Mai-Schnee

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SAURE KIRSCHEN

Jahrgang 1959, ich habe Ende Juni Geburtstag, um genau zu sein am achtundzwanzigsten. Beginn der Reifezeit unserer Kirschen. Dreizehn glückliche Jahre lebte ich auf dem gesegneten Fleckchen Erde, das ich Heimat nennen darf. Viele unvergessene Tage mit Sonja, in einer Freundschaft, wie sie nur in der Einsamkeit des Landlebens erlebt werden kann. Es war kein anderer da, mit dem wir unsere Freundschaft teilen mussten. Wir beide erlebten gemeinsam unsere Kindertage, unsere Schultage, Geburtstage, Sonntage, Sommer- und Wintertage… Einfach irgendwie fast jeden Tag.

Ich wäre gerne so schön gewesen wie sie. Standen wir beide nebeneinander, war ich zwar anwesend, aber gesehen hat man nur sie. „Bisch du aber a saubers Mädle, du siehsch ja aus wie’s Schneewittchen“. Und so hieß sie dann auch bald „Schneewittchen“. Das stach schon manchmal ein bisschen in der Magengegend, aber doch nur kurz, dann überwog der Stolz, dass ich so eine schöne Freundin hatte.

Meine Gedanken lassen sich nicht mehr aufhalten. Ich möchte sie steuern in eine andere, eine harmlose Richtung, aber sie kommen dem Grauen am Tag vor Fronleichnam 1972 immer näher. Sie sind nicht aufzuhalten, genauso wenig wie der Zug, in dem ich sitze und der mich mit unwiderstehlicher Kraft in Richtung Süden bringt. Ich spüre wieder diese aufgedrehte Unruhe in mir, die mich in den letzten drei Jahren immer wieder mehr oder minder panikartig überfallen hat.

Zuerst dachte ich an eine Schilddrüsenüberfunktion. „Aber nein, es ist nichts, es ist nichts Organisches“, sagte der Arzt, „etwas anderes nagt an Ihnen. Was, das müssen Sie herausfinden und abstellen.“

Ich musste nicht suchen, um das zu finden, was mich belastete, was mich mit aller Macht hinunterzog in diese unbezwingbare Finsternis, die sich vor vielen Jahren in irgendeine Ecke meines Körpers zurückgezogen hatte. Bestimmt hat sie dort gelauert, auf den richtigen Moment gewartet, um bei passender Gelegenheit wieder hervorzukriechen.

Was sagte der Doktor noch? Abstellen? Wie denn? Die längst überwundenen Albträume kamen wieder. Erst schleichend, dann heftiger. Die Bilder waren wieder da. Bilder, die ich glaubte, überwunden und im Griff zu haben. Sie ließen sich nicht mehr zurückdrängen und ich spürte: „Es ist Zeit! Du musst nach Hause, du musst dich den Orten stellen, die du, krank an Leib und Seele, vor vierzig Jahren verlassen hast, verlassen musstest. Ruhig gestellt von den Eltern und dem Doktor Eberwein.“

Viele Jahre später erzählte Mutter immer noch davon, dass ich eines Morgens nicht mehr aufgestanden war. Sie brachten mich dann weg. Weit weg. Nach Berlin. Für mich fühlte sich die große, fremde Stadt an wie ein anderes Land. Ich kam zu einer Frau, die Tante Elvira hieß. Ein Name, der zuvor ab und zu bei Unterhaltungen innerhalb der Verwandtschaft gefallen war. Das war jemand, der mich bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht interessiert hatte. Eine Kusine meiner Mutter, der das Schicksal rechtzeitig den richtigen Mann geschickt hatte. Herbert hieß der, ein sogenannter ‚Stromer‘, der mit seinem Arbeitstrupp quer durch Deutschland unterwegs war. Diese Männer mussten draußen auf dem Land die Stromversorgung sichern. In meiner Erinnerung kletterten die Männer mit ihren Steigbügeln auf die hohen Strommasten, legten neue Leitungen, so dass jeder Haushalt an das öffentliche Stromnetz angeschlossen werden konnte.

Ob Herbert anfangs ihr Traummann war, weiß keiner. Auf jeden Fall wurde später erzählt, dass Tante Elvira keinen größeren Wunsch gehabt hatte, als vom ‚Berg‘ wegzukommen. Egal wie! Landwirtschaft war das größte Übel, das es für sie gab. Dazu die strengen Eltern, mit denen sie bis zu deren Tod nicht zurechtkam. Dies ließ sie ihren Entschluss „Nur weg hier und zwar so schnell wie möglich!“ von heute auf morgen in die Tat umsetzen. Herbert war sozusagen der ersehnte Retter, der zur richtigen Zeit aufgetaucht war.

In all den Jahren danach bekam unsere Mutter ab und zu Briefe von ihrer Kusine Elvira oder Postkarten mit Urlaubsgrüßen von irgendwo. Telefonieren kostete damals richtig Geld, also gab es Telefonate nur bei wichtigsten Anlässen. Die Briefe behielt Mutter stets einige Tage in der Tasche ihrer Kittelschürze. Ich nehme an, dass sie der Nachbarschaft vorgelesen wurden. Post aus Berlin, das war was, damit war man dann selber auch schon mit einem Fuß in der großen, weiten Welt. Dagegen bekam Tante Elvira immer mal wieder Zeitungsausschnitte, die Mutter nach Berlin schickte.

So auch über Neuigkeiten von der schlimmen Tat, die in unserem Heimatort passiert war. Die wurden dann mir und unseren Besuchern regelmäßig vorgelesen und die Tante erklärte später dazu passend, dass darum ‚das Kindchen‘ jetzt bei ihr in Berlin war. „Krank vor Angst ist die Barbara geworden. Weil sie den Kerl ja noch immer nicht geschnappt haben, hat es das Mädchen nicht mehr ausgehalten“, erklärte sie genauestens jedem, der sich nach meiner Herkunft erkundigte.

Auch Jahre später schwang immer noch eine Spur Mitleid in der Stimme von Elvira mit. „Nachdem der Herbert endlich weg war, habe ich sie gerne bei mir aufgenommen. Ich hab sowieso recht bald gemerkt, dass der Herbert sein Leben wie früher als lediger Stromer weiterführen wollte. Damit hab ich mich lange genug rumgeplagt!“ An ihrer gelassenen Stimme konnte man erkennen, wie endgültig Tante Elvira mit dem Thema ‚Herbert, der Stromer‘ abgeschlossen hatte. „Gell, Kindchen, es war für dich nicht gerade einfach, vom Dorf weg gleich in die Großstadt Berlin zu ziehen. Aber wir haben es geschafft! Und jetzt ist hier dein Zuhause. Ist doch ein ganz anderes Leben hier. Was hätte sie denn auf dem einsamen Berg schon gehabt? Man sieht ja, was sich dort für Gesindel herumtreibt!“ Wenn Tante Elvira endlich eine Redepause einlegte und mir den Arm um die Schultern legte, musste ich zur Bestätigung nur noch mit dem Kopf nicken und die Tante war zufrieden.

An all das gewöhnte ich mich im Laufe der Jahre. Es schien mir nichts mehr auszumachen, wenn ich von zuhause die neuen Vermutungen und Erkenntnisse der Ermittlungsbeamten mitgeteilt bekam. Nach dem Abitur, das ich mit hervorragenden Noten bestand, fuhr ich zum ersten Mal nach Hause. Fünf Jahre hatte ich bis dahin in Berlin verbracht. Mein Bruder Martin, der älteste von uns Geschwistern, feierte seine Hochzeit, und ich war zusammen mit Tante Elvira eingeladen. Es war für uns beide eine ganz schön aufregende Zeit, die Wochen vor der Reise in die Heimat. Geschenke mussten besorgt und vor allen Dingen die Kleiderfrage musste gelöst werden.

Es war ein schönes Fest, das wir dann erleben durften, aber beide waren wir auch froh, als der Tag unserer Abreise zurück nach Berlin kam. So recht hatten wir mit den meisten der Hochzeitsgäste nicht wirklich etwas anfangen können. Fremd waren sie mir geworden während der langen Zeit der Trennung. Ihre Themen waren nicht die meinen.

Ansonsten merkte ich sehr wohl, dass dem Thema ‚Sonja‘ ausgewichen wurde. Es war für alle gewiss nicht einfach, mir hier zu begegnen. War ich doch als deren beste Freundin die lebende Erinnerung an die grausame Tat. Unter der Oberfläche war das Geschehene noch allgegenwärtig. Die Last der Frage „Wer hat das getan?“ drückte noch immer auf ihre Schultern. Sie litten, die Menschen auf dem Berg, jeder für sich, auf seine Weise, und keiner konnte offen darüber reden.

Weitere Jahre in Berlin folgten, in denen ich mich voll und ganz meinem Jura-Studium widmete, das ich schließlich erfolgreich abschloss. Ohne Mühe bekam ich eine Stelle als selbständig arbeitende Anwältin in einem Berliner Anwaltsbüro. Endlich war genug Geld da für eine eigene Wohnung, ein Auto und Urlaubsreisen mit Freunden in alle Welt. Endlich konnte ich der Mutter mitteilen: „Du musst mich nicht mehr unterstützen, brauchst kein Geld mehr zu schicken an Tante Elvira, für das Wohnen und Essen bei ihr.“

An jedem Monatsanfang, immer ganz pünktlich, war die abgemachte Summe angekommen. Taschengeld für mich, Unterhaltsgeld für Tante Elvira. Ich konnte mir vorstellen, wie schwer es für Mutter gewesen sein musste, für mich über so viele Jahre regelmäßig Geld nach Berlin zu schicken. Doch jetzt ging es mir finanziell richtig gut! Ich hatte keine Sorgen, war mit meinem Leben mehr als zufrieden. Bis auf einmal, von einem Tag auf den anderen, fast von einer Stunde auf die nächste. Nach über vierzig Jahren fing es wieder an. Das tiefe Fallen ins Dunkle, Bodenlose, wo es kein Auffangen gibt.

Im Nachhinein zermarterte ich mir immer wieder den Kopf. Was war der Auslöser gewesen? Was hatte in meinem Kopf, in meinen Gedanken mit einem Klick alles verändert? Was war das, was von mir nicht zu steuern war? Ich war doch ein absoluter Verstandesmensch geworden. Hatte gelernt, was mir guttat oder was ich meiden musste. Nach vier Jahrzehnten! Wo doch alles abgehakt schien. Es war einfach wieder da, aus dem Nichts.

Alle Untersuchungen brachten kein Ergebnis. Der Neurologe bestätigte mir: „Eigentlich alles in Ordnung!“ Es gab nichts, was ein klares Krankheitsbild ergeben hätte. Keine Schilddrüsenerkrankung. Nicht der Kreislauf, der zwar hin und wieder verrücktspielte, aber nicht der Grund sein konnte. Auch die Schlaflosigkeit mit den anstrengenden Albträumen war mit Berufsstress alleine eigentlich nicht zu erklären. „Es ist das Vegetativum. Das ist nicht zu steuern. Mit dem eisernsten Willen nicht! Es ist was in Ihnen, das will heraus! Ihr Körper will es loswerden. Es ist in Ihnen gewachsen, eine Geschwulst aus einer Last, die Sie mit sich herumschleppen. Was es ist, müssen Sie herausfinden!“ Das war die vorläufig letzte Diagnose. „Gehen Sie zu einem Therapeuten, der kann Ihnen helfen“, empfahl mir daher der Hausarzt, der mich und Tante Elvira seit Jahren betreute.

 

Doktor Winkler, ein erfahrener, älterer Psychiater, fand dann auch schnell heraus, an was meine Seele litt. Er überzeugte mich davon, dass sich die Ängste meiner Kindheit, die Trennung von zuhause, das Drama um meine Freundin Sonja und der noch immer unaufgeklärte Mord an ihr wieder gemeldet hatten. An mir nagte die Frage: „Hat sich denn niemand richtig um letzte Aufklärung bemüht?“ Ich merkte sehr bald, dass es vor allem diese Frage war, die mit einer neuen, nie gekannten Wucht über mich hereingebrochen war. „Warum hat mich damals eigentlich keiner richtig befragt? Ich hätte doch was gewusst!“ Es hatte nur einige oberflächliche Fragen der Polizei an mich gegeben: „Kannst du was von dem Tag erzählen?“ Und gleich nachgeschoben: „Sicher net! Du warst ja in der Zeit in der Schule im Dorf unten.“ Aber ich hätte doch was gewusst! Von den Tagen vor der Tat hätte ich erzählen können.

Er nahm sich viel Zeit für mich, der Doktor Winkler, als ich ihn in seiner Praxis besuchte: „Heilung gibt es nur, wenn Sie sich den Geschehnissen endlich stellen! Zudecken hilft nicht! Das Unrecht schreit laut und anklagend bei jeder passenden, vor allem aber unpassenden Gelegenheit unter dem Teppich hervor. Dadurch gibt es auch kein Vergessen! Ein Verbrechen fordert Sühne. Das Opfer verlangt danach. Nur dann ist Ruhe. Für alle!“ Mit ernsten, eindringlichen Worten sprach der Arzt zu mir. Seine Brillengläser blitzten mich bei jeder Bewegung an wie Spiegel. Ich hatte den Eindruck, als leuchte der Doktor mein Innerstes aus und könne in aller Klarheit sehen, was mir fehlte.

„Ich weiß, dass er Recht hat“, war mir sofort klar. „Er hat die richtige Stelle bei mir getroffen. Ich merke jetzt schon: Das ist die beschädigte Saite. Sie muss ausgewechselt werden, damit das Instrument wieder klingen kann! Ich will heim. Will den Ballast loswerden, egal, was auf mich zukommt.“

Ich schließe die Augen, lehne mich in die Polster zurück. Sofort sind unvergessene Bilder da. Ich sehe mich zuhause in der Küche sitzen, wo ich der Mutter bei der Arbeit zuschaue. Heimelig und geschützt fühle ich mich hier bei ihr, keine Ängste haben Macht über mich. Die Mutter macht Teig an dem großen Küchentisch, der mitten im Raum steht. Fasziniert schaue ich den flinken Bewegungen ihrer Hände zu. Kneten, schwungvoll Mehl nachstreuen, kneten, zusammendrücken, wieder kneten. Geübt und sicher sitzt jeder ihrer Handgriffe. Hunderte Male im Leben schon gemacht. Bestimmt ist sie in Gedanken überall, nur nicht beim Teigmachen.

„Nimm das Körbchen und hol Kirschen, saure“, unterbricht sie meine Betrachtungen. „Morgen, kommen die Verwandten vom Dorf herauf, da müssen wir was hinstellen. Bring genug, dann mache ich gleich zwei Kirschkuchen, dann haben wir an beiden Tagen was zum Kaffee.“

Morgen am Sonntag, heißt es für unsere Familie früh aufstehen. Zuerst in den Stall, das Vieh versorgen, dann Frühstück machen, sich selbst schnell sonntäglich herrichten, in die Kirche gehen, gleich wieder nach Hause laufen, Mittagessen kochen, – fünf Leute hatten Hunger – , abwaschen und endlich – frei. Zwei Stunden frei – herrliche Stunden! Sonja und ich – frei für die Obstgärten, frei für die Wiesen, frei für den Wald. Auf Bänkchen sitzen, die Beine baumeln lassen und erzählen. Harmloses, Wichtiges. Sachen, die man nur flüstern durfte, oft mit dem Mund am Ohr der anderen.

Was wir alles machen würden, später, und natürlich wollten wir immer beieinanderbleiben. Das war ja klar! Am besten wir machten auch gemeinsam Hochzeit. Was für ein Aufsehen das in unserem Dorf geben würde. Mit weißen Kleidern und langen Schleiern. Die trugen dann Mädchen mit Blumen im Haar. Wir würden aussehen wie Prinzessinnen. Die Bräutigame wurden zwischen uns stets gerecht verteilt. Einmal ich mit Dieter, dann Sonja mit Günther oder umgekehrt. Uns fielen immer wieder andere Jungs ein, die wir nach Belieben hin und her tauschen konnten.

Ich schlucke, schlucke und schluchze, während ich im Zug sitze, Zeit habe zu denken, und mich meine Gedanken überwältigen. Das gleichmäßige Ratta-ta, Ratta-ta der Räder beruhigt mich wieder und wenn ich genau hinhöre, kann ich sogar Worte heraushören wie: „Ich fahre heim, ich fahre heim, ich fahre heim ...“

Heim! Ich lasse die Erinnerungen zu, wie sie kommen. Wieder bin ich zu Hause in meiner Kindheit! Wie war das noch? Diese Sonntage, die immer so erwartungsvoll anfingen? Um vier Uhr am Nachmittag hieß es, wieder zu Hause sein. Kaffeetisch decken, brav bei den Verwandten sitzen, abräumen, danach mit der Familie den ganzen Hof inspizieren.

„Ja, s’ Vieh steht guat da. Bloß no zwoa Saua? Hent ihr gschlachdet? S’ Heu trocka reibrocht? S’ war jo a Sauwetter, de letschde Däg.“ So in etwa lief die Unterhaltung zwischen dem Besuch und meinen Eltern. „Ja, euer Sach isch ordentlich“, war am Ende das höchste Lob. Die spitzen Kommentare wurden überhört, im Nachhinein im engen Familienkreis aber umso lauter und feindseliger diskutiert!

In bester Stimmung wurde später zum deftigen Abendvesper am Küchentisch Platz genommen. Jedermann langte kräftig zu und genoss die hausgemachten Köstlichkeiten, die Mutter schon am Morgen auf großen Platten zurechtgelegt hatte. Und endlich war es dann auch Zeit für den Heimweg. Ein freundliches Winken auf beiden Seiten und mit behäbigen, festen Schritten machten sich die vom unteren Dorf auf nach Hause. Wenn wir an einer bestimmten Stelle des Hofes standen, konnten wir noch lange sehen, wie sie in den Abend marschierten. Jetzt nur schnell umziehen, melken, Kannen spülen und endlich gehörte der Abend uns.

Wir setzten uns auf die Bank vor dem Haus, mit immer den gleichen Leuten. Sie kamen nach kurzer Zeit aus ihren Häusern, unsere Nachbarn, als hätten sie miteinander eine geheime Verabredung getroffen. Nachbarin Magda und ihr Mann Jakob, der Großbauer Rudolf Hellstern mit seiner Frau Elsa. Jedermann nannte ihn nur den Hektarkönig. Er war der reichste Mann im Ort und wahrscheinlich sogar in der Umgebung. Sein Spruch, der zum geflügelten Wort in der ganzen Gegend geworden war, klingt mir heute noch im Ohr: „Schönheit vergeht, der Hektar besteht!“ Danach war für ihn die Frau ausgesucht worden und so hat er es auch mit seinen Kindern, zwei Söhnen, gemacht. Mit seinem stets breiten, zufriedenen Lächeln lehnte er sich auf der groben Holzbank neben der Haustür zurück, um von Zeit zu Zeit einen tiefen Schluck aus seinem Mostglas zu trinken, das zwischen seinen Füßen auf der Erde stand. Der Hofdreck klebte nach einer Weile an seinem Glas wie Hagelzucker an den Weihnachtsbrötle. Er fuhr immer in gleichmäßigen Abständen mit dem Glasboden über seinen rechten Schenkel. Am Ende der Woche war die Schleifbahn schon von Weitem zu sehen. Sie war ein untrügliches Zeichen, ob die Hose diese Woche gewaschen worden war oder ob seine Frau Elsa gesagt hatte: „Die Hos ziesch nomal an, des duats nomal!“

Später kam noch Sonjas Mutter mit ihrem Mann Vinzenz dazu. Seltener Arthur, den alle nur den Häusler nannten. Arthur war ledig und hatte immer ein wenig andere Gedanken als andere, die er hartnäckig zum Besten gab, auch wenn es keiner hören wollte. „Der mit seinem obergescheiten G’schwätz“, hieß es da oft, „muss dauernd beweisa, dass er auf der Oberschul war.“

Oft hatte Edelgard, Sonjas Mutter, ihre liebe Not mit ihm, ihrem Bruder, wenn der allzu sehr den Hofbauern herauskehrte und ihrem Mann Vinne damit den Tag verdarb. Er wohnte im Anbau am Haupthaus, den er sich als Wohnstätte gerichtet hatte. Jeden Mittag saß er mit der Familie am Tisch und langte kräftig zu. „Wer recht schafft, der hat au Hunger.“ Geschafft hat er fleißig, als Familienknecht und nebenher noch als Waldarbeiter, denn Geld war knapp, man musste schon noch „was dazu macha, sonst langt’s net“. Auf jeden Fall war er der Meinung, dass er ein wichtiges Wörtle mitzureden hatte, denn er hatte schließlich den Traktor gekauft von seinem Waldgeld. Damit war er für die Familie ein unentbehrlicher Mann geworden.

Es war mit der Zeit auf dem Hof zu einem ungeschriebenen Gesetz geworden, dass nicht mal Vinzenz, Sonjas Vater, ihm was zu sagen hatte. Der war doch bloß a „Herramale“, mit seinem wichtigtuerischen Gehabe als Vertreter für Bettwäsche und Vorhänge. „Das ist man nicht, wenn man einen Bauernhof zu Hause hat.“ Sowas dachte nicht allein der Arthur über seinen Schwager. Also wurde er, Arthur, mit der Zeit der heimliche Herr auf dem Hof.

Die Spannungen zwischen den ungleichen Schwägern wurden im Laufe der Zeit für jedermann spürbar. Besonders schlimm war es bei den gemeinsamen Mahlzeiten, wenn die ganze Familie um den großen Tisch in der Küche saß. Dann gab ganz schnell ein Wort das andere. Bestimmend der Arthur, angriffslustig der Vinne. Dann konnte man deutlich sehen, wie Edelgard den Kopf einzog. Ihr Hals wurde förmlich kürzer, die Schultern fielen nach vorn, sie bediente dann noch emsiger, aber ihr Gang wurde schlurfig und müde. Vier Kinder hielten den Atem an und wünschten sich an einen anderen Fleck auf der Erde.

So saß die sonntägliche Hofrunde draußen in der beginnenden Dämmerung, wann immer es das Wetter erlaubte. Das Abendprogramm konnte beginnen. Wir Kinder versuchten stets, uns unsichtbar zu machen, denn was da alles erzählt wurde, ließ uns staunen oder gruseln. Das meiste war für Kinderohren nur bedingt geeignet und verfolgte uns noch lange bis unter die Bettdecke, die man sich ganz fest über den Kopf ziehen musste, wenn die Angst mit ins Zimmer schlüpfte. Je ruhiger wir Kinder waren, desto mehr konnten wir erfahren. Und wir verhielten uns ruhig. Mucksmäuschenstill waren wir! Wenn wir uns weit in den Abendschatten zurückzogen, vergaßen die Erwachsenen, dass wir da waren. Bis es jemandem bei einem besonders heiklen Thema wieder einfiel: „Schwätzet net so Zeugs, die Junge spitzet d’ Ohra!“ Dann war es schlagartig ruhig. Der letzte angefangene Satz stand förmlich in der Abendstille. Wenn uns dann noch energisch mitgeteilt wurde: „Ihr g’höret scho lang ens Bett“, waren wir förmlich nicht mehr zu sehen.

Es gab damals nichts Interessanteres für uns als diesen Dorfklatsch. Manch einer aus dem Flecken wurde von uns Kindern in der nächsten Zeit besonders intensiv angeschaut. Mal scheu, mal nachdenklich. In besonders bedenklichen Fällen starrten wir den Leuten hinterher, mal mit Herzklopfen, mal mit Gekicher. Irgendwann am späten Abend kam der letzte energische Befehl von unserer Mutter: „Jetzt aber ab und glei ens Bett! Morgen isch Schul, dann wollet ihr wieder net aufstehen und ich hab mei liebe Not mit euch!“ Diesem Ton wagte keiner mehr zu widersprechen. Wir drückten uns noch ein bisschen in den Ecken herum, denn jede zusätzliche Minute aufbleiben zählte als Sieg über die Eltern. Spannend und unvergessen waren sie, diese Sonntagabende auf dem Hof mit unseren Nachbarn.

Waschen vor dem Zubettgehen entfiel regelmäßig. Einmal in der Woche richtig abseifen war genug. Am Morgen ein paar Spritzer Wasser ins Gesicht und Zähne putzen, das genügte! Der Zuber mit dem Badewasser, der samstags in der Küche aufgestellt wurde, sah nach den drei Kindern zwar aus wie das Spülwasser nach einem guten Sonntagsessen, fettig und trüb, manchmal sogar mit diversen Stückchen drin, aber wirklich gestört hat sich daran keiner. Wir stiegen, stets überzeugt von unserem sauberen, blanken, neuen Lebensgefühl, aus der Wanne und schlüpften in frische Wäsche. Wohlgemerkt nur am Wochenende. Fand das Badevergnügen zwischendurch statt, musste man bestimmt zum Doktor, aber auch dann war es nicht so wichtig. Der Spruch von unserem alten Hausarzt Dr. Eberwein ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: „Mir ist ein Bauernbub mit Mist zwischen den Zehen lieber als so ein Herrenbübchen aus der Stadt mit seinen Käsfüßen und einem Pilzgewächs dazwischen.“

Das Ratta-ta, Ratta-ta kommt wieder lauter an mein Ohr. Ich habe Durst. Eine Thermosflasche steckt in meinem Rucksack, den ich in der Gepäckschale über meinem Kopf verstaut habe. Nach ein paar tiefen Zügen aus dem abgeschraubten Deckel wird mir wohler. Ich merke, wie mir die Gedankenpause guttut. Seit Stunden sitze ich schon im ICE Berlin – Stuttgart. Meine Gedanken beschäftigen sich so intensiv mit zu Hause, als würde ich über meine Kindheit in einem spannenden Buch lesen. Spannend und belastend! Die Mitreisenden in meinem Abteil habe ich glatt vergessen. Eine ältere Dame, die mit ihren Zeitschriften beschäftigt ist, und eine junge Frau, die unentwegt auf ihrem Smartphone herumtippt und zwischendurch telefoniert. Zum Glück so leise, dass es mich nicht stört. Nach anfänglich einigen freundlichen Bemerkungen, die von mir recht einsilbig beantwortet wurden, schweigen beide.

 

Das Ratta-ta, Ratta-ta dringt in Wellen zu mir, mal lauter, mal leiser. Nach jeder Weiche, die der Zug passiert, werde ich in die Gegenwart zurückgeholt. Dann drücke ich mich tiefer in meine Ecke am Fenster. Hinter mir am Haken hängt mein leichter Sommermantel, in den ich mich bei Bedarf einkuschle und wo ich dann auch mal die Augen zumachen kann.

Sobald das Ratta-ta gedämpfter wird und mich einlullt, treten die Bilder und Erinnerungen an die schrecklichen Tage des Jahres 1972 glasklar vor meine Augen. Wieder steht die Mutter vor mir mit ernstem Gesicht. Sie hat damals ihr Möglichstes getan, um in unsere Familie ein Stück Normalität zurückzubringen. Heute sehe ich, wie begrenzt ihre Möglichkeiten waren. Auch sie hatte niemanden zum Reden. Allein gelassen waren damals die Menschen mit ihren Nöten. An wen hätten sie sich auch wenden sollen? Den Pfarrer, den Lehrer, den Doktor? Sie alle waren sprachlos, wussten keine Antworten, kämpften um die eigene Fassung. Ihr ganzes Leben lang schwärte es in ihnen, wie eine Wunde, die nie abheilt.

Wieder sehe ich mich zuhause, am Backtag in unserer Küche. „Geh schon, Barbara, lass dir nicht alles zweimal sagen! Ich brauche die Kirschen jetzt, ich möchte endlich anfangen zu backen. Sonst werde ich heute überhaupt nicht mehr fertig.“ Ich versuchte erst gar nicht zu widersprechen. Diesem energischen Ton der Mutter war einfach nur zu gehorchen. Ich fühlte mich hilflos und ausgeliefert. „Warum tat Mutter das? Mich allein rausschicken zum Kirschenholen. Sie wusste doch, was ich für eine grauenhafte Angst davor hatte, alleine in die Obstanlagen zu gehen.“ Ich spürte wieder, wie mir das Entsetzen den Rücken hoch kroch. Es machte meinen Nacken steif und in meinem Kopf und in den Ohren fühlte sich in diesem Augenblick alles unnatürlich wattig an.

Als es damit bei mir begonnen hatte, sagte der Doktor zur Mutter: „Ihre Seele ist eingefroren, ihr Körper steht still. Aber das wird schon wieder, es braucht halt seine Zeit.“ Dabei sah er mich mitleidig an: „Gell Barbara, mir schaffen das.“ Zur Mutter gewandt meinte er noch: „Man muss des Mädle halt ablenken von der ganzen Sache. So schlimm das auch alles ist, sie kann ja doch daran nichts ändern.“ Die Stimme von Dr. Eberwein klang aber wenig überzeugend in meinen Ohren. Auch dass er meinen Augen unsicher auswich, bemerkte ich instinktiv.

Es war jetzt schon ein Jahr her, dass man sie gefunden hatte, meine Freundin Sonja, womit das Schreckliche, Unfassbare über das kleine Dorf, ihre Familie, die Freunde und Nachbarn, über uns hereingebrochen war. Doch nichts ist besser geworden in dieser Zeit, die nur mühsam überdeckt wurde mit Alltag, mit Lachen, das keines mehr war, und den steten Gedanken, die immer um das Gleiche kreisten: Wer war es? Warum? Wieso Sonja? Meine Sonja, die ganz bestimmt niemals einem Menschen was Unrechtes getan hatte.

Für mich hörte es niemals auf. Das Poltern der Erde auf Sonjas Sarg. Was hat der Pfarrer gesagt? Erde zu Erde! Was sollte das? Was tat Sonja da unten in der dunklen Erde? Zu mir herauf gehörte sie doch. Hier oben in die Sonne, auf die Wege, unser beider Wege zwischen den Wiesen und Kirschbäumen. „Sie wird darüber hinwegkommen.“ Das hat der Doktor auch noch gesagt. Zur Mutter. Er hat aber nicht gesagt, wann. „Keine Ahnung hat der! Vielleicht kommt er ja darüber hinweg, ich nicht.“ Ich wartete Woche um Woche, Monat um Monat. Von wegen ‚darüber hinwegkommen‘. Ich merkte nichts davon.

„Bestimmt macht Mutter das heute mit Absicht“, hadere ich, „damit ich mich wieder daran gewöhne, rauszugehen. Damit ich meine Ängste überwinde und ein normaler Alltag wieder stattfinden kann. Aber weiß sie denn nicht, dass das gar nicht geht? Wie denn? Ihn gibt es doch noch da draußen! Ihn, das Monster, den Unaussprechlichen, das Grauen höchstpersönlich! Der Todstecher meiner besten Freundin. Meiner Sonja!“ ER sollte mein absoluter Alptraum werden, der meine Kindheit schlagartig beendete.

Sie haben ihn einfach nicht gefangen. Er war frei, lief herum, wohnte irgendwo. Aber wo? Kannte ich ihn oder kannten ihn meine Eltern? Wer, wo, warum? War er alt oder jung? Niemand gab Antwort. Ich fühlte ihn überall. Hinter jedem Baum, in der Scheune, im Stall, in jeder dunklen Ecke des Hauses. Mein Zimmer gehörte mir nicht mehr alleine. Es wurde von zweien bewohnt. Von ihm und von mir. So oft fühlte ich ihn hinter mir. Hörte seinen Atem. Fühlte seine Hände auf meinen Schultern, auf meinem Rücken. Dann kroch eine bleierne Lähmung über mich, rauf und runter. Er konnte auftauchen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Was für eine Belastung für mein, für unser Leben! Ich hätte der Mutter das alles so gerne gesagt, aber ich hätte sie damit nicht erreichen können. Meine Ängste waren für mich nicht in Worte zu fassen. Das Entsetzen hat seine eigene Sprache, die ich als Kind nicht hinausschreien konnte. Es blieb mir nur Zittern und Weinen.

Ich wehre mich nicht mehr. Nehme hastig das Körbchen, drücke es bebend gegen meine Brust, renne den dunklen Gang entlang zur Haustür. Raus! Renne und renne und heule laut den ganzen Weg entlang, bis zu den Kirschbäumen. Ich habe Angst. Schreckliche Angst! Aber ich pflücke, nein, ich reiße die Kirschen ab. Sie fliegen mit Ästchen und Blättern in meinen Korb. Egal! Nur fertig werden und fort hier! Ich will keinen Kirschkuchen mehr. Nie mehr! Sie sollen ihn selber essen. Alle können ihn essen. Sollen sie doch diese elenden Kirschen verschlingen! Ich will keine mehr sehen. Sie merken doch nicht einmal, wie sauer sie seit einem Jahr geworden sind. Ich renne zurück. Putze die Rotznase in das Kleid, wische mein Gesicht trocken. Sie brauchen es nicht sehen, mein Heulen. Ich haue die Tür zur Küche auf, knalle den Korb auf den Tisch, mache kehrt und renne in meine Kammer, werfe mich aufs Bett.

Mein Körper krümmt sich zusammen wie ein Wurm, und krampfhaftes Schluchzen nimmt mir die Luft zum Atmen. Nach einer Weile kommt meine Mutter. Sie setzt sich auf die Bettkante und nimmt mich ganz ruhig in den Arm. Mutter spricht kein Wort, streicht mir nur immer wieder übers Haar. Ihre Hände sagen ihre Worte. Immer die gleichen Worte, immer gleich, immer dasselbe: „Ist ja gut. Alles wird gut, ist gut, ist ja gut…“ Nichts wird gut! Sie finden ihn einfach nicht. Ein Jahr ist jetzt vorbei und ihn gibt es immer noch da draußen.

Im Herbst kam mein Bruder Tobias zur Welt. Da hatte Mutter was, das sie ablenkte, das menschlich war, das sie lieb haben konnte. Aber ich fühlte mich noch verlassener. Meine Ängste türmten sich auf, hoch und übereinander, wie ein Gebirge, über das keiner drüber kann. „Wieso stellte Mutter den Kinderwagen vors Haus? Einfach so.“ Da lag doch Tobias drin. Wenn sie auf dem Feld war, schob ich den Wagen in den Hausflur zurück, schloss die Tür ab und hockte krampfhaft lauschend auf der Stiege. Jedes Knarren und Knacken, Kettenrasseln und Poltern aus Haus und Stall klang überlaut an mein Ohr und erschreckte mich.

Ich merke, wie das Chaos jener Tage wieder anfängt, meinen Körper zu beherrschen. Frost ist in mir, trotz der Hitze des Sommertages, die sich im Innern des ICE fortsetzt. Meine Hände sind eiskalt geworden. Ein untrügliches Zeichen, dass diese elende bekannte Lähmung wieder meinen Kreislauf bestimmt. „Nimm deine Gedanken an die Leine! Versuche Punkte zu setzen! Dicke Punkte. So etwa wie: Bis hier und nicht weiter! Eventuell auch noch Ausrufezeichen. Vermeide auf jeden Fall Fragezeichen!“ So gescheite Sachen hatte mir mein Therapeut geraten. So viele Jahre habe ich mit dieser Strategie an mir gearbeitet. Aber der Erfolg war nicht allzu groß, auch nach über vierzig Jahren nicht.

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