Meiner Seele beraubt

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Meiner Seele beraubt
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Inhalt

Impressum 2

Danksagung … 3

Kapitel 1 4

Kapitel 2 41

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-398-7

ISBN e-book: 978-3-99107-399-4

Lektorat: Birgit Himmüller

Umschlagfoto: Photobac | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Danksagung …

Ich möchte meiner wundervollen Mutter danken, die mir unendlich viel Liebe und den Mut groß zu träumen mitgegeben hat. Und ich danke meinem Bruder und meinen beiden Schwestern dafür, dass sie nie an mir gezweifelt haben, ohne sie wäre dieses Buch niemals möglich gewesen. Ich bin unglaublich stolz, Teil dieser wundervollen Familie zu sein.

Ich möchte aber auch meiner besten Freundin Maria danken, die mich zu einem Teil ihrer Familie gemacht hat und mich in allem unterstützt und gestärkt hat.

Ich danke dir Melanie, dass du mir immer dann, wenn ich mich verloren glaubte, gesagt hast, dass ich eine besondere Gabe habe und an mich glauben soll.

Kapitel 1

Vor vielen Jahren, als ich mental nicht auf der Höhe war, gebrochen von meiner Vergangenheit und in einer unglücklichen Beziehung. Immer der Meinung, ich sei an vielen Geschehnissen alleinig schuld, suchte ich einen Mentaltrainer auf. Abgesehen davon, dass er mir wirklich sehr geholfen hat, fragte er mich: „Was würdest du gerne tun?“. Ich erzählte ihm von der Idee, ein Buch zu schreiben. Dass es um die Gefühle ginge, die alte kranke Menschen haben, wenn sie in ihrer Krankheit gefangen sind und von all den Menschen um sie herum ausschließlich als alt, krank und gebrechlich gesehen werden. Ich wollte von den Schmerzen und den Ängsten schreiben, die diese Menschen manchmal uns Menschen gegenüber äußern. Ich wollte über all die seltenen zauberhaften Momente erzählen, die ich erlebt habe und die es wert sind, erzählt zu werden, die besondere Einblicke geben und uns aus dem Ich-Gefühl in ein Wir-Gefühl versetzen. Der Mentaltrainer hatte dann aber wieder einen Grund, um erforschen zu können, was mich dazu antrieb. Seiner Meinung nach wollte ich dieses Buch nur schreiben, weil ich selbst Ängste in mir hätte und das Gefühl, dass die Menschen um mich herum diese nicht sehen oder wahrnehmen. Ich müsse diese Ängste bekämpfen und so ein Buch sei einfach nur Ausdruck meiner nach Hilfe suchenden Seele. Wissen sie was? Er könnte Recht gehabt haben, vielleicht hatte ich Angst, mein Selbst zu suchen oder sogar Angst, dieses zu finden. Doch nach all dem Lernen und Finden habe ich nach all den Jahren diese Idee nie aufgeben können. Mir wurde immer mehr eines klar. Ich lebe in einer Zeit, in der Selbstfindung in aller Munde ist. Meditation und Selbsthilfegruppen, Tai Chi, Yoga und was auch immer man zum mentalen Ausgleich praktiziert, es gibt Hunderte Wege zur Lösung. Lösungen, die uns in dieser „neuen Zeit“ unbegrenzt zur Verfügung stehen. Aber was wir alles heute als Lösungen vor uns sehen und immer wieder ausprobieren können, diese Wege gab es vor 60, 70 oder sogar 80 Jahren nicht. Diese Generation, die mir immer im Kopf herumschwirrte, hatte keinen Ausweg, keine Perspektive, keine Auszeit. Es zählte nur das Hier und Jetzt, das nackte Überleben, man hatte keine Zeit, sich selbst zu suchen und erst recht keine Zeit, sich zu finden. Die Familie war das einzige, was sie hatten, und oft war Hunger der einzige Gast. Was ist mit diesen Menschen geschehen? Wohin sind ihre Ängste entrückt? Was ist mit ihren verletzten Seelen, wo sind diese hin? Kein Mentaltrainer, der ihnen helfen konnte, keine Selbsthilfegruppe, und glauben Sie nicht, dass man mit irgendeinem Angehörigen darüber gesprochen hat, was einen bewegt. Nein, es war tabu, es wurde totgeschwiegen, weil es zu der Zeit als ungehörig und egoistisch galt, sich Menschen anzuvertrauen. Ängste waren einfach nicht in deren Wortschatz zu finden. Die Worte „Angst“, „Ich“ und „Selbstbewusstsein“ haben wir im Duden der neuen Zeit scheinbar unterstrichen, dick markiertbegleiten sie unsere Zeit.

In einer Zeit, in der jeder von seinen Ängsten und Träumen redet und keiner sich mokiert, wenn man erzählt, dass man einen Psychologen konsultiert, um sich selbst zu finden, scheint es unwirklich zu sein, dass es eine Gesellschaft gibt, die stumm ihr Dasein fristet und schweigt. Aber schweigt sie wirklich oder rebelliert sie nur stumm und sind diese Menschen wirklich stumm? In ihnen steckt im Verborgenen all das, was wir heute frei äußern und tausendfach an uns analysieren und analysieren lassen. Die wichtigste Frage ist: Wo ist die Angst, dieses betäubende Gefühl zu ersticken, bei diesen Menschen geblieben? Oder glauben Sie wirklich, dass diese Menschen die Kunst besaßen, ihre Ängste einfach in Luft auflösen zu können? Glauben Sie das wirklich? Wir wissen von uns selbst, wir können die in uns schlummernde Angst und auch all unsere Gefühle für eine Weile vergraben, aber wir wissen auch, wie uns das belasten kann und schlussendlich kann es uns krank machen, wenn wir alles in uns behalten. Ein Geheimnis, das uns auffrisst, eine Angst, die uns die Luft zum Atmen nimmt. Ja, manchmal hat es uns so belastet, dass wir glaubten, dem Wahnsinn nahe zu sein. Es hat in jedem Fall die Macht, uns zu verändern. Ja, ob wir wollen oder nicht, es hat sogar unser Leben negativ beeinflusst, bis irgendwann das Ventil explodiert ist und wir Hilfe brauchten, kurz bevor es uns umgebracht hat. Nun gibt es einige von Ihnen, die der Meinung sind, ach so schlimm war es schon nicht, damals. Vielleicht haben Sie vergessen, dass die meisten entweder den Krieg als Kinder miterlebt haben oder selbst im Krieg gedient haben. Wenn heute Menschen aus dem Krieg zurückkommen, spricht man von Kriegsneurosen, als wäre es ganz normal, bei unseren alten Menschen neigen wir dazu, sie als alt und schwach zu sehen. Oder wir sehen sie in einer angenehmen Zeit, in der Nahrung im Überfluss, Licht mit einem Klick und Liebe – ja, auch diese – an- und ausgeklickt wird. Vielleicht, weil wir unseren Blick getrübt haben, wir schließen die Augen und sehen unsere Eltern in einer angenehmen Zeit voller Nahrungsmittel im Kühlschrank. Natürlich, denn wir waren ja noch Kinder. Wir haben nur diese meist angenehme Zeit vor Augen, woher sollen wir wissen was davor war, wenn darüber nie gesprochen wurde. Und so haben wir alles als selbstverständlich und angenehm gesehen, wir sahen einen langsam alternden Menschen, der nun alt ist und unsere Hilfe braucht. Diese Generationen haben Extreme erlebt, die es vielleicht nie wieder geben wird. Extreme wie Krieg, Hunger, Aufschwung, Fernsehen, Überfluss an Nahrung und heute Sex und Gewalt, die freizügig im Fernsehen zu begaffen sind. Glauben Sie, das ist alles spurlos an ihnen vorbei gegangen, nur weil sie still waren und stumm gealtert sind?

Ich gewähre Ihnen heute einen besonderen Einblick. Schauen Sie, was sich für Bilder auftun, wenn sich das Bewusstsein nicht mehr gänzlich verstecken kann und so manche Fassade sprichwörtlich bröckelt.

Ich erzähle Ihnen Unglaubliches, Sie erhalten einen Einblick in das Leben wertvoller Menschen. Menschen, die wir gar nicht sehen, obwohl wir sie lieben. Menschen, mit denen wir sprechen, aber sie nicht hören. Seit 25 Jahren arbeite ich mit alten Menschen und ich habe viele sonderbare Dinge erleben dürfen. Dinge, die traurig und lustig waren, aber vor allem Dinge, die zeigen, wie schön der Umgang mit diesen wertvollen Menschen sein kann, weil jeder von ihnen etwas ganz Besonderes, ja sogar Einzigartiges ist. Wissen Sie was das bedeutet? Es bedeutet etwas ganz Wundervolles und Unglaubliches. Nämlich, dass Sie – ja Sie – auch einzigartig und ganz besonders wertvoll sind. Ist das nicht ein tolles Gefühl, wenn einem gesagt wird, du bist wertvoll, etwas ganz Besonderes, du bist einzigartig, genau so wie du bist? Hier geht es um Menschen, die unserer Hilfe bedürfen und vieles mehr, wie Sie bald erkennen werden. So manches Mal werden wir wütend oder ungeduldig und ich weiß, wie es ist, wenn Sie verzweifeln, weil Ihr Gegenüber sehr anstrengend ist oder nervenaufreibend und manches Mal fühlt man seine eigene Kraft schwinden, auch wenn man das ungern zugibt, weil man diesen Menschen liebt. Oder einfach das Gefühl zu haben, Ihr Gegenüber hört nicht zu, oder sogar das verzweifelte Gefühl, Ihr Gegenüber will Ihnen nicht zuhören. Im Gegenteil, es ist ganz anders und es wird Ihnen nicht gefallen. Und auch das Gefühl, gleich zu explodieren, weil die Nerven bis zum Zerreißen gespannt sind, ist mir bekannt. Wenn Ihr Gegenüber, Ihr geliebter Mann oder Vater etwas tut, was sie/er niemals tun würde oder gar etwas, was Ihnen total peinlich ist. Wer ist das, der gerade etwas Unvorstellbares tut und einfach nicht damit aufhören will. Wissen Sie, was die Wahrheit ist? Sie – ja, Sie da – Sie wollen auch nicht hören. Ja, Sie selbst hören nicht zu. Jetzt sagen Sie gleich sich selbst beschützend, das stimmt nicht, ich bin immer da. Ja, da – also anwesend – aber da sein und wirklich zuhören macht den kleinen Unterschied, der so manches Mal zwischen Liebe und Verzweiflung entscheidet. Hierzu möchte ich Ihnen ein Ihnen vielleicht bekanntes Märchen von den Gebrüdern Grimm erzählen: „Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor und deswegen musste sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen und Sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt nach dem Tisch und die Augen wurden ihm nass. … Wie sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. „Was machst du da?“, fragte der Vater. „Ich mache ein Tröglein“, antwortete das Kind, „daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.“. Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an. Fingen endlich an zu weinen, holten also fort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen. Sie sagten auch nichts, wenn er ein wenig von seinem Essen verschüttete.“

 

Lassen Sie diese Geschichte ein wenig auf sich wirken. Lesen Sie nicht gleich im Sturzflug weiter, fühlen Sie sie in sich. Fragen Sie sich was ruft diese Geschichte in Ihnen für ein Gefühl hervor und vielleicht lesen Sie das Märchen noch einmal durch. Mich hat dieses Märchen als Kind so berührt, dass es mir all die vielen Jahre nie aus dem Sinn kam und immer wieder in den Sinn kommt, wenn ich mich umschaue. Ich will nicht lügen oder überheblich sein, nein, so manches Mal geht es mir wie der Frau und dem Mann, dass mich ein Ekelgefühl überkommt. So manches Mal fühlt man sich, seien wir doch mal ehrlich, genau so wie dieser Mann und diese Frau. Es ist schon manchmal ekelig, wenn das Essen aus dem Mund und auf den Tisch oder in den Teller läuft. Oder wenn ein alter Mensch sogar Essen auf seine Kleidung spuckt oder seine Zähne aus dem Mund nimmt und diese in seinen Teller legt. Oder was meinen Sie? Ich sage Ihnen eine Wahrheit, solange man nur zuschaut, ist es ekelig, aber wenn man selbst derjenige ist, der da kleckert und spuckt, wenn Sie es selbst sind? Wie ist es dann? Na? … Da haben wir’s! So manch einer von Ihnen hat sich jetzt ertappt gefühlt beim Gedanken an den kleinen Enkel denkt, der einfach – frei wie Kinder eben sind – sagt, was er denkt. Kinder lernen von uns Erwachsenen, aber es darf auch mal anders herum sein und wir lernen von dem Spiegel, der uns manchmal von unseren Kindern vorgehalten wird. Darin spiegelt sich das was wir ihnen vorleben. Dieser Enkel hat etwas für uns Wunderbares geschafft. Er hat es geschafft, die Perspektive zu ändern. Den Blick für das Wesentliche zurechtgerückt. Den Fokus auf das Wunderbare gerichtet. Dass es einen kleinen Jungen gibt, der uns gerade aufgerüttelt hat. Der uns innerlich schüttelt und sagt, ich liebe euch, ich will nicht, dass ihr auf dem Boden und versteckt hinter dem Ofen sitzen müsst. Nun endlich hat sich die Perspektive geändert und wir holen den alten Menschen doch an den Tisch und können seltsamerweise sogar die Tatsache, dass er immer noch kleckert und spuckt, einfach so ignorieren. Es braucht sich also nur die Perspektive zu ändern und was uns maßlos gestört hat, ist nun akzeptabel, ja sogar gar nicht mal so schlimm. Die Perspektive ändern, das ist es was aus einem unangenehmen Gefühl, ja sogar Angst, ein wohlig warmes und liebevolles Gefühl zaubert. Und glauben Sie mir, diese liebevollen warmen Gefühle sind es, die wir Menschen brauchen und zwar alle, ausnahmslos alle. Ich möchte Ihre Perspektive noch vertiefen. Ihnen zeigen, was für Ängste und Gefühle in diesen unseren geliebten Menschen, die wir so gut zu kennen glauben, stecken und doch sind sie uns fremd. Dass diese erschreckenden Diagnosen wie Schlaganfall, Alzheimer, Demenz (mit all ihren Facetten) meist negative, aber auch sehr schöne Begebenheiten hervorzaubern können, worüber Sie manches Mal lachen werden, aber auch manches Mal weinen. Ich bitte Sie nie dabei zu vergessen, es sind vielleicht Ihre Mutter, Ihr Vater oder vielleicht auch Ihr Partner und nicht zu vergessen vielleicht irgendwann Sie selbst … Dieser alte Mensch aus Ihrer Vergangenheit ist da, immer noch irgendwo, schlummert in dieser Seele das alte Ich. Gehen Sie respektvoll mit diesen Geschichten um.

Ich schreibe dieses Buch auf gar keinen Fall, um Sie zu amüsieren oder um gar witzig zu wirken. Nein, ich erzähle Ihnen von all diesen wunderbaren Menschen, damit Sie endlich Ihr Gegenüber erkennen und wirklich und wahrhaftig sehen. Vor allem nicht nur sehen, was Sie sehen wollen, denn das ist eine Eigenschaft, die uns Menschen eigen ist, zu sehen, was wir wollen. Nein, denn es geht mal nicht um Sie. Also machen Sie Ihre Augen auf und lassen Sie sich auf eine Reise mitnehmen. Wenn Sie am Ende dieses Buches ab und an versuchen, die Seele Ihres geliebten Menschen zu erblicken und es so manches Mal auch schaffen, dann, ja dann, habe ich das erreicht, was ich erreichen wollte, Ihnen die Augen zu öffnen und aus Ihnen einen Sehenden zu machen. Erst dann sind Sie nicht mehr ein von Mitleid erfüllter Angehöriger und Sie sind Ihrem Lieben gegenüber kein entrückter Mensch, der aus Pflichtgefühl anwesend ist, sondern für einen winzigen Moment Eins mit ihm. Ein sehender Angehöriger oder Pflegender zu sein, ist in meinen Augen und nach meiner Erfahrung mehr wert, als ein liebender Angehöriger zu sein. Denn etwas spüren diese Menschen immer, Mitleid. Dieses Wort Mitleid ist so grausam und verletzend, es ist den meisten Menschen nicht bewusst, aber manchmal äußern alte Menschen „es wäre besser, tot zu sein, als in das Gesicht deines Kindes zu blicken, das von Mitleid erfüllt ist.“ Denn was leicht vergessen wird, ist, dass dieser Mensch viel für die Gesellschaft gegeben hat, sodass er das Recht hat, ja sogar das Privileg, nicht nur Liebe zu bekommen, denn dieses sollte selbstverständlich sein, sondern gesehen und gefühlt zu werden, und zwar so, wie er heute ist, aber auch so wie er war. Die Kunst ist, das Gefühl zu entwickeln beides gleichsam zu fühlen. Was war und was ist und dieses Gefühl in ein schönes neues Gefühl umzuwandeln. In ein ganz neues Gefühl. Das Gefühl, ein Sehender zu sein, sehend für nur einige kurze magische Augenblicke. Nun los, dafür sollten wir Sie erst zu einem Sehenden machen. Also schauen wir, ob Sie für diese wirklich schwere Reise bereit sind. Es sei noch mal gesagt, es geht hier nicht um Erfindung oder Fantasie, auch wenn Sie beide Begriffe manches Mal gerne gebrauchen wollen, um sich selbst zu verstecken. Nein, es geht darum, den Respekt in die richtige Form von Liebe zu verpacken, die Ihr Gegenüber sicherlich verdient. Und die Liebe ist der Schlüssel, der den Zustand der Wahrheit erträglich macht.

Nun betrachten wir mal eine Situation.

Seien wir heute doch mal ausschließlich ehrlich, auch wenn es uns allen wirklich schwerfällt. Schauen wir uns mal an, was sie wirklich sehen. Wir betreten ein Altenheim und sehen oft ein paar alte Menschen am Tisch sitzend, die oft schlafen. Das erste Gefühl das uns da überkommt ist: „Warum tun die Pfleger nichts dagegen, dass die „Alten“ „immer schlafen“? Die müssen sie doch beschäftigen und wachhalten.“ Oder: „Das ist einfach unmöglich, es wird so viel Geld bezahlt und die machen nichts.“ Naaaa, ertappe ich Sie da nicht bei so einem Gedanken? Ich arbeite in einer Einrichtung, in der es viele individuelle, unterschiedliche Betreuungsgruppen gibt, sogar 2-mal am Tag, so etwas ist sehr selten. In diesen Beschäftigungsgruppen wird Sport, Gedächtnistraining und vieles mehr gemacht. Womit genau eben diese oft schlafenden Bewohner motiviert und aktiviert werden. Wenn sie schließlich wieder an ihren gewohnten Sitzplatz kommen, schlafen sie wieder ein. Allerdings ist für manche dieser Menschen so eine Beschäftigung mehr als erschöpfend. Es macht sie nicht nur körperlich müde, sondern vor allem mental. Aus diesem Grund macht man mit bestimmten Bewohnern nur 10 Minuten Aktivierungen. Wie der Name schon sagt, beschäftigen sich die Bewohner dann 10 Minuten mit einem Thema, z. B. mit Kinderspielen von früher. Sie fühlen sich in die Vergangenheit versetzt, erzählen oft mit Freude und Begeisterung, was sie damalsSchönes erlebt haben. Man sieht sie lachen, weil sie sich offensichtlich bildlich an das Erlebte erinnern. Aber damit sind sie geistig ausreichend gefordert. Der Sinn ist sie nicht zu überfordern, aber sie aus ihrer oft kleinen Welt herauszulocken. Denn diese Menschen sind oft still und in sich gekehrt. Würde man sie über einen längeren Zeitraum motivieren, was Angehörige oft wollen, dann wären sie überfordert und ein starkes Gefühl der Erschöpfung würde sich einstellen. Auf Dauer würde sich das Allgemeinbefinden vehement verschlechtern, was ich glaube niemandmöchte. Nun weiter, was sehen wir noch? Wir sehen Menschen, die verkrampft in ihrem Rollstuhl sitzen, den Blick starr in eine Richtung gewandt, vielleicht sogar den Mund leicht geöffnet und nichts sagend. „Oh Gott, so möchte ich nicht enden.“ „Hoffentlich sterbe ich vorher am besten im Schlaf.“ Naaa, hab ich Sie wieder ertappt? Oder folgende Situation: Sie sehen einen alten Menschen, der sich vor Ihnen entblößt. „Das ist ja unmöglich, was war das denn früher für ein Mensch?“ Ich schätze: auch ertappt. Aber wissen Sie, mal ganz ehrlich, auch wenn ich mich wiederhole, es geht hier heute nicht um Sie und auch nicht um mich. Ich werden Ihnen am Ende die Frage nochmals stellen: „Wie denken sie jetzt?“ Dann werden Sie hoffentlich einen ganz anderen Einblick erhalten haben und Ihre Gedanken werden vielleicht anders ausgerichtet sein. Wir wollen die Perspektive ändern, weiter nichts. Sie werden solche Menschen mit anderen Augen sehen und vielleicht den offenen Mund und den starren Blick gar nicht mehr wahrnehmen. Sollte ich dieses erreichen, dann habe ich das geschafft, was ich immer wollte. Einen neuen Blickwinkel zu zeigen und das Fenster Ihres Bewusstseins einen kleinen Spalt weit zu öffnen.

Ich erzähle Ihnen kleine Geschichten, die unabhängig voneinander sind und doch werden Sie in jeder etwas lernen und neu begreifen. Seien Sie bereit, Ihren Horizont zu erweitern, denn dieser ist unendlich weit für jeden von uns.

Ich heiße Helmut M. ich bin 94 Jahre alt, in Groningen geboren und habe zwei Kinder, Clara und Sophie, tolle Kinder. Meine Frau ist vor vielen Jahren gestorben, wir waren über 60 Jahre verheiratet. Wir haben sehr schwere Zeiten gemeinsam durchgestanden. Sie war so schön: blonde, lange Haare, ein paar Augen, die mich zum Schmelzen brachten, schlank, aber gut gebaut. Vor allem gut gebaut, das mag ich gerne. Ein geduldiger liebevoller Mensch. Sie hat auf mich gewartet, darauf, dass ich wieder komme aus einem endlos langen Krieg. Ich habe Furchtbares gesehen und kann es nicht vergessen. Ein Krieg, der so grausam war. Bilder, die auf einer Kinoleinwand kaum Platz finden könnten, erstickte abgestumpfte Gefühle, die man nicht beschreiben kann und, glauben Sie mir, nicht beschreiben mag. Ich sehe diese Bilder immer und immer wieder – so, als wäre es heute. Jeden Tag ein neues altes Heute. Ich sehe Grauenvolles … Babys, die vor Hunger starben, Mütter, die tot neben ihren Kindern lagen und wie Ratten über diese liefen und sich ihrer nun ja … und ich mittendrin. Ich habe Höllenqualen durchgestanden, zuletzt in Russland in der Gefangenschaft, Grauenvolles hat mein Auge erblickt, aber meine Seele ist dabei nicht nur einfach zerbrochen. Nein, zerbrechen, zerbrechen wäre gnädig gewesen. Stattdessen lässt man sich tagein, tagaus auf einen Stuhl nieder und ist einfach dem Wahnsinn nahe und fällt in sich zusammen. Nein, ich habe das wertvollste im Krieg verloren, meine Seele. Sie ist in mir verloren gegangen, ich glaube, um ein bisschen zu vergessen, um die Augen zu machen zu können und nicht immer das Grauen vor Augen zu sehen. Um nicht Nacht für Nacht diese Ratten über die Körper dieser Babys laufen zu sehen und einfach machtlos dabei zuzusehen, wie die Welt zugrunde geht. Stück für Stück ist irgendwo in diesem Grauen einfach meine Seele verloren gegangen. Ja, auf dem Wege durch ein furchtbar grauenvolles Labyrinth ist sie abhandengekommen, unauffindbar, einfach fort. Sie ist noch in mir, aber wo? Vielleicht ist es auch gut so, vielleicht ist die zerbrechliche Seele fort, um ja vielleicht … vielleicht. Um zu vergessen, wie ich war, was ich gewesen bin. Wahrscheinlich aber, um nicht Stunde um Stunde neu zerbrechen zu müssen. Es ist das Grauen im Kopf, der Horror der Vergangenheit, ja der Wirklichkeit, der auf meiner Seele schwer lastet. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, was in mir vor geht und ich glaube, wenn Sie ehrlich, ganz ehrlich sind, möchten Sie es gar nicht wissen. Als ich wieder nach Hause kam, war meine Frau für mich da. Sie pflegte mich und vor allem meine Seele gesund. Sie hat mich immer trotz der Schwere ihres Lebens, die Sie all die Jahre alleine nur mit den Kindern ohne mich bewältigen musste, voller Liebe und Sorge angesehen. Denn auch wenn ich aus dem Krieg zurück war, viel helfen konnte ich ihr viele Jahre nicht. Voller Verständnis und aufopfernder Liebe hat sie mich durch viele Albträume begleitet und liebevoll durfte ich in ihren Armen einschlafen, bis sie, ja bis sie einfach von mir ging und starb. Weg, unwiederbringlich fort. Nun zeige ich Ihnen eine Seite von mir, die ich selbst nicht kenne. Sie erhalten Einblick in meine Seele. Darum bitte ich Sie gehen Sie sorgsam damit um, denn meine Seele ist, wenn auch nur ein kläglicher Rest vorhanden ist, zart und zerbrechlich, genau wie ich. Solange meine Frau noch lebte, habe ich die Vergangenheit mit all ihrem Schrecken begraben können. Sie hat meinen Kopf gestreichelt und ich habe die Grauen in den Toren eines ungewollten Bewusstseins in meinem Kopf gut verschlossen halten können. Aber sie ist nicht mehr da. Sie hält mich nicht mehr in der Nacht und all das Grauen schleicht sich in meinem Kopf wieder ein, Nacht für Nacht. Es ebnet sich den Weg aus der Tiefe, aus dem Abgrund wieder in meine Träume zurück. Das eine kommt zurück und das andere verschwindet irgendwo hin. Ich habe langsam angefangen, Dinge zu vergessen, Dinge, die mir wichtig waren. Ich weiß, sie waren wichtig, aber ich weiß nicht mehr, wo sie hin sind und auch nicht, warum sie wichtig waren. Fort in einem Gewirr aus Vergangenheit und Gegenwart ist in meinem Kopf alles konfus, als würde ich die Ordnung in diesem Gewirr nicht mehr herstellen können. So geschah das Unvermeidliche. Als ich irgendwann einmal spazieren war, fand ich den Weg nicht mehr zurück. Ich irrte umher, ich hatte das Gefühl gefangen zu sein, wenn ich ehrlich sein soll, befinde ich mich täglich immer mehr in diesem Knäuel aus Knoten, die sich nicht entwirren lassen. Ich möchte da heraus, aber es gibt keine Hoffnung, keinen Weg hinaus, kein Entwirren. Immer mehr neue Knoten in meinem Geist. So brachten mich meine Kinder in eine Einrichtung, wo ich mit lieben Menschen zusammen bin, aber wer sind die alle? Meine Töchter sind wunderschön wie ihre Mutter. Manchmal, wenn sie vor mir stehen, denke ich für einen kurzen Moment, meine Frau stünde vor mir. Sie sind oft da, aber ich sehe die Traurigkeit in ihren Gesichtern. Doch ich habe nie gelernt, sie zu trösten, das hat meine Liebste getan. Ich kann sie nicht in den Arm nehmen, ich habe es nie gelernt, ich habe nur akzeptieren und vergessen gelernt. Aber meine Liebste, sie hat getröstet und Seelen geheilt. Ich höre noch ihren sanften, zarten Ton und rieche noch ihre Haut. „Hallo, Hallo Hr. M.“! Er wälzt sich auf dem Boden und schreit „rettet die Babys, rettet die Babys, bitte, bitte nicht auch noch mich … Lasst mich doch in Ruhe“. Pflegerin: Es ist wieder so weit, er schlägt mit den Händen um sich und schreit … „Wir geben ihm eine Spritze zur Entspannung, damit er schlafen kann.“ …

 

Ich bleibe eine Weile bei ihm sitzen und streichle seine Hand. Meine wundervolle Frau hat all das Gute in meinem Leben ausgefüllt. Nun bin ich einsam … einsam … Hey du! Wie schaffst du das, du dringst in meinen Kopf und holst da alles raus. Jetzt ist Schluss, ich sage nichts mehr. Seht Euch doch um, es gibt viele von meiner Sorte. Schaut doch in deren Kopf hinein, ich bin müde oder vielleicht schaut ihr mal in euren Kopf hinein. Am liebsten würde ich vergessen, einfach vergessen. Ob in meinem Kopf deshalb alles durcheinander ist, um zu vergessen, damit ich nicht wahnsinnig werde. Damit mein Kopf von dem seelischen Schmerz nicht explodiert? Vielleicht ja, vielleicht bin ich aber einfach nur verrückt … Aber eines weiß ich gewiss, das ist sicher, ich bin ein Fremder in mir. Ich weiß nicht, was mir mehr Angst macht, die Vergangenheit in meinem Kopf oder die Zukunft in meinem verletzten konfusen Geist … „Ohhh … oohh ich werde ganz müde …was geschieht mit mir …“ „Wo bist du?“ … nimm mich doch in den Arm, meine Geliebte … Er spricht wieder von seiner Frau, er muss sie sehr geliebt haben.

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