis zwanzig zu zählen, sodass alle den Eindruck hatten, die schmerzliche Stille dauere mindestens drei Minuten. Daraufhin sprach der Direktor der Nationalbank mit leiser Stimme, nur den zunächst Sitzenden vernehmlich, aus, was man in solcherlei Fällen zu sagen pflegt: das Leben fordere seine Rechte, das Leben gehe weiter.
Ja, es blieb uns nichts anderes übrig, als weiterzuleben: Der Würfel fällt, es gelten die Regeln des Fair Play, zuerst die Frauen, dann die Kinder. Ohne Rücksicht auf jene, denen es – wie Dash – verwehrt war, noch einmal zu würfeln – in Ewigkeit.
1 Anmerkungen siehe Seite 222 ff.