Mai-Schnee

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MAI-SCHNEE

In jenem Frühjahr war das Wetter so, wie man es in Bilderbüchern nachlesen kann. Wenn Kindern beschrieben wird, wie perfekte Jahreszeiten auszusehen haben.

Der Winter war pünktlich vorbei und die ersten warmen Tage verwöhnten das Land. Es war Mitte Mai. Der Mai-Schnee wurde in den nächsten Tagen erwartet. Alles sprach dafür, dass es eine gute Kirschenernte geben würde. Die ganze Hochebene war ein einziges Blütenmeer. Mit riesigen Zuckerwattehauben hatte sich jeder Baum geschmückt. So war das immer, wenn der Winter gnädig gewesen war. Wenn der Ostwind über den Nordwind bei seinen winterlichen Kraftspielen gesiegt hatte.

Die erste Heuernte des Jahres stand vor der Tür. Wiesenblumen und Kräuter blühten in allen Farben in verschwenderischer Fülle. Jetzt, am Vortag zu Fronleichnam, kam das herrliche Wetter gerade recht, brauchte man doch Blütenköpfe in riesigen Mengen. In der kommenden Nacht mussten Blumenteppiche gelegt werden. Prachtvolle, bunte Bilder wollten sie wieder erschaffen für die vorgesehenen Stationen der Prozession. Das war Ehrensache!

Nirgendwo sonst gab es eine solche Fülle und Auswahl, wie man sie hier oben auf den Wiesen rund um Muri pflücken konnte. Schon in den frühen Mittagsstunden waren Gruppen von Frauen auf den Berg gegangen und kniffen seitdem die Blüten von den Stängeln. Eine mühsame Arbeit, aber mit Schwatzen und Lachen verging die Zeit wie im Flug und die Körbe füllten sich.

Später wurden die Frauen gefragt: „Habt ihr denn nichts gehört? Ihr wart doch gar nicht so weit weg vom Tatort.“ „Nein, nichts!“ Niemand hatte etwas Außergewöhnliches gehört oder gesehen.

Ratlos horchten die Befragten in sich hinein. Sollte denn alles lautlos geschehen sein? Unvorstellbar! „Irgendwann haben wir zwar Edelgard nach der Sonja rufen hören, uns aber nichts dabei gedacht. Erst als sie aufgeregt zu uns kam und nach der Tochter fragte, machten wir uns Gedanken, wo das Mädle geblieben sein könnte.“ „Sicher hat die sich verschwätzt und wird schon heimkommen. Wo soll sie denn sonst sein?“, meinte die eine. Da war es später Nachmittag. „Wir hatten die Körbe voll und machten uns auf den Heimweg. Wir dachten uns nichts Schlimmes, bis die Sirenen heulten. Um 17 Uhr war das. Da ahnten wir, es muss was passiert sein“, erzählte eine andere.

Oma hatte den Tisch gedeckt wie jeden Tag. Eine große Familie war zu versorgen. Wenn alle zu Hause waren, acht Personen. Da musste was auf dem Tisch stehen.

Doch heute war es anders. Sonja war es, die fehlte.

Ihr Teller blieb unbenutzt. Alle anderen hatten längst gegessen und gingen wieder ihren Beschäftigungen nach. Nur der eine Teller wartete wie eine Anklage gegen einen unpünktlichen Menschen. Die zornigen Blicke der Großmutter streiften das Geschirr immer wieder. „Wo bleibt des Mensch bloß? Die isch doch bestimmt zur Tante in der Stadt. Hat mit Fleiß den Bus vertrödelt, weil sie heut Nachmittag net daheim schaffen will. Kartoffeln wäret zu hacken. Das hätt sie wahrhaftig eine Weile machen können. Der Mutter helfen, der es seit Wochen nicht so gut geht. Klar! Dort bei den feinen Verwandten isch es bequemer als wie hier der Mutter die eine oder andere Arbeit abnehmen. Und ich kann net abräumen, werd heute überhaupt net mehr fertig. Die Linsen werden fest, die Spätzle kalt und die Saitenwürstle sind aufgeplatzt. Die soll bloß kommen, so geht’s net! “

Inzwischen war Oma Mechthild richtig wütend geworden. „Edelgard, willsch du net nachgucken, wo sie bleibt? Du hasch doch den Traktor, fahr die Strecke ab! Wer weiß, wo sie sich rumtreibt“, drängt die Oma.

„Also bei der Tante isch sie net, ich hab dort scho ang’rufen. Jetzt will ich noch schnell dem Roland telefonieren. Der weiß ja, ob sie mit ihm im Bus heim’kommen isch oder net.“ „Haja, mach des no gschwind, mir langt’s jetzt“, maulte Oma Mechthild mit Nachdruck hinterher.

Unruhe ist in Edelgard. Sie spürt einen Kloß im Hals. Der war plötzlich da. Es gelingt ihr einfach nicht, den runterzuschlucken. Komisch ist das! Das leichte Zittern ihrer Hände fällt ihr auf, als sie das gelbe, abgegriffene Telefonbuch aus der Schublade nimmt und die Nummer von Herbert Heckner, dem Vater von Roland, heraussucht. Schulkamerad Roland ist am Telefon. „Hasch du die Sonja g’sehen, war sie mit dir im Bus? Sie isch noch net daheim.“ Sie merkt, dass ihre Stimme außer Atem klingt, ärgert sich selber über ihre Aufregung und kann doch nicht dagegen an. „Ha, doch“, sagt der Roland, „mir beide send mit dem Bus heim, wie immer. Sie isch ausg’schtiegen und hat noch mit ihrer Freundin, der Cordula gschwätzt. Dann hab ich noch g’sehen, wie die Sonja den Berg in Richtung heim gegangen isch.“

Ratlos hält Edelgard noch eine Weile den Hörer in der Hand und starrt die Sprechmuschel an, als könnte sie von dort eine Antwort bekommen. Unmerklich schüttelt sie den Kopf und legt langsam den Hörer auf die Gabel. Irgendwie ist es so unwirklich für sie, dass Sonja ohne Bescheid zu sagen nicht nach Hause gekommen ist. „Jetzt geh halt, Edelgard, und guck nach dem Mädle! S’ könnt ja au was passiert sei.“ Sorge schwingt in der Stimme der Älteren mit. Die Hände, die sie in den Taschen der bunten Kittelschürze vergraben hat, ballen sich zu Fäusten. „Ich will keine Aufregung mehr. Mir langt des schon, was ich jeden Tag sonst in der großen Familie erleben muss.“

Das Telefon klingelt. Edelgard reißt fast den Hörer von der Gabel. Bestimmt was wegen Sonja! Nein, nicht. Eine Nachbarin will eine Kaffee-Sammelbestellung machen. „Jetzt net. Denk mal, d’ Sonja ist noch net von der Schul daheim, ich muss los, nach ihr suchen.“ Sie schmeißt den Hörer auf die Gabel, rennt durch den Gang in den Hof. Dort steht der große Traktor noch so, wie sie ihn abgestellt hat, als sie vom Kartoffelacker nach Hause gekommen ist. Viel zu laut und viel zu schnell rattert sie vom Hof, die Dorfstraße entlang. Am Waldrand, auf einem kleinen Wiesendreieck, genau da, wo Fußweg und Teerstraße zusammentreffen, bleibt Edelgard stehen. Motor aus! Sie horcht, hält die Luft an. Stille! Dann fängt sie an zu rufen, zu schreien: „Sonja, Sonjaa!“ Sie legt die Hände als Trichter an den Mund: „Sonjaa, Sonjaaaa!“ Die Vögel verstummen von ihrem Geschrei.

Stille! Alles ist still. Die Vögel geben ihr eine Weile Zeit zum Horchen. Als Antwort hört sie nur das leise Rauschen der Baumwipfel. Eine erdrückende, unheimliche Stille kommt ihr aus der Tiefe des Waldes entgegen. Sie läuft hin und her, die wenigen Schritte zwischen Teerstraße und Fußweg. Nichts, gar nichts kommt zurück! So sehr hätte sie sich eine Antwort gewünscht. Einen leisen Hilferuf vielleicht oder ein schwaches Stöhnen. Alles wäre besser gewesen als dieses schweigende Nichts.

Mit einem Schlag wird ihr klar, dass etwas geschehen sein muss, das für sie nicht mehr fassbar ist, etwas, das sie alleine nicht mehr im Griff hat und alleine nicht aushalten kann. Hätte ihr Kind verletzt auf seinem üblichen Waldpfad gelegen, hätte es die Mutter rufen gehört und Antwort gegeben. Edelgard ist sich plötzlich gewiss: „Sonja ist irgendwo anders, aber wo?“

Sie hat keine Idee, wo sie suchen könnte. Fast körperlich spürt sie, dass etwas nicht mehr stimmen kann. Aber was? Sie blickt ratlos um sich, sieht Menschen auf den Wiesen, die Blumen pflücken für die Blumenteppiche vor den Altären. Sie weiß: Morgen ist Fronleichnam. Pflückt Sonja am Ende Blüten mit jemand? Sie rennt zu den Frauen. „Ist Sonja bei euch? Habt ihr sie gesehen?“

Lotte, die unten im Dorf an der alten Kirchsteige wohnt, dreht sich erstaunt zu ihr um: „Was, isch die noch net daheim? Ich hab sie doch g’sehen, wie sie die Straße zum Berg nauf gangen isch. Ja sag mal, wo kann die denn hin sein? He, Anna, du warsch doch vor dem Haus, du musch d’ Sonja doch au g’sehen haben, wie sie vorbei’gangen isch!“

„Ja klar“, sagt Anna. „Oh, die Mädle, immer habet sie anderes Zeugs im Hirn. Mach dir net so viele Sorgen, die wird schon auftauchen. Vielleicht isch sie ja inzwischen daheim! Wahrscheinlich isch die einfach bei jemand eing’schtiegen, der sie mitg’nommen hat.“

Etwas von der Panik fällt von Edelgard ab. „So wird es sein“, wünscht sie sich und geht mit schnellen Schritten zu ihrem Traktor zurück. Ihre Blicke streifen die vollen Blumenkörbe, die am Wegrand zum Abtransport aufgestellt sind. Weiße Margeriten, roter Klee, gelber Löwenzahn, lilafarbene Pfeifenputzer, blaue Kornblumen, all das leuchtet ihr in den schönsten Farben entgegen. Sie wünscht sich, dass das heute auch ihre Arbeit gewesen wäre. So gerne hätte sie dazugehört, zu der schwatzenden, lachenden Schar von Frauen, die sorglos einfach nur Blumen pflücken dürfen.

Langsam tuckert sie auf den Hof zurück. Sie fühlt sich müde und erschöpft.

Schon als sie in den Hof einfährt, ist ihr klar: „Sonja ist nicht zu Hause!“ Ihre Mutter steht in der Haustür, starrt sie an und schüttelt nur den Kopf. Schwerfällig kriecht Edelgard vom Sitz des Traktors mit einer solchen Schwäche in den Beinen, wie sie sie noch nie erlebt hat. Schweigend gehen beide Frauen ins Haus. Es ist still. Sie treten in die halbdunkle Küche. Fliegen summen überlaut. Ohne ein Wort zu wechseln, setzen sie sich einander gegenüber auf die Eckbank. Sehen sich nur an. Ratlos. Verkrampfen ihre Hände ineinander, jede für sich. Die eine im Schoß, die andere auf dem Tisch. Schweigen.

Der Fliegenfänger, der als Klebestreifen mit unzähligen toten Tieren daran von der Decke hängt, trennt ihre Gesichter voneinander. An ihm muss man vorbeischauen, wenn man sich in die Augen sehen will. „Diese vielen Fliegen“, muss Edelgard in diesem Moment denken, „das ist die frühe Wärme in diesem Jahr.“ Eine Weile sieht sie den noch lebenden zappelnden Tieren zu. „Man sollte ihn irgendwann auswechseln“, geht es ihr durch den Kopf.

 

„Jetzt schwätz scho, was ist?“, fragt die Mechthild-Oma. „Hast du sie gefunden? Weißt du was?“ Edelgard schüttelt den Kopf und starrt ihre Mutter mit großen, aufgerissenen Augen an. „D’ Lotte hat sie heimgehen sehen und d’ Anna, em Fritz Schäuble sei Anna, au“, meint Edelgard. „Aber sie isch net da! Oder meinsch du, sie könnt sich versteckt haben – im Hof oder im Stall?“, rätselt sie.

„Auf“, bestimmt Mechthild energisch, „komm, mir gehet jetzt mit’nander suchen, au auf den Höfen in der Nachbarschaft. Los, komm, des machet mir glei!“ Mit diesen Worten macht Mechthild schon die Haustür auf. „Weisch, ich hab jetzt kei Ruh mehr. Des passt doch net zur Sonja. Jetzt isch es bald Viere und die isch no net daheim.“ Edelgard ist froh, dass die Mechthild die Initiative übernimmt. „Gut, dass Mutter da ist!“ Sie spürt, wie sie immer noch von der energischen Kraft der Älteren profitiert.

Sie eilt der alten Frau hinterher, rüber in den Anbau des Onkels. Dort öffnen sie alle Türen, laufen hinters Haus, in den Stall, in die Scheune. Sie rufen hoch ins Heu. Edelgard steigt die Holzleiter hinauf, kriecht im Heuboden herum. Nichts! Sie gehen hinunter in den uralten Gewölbekeller, den die Kinder überhaupt nicht mögen. Sie ist nicht da. „Was sollte sie auch hier?“, überlegt Edelgard. Es gab für Sonja bessere Verstecke, wenn sie eines gebraucht hätte.

Ihr lautes Rufen hören die Nachbarn. Irgendwann fangen sie an mitzusuchen. In jedem noch so versteckten Winkel der alten Bauernhäuser wird nachgeschaut. Nichts! Das Kind fehlt, wie jemand, der pünktlich losgewandert ist, seinen gewohnten Weg genommen hat und doch an seinem Ziel nicht angekommen ist. Sonja wird nicht gefunden. Keine Spur von ihr hier oben. Nicht in den Häusern, nicht zwischen den Häusern.

Der Wald hat sie behalten! Warum? Es war, als habe er das Mädchen verschluckt. Sie ist unten hineingegangen und oben nicht wieder herausgekommen.

Dass etwas Unheilvolles geschehen sein musste, wird in Edelgard zur gefühlten Gewissheit. Sie braucht nur ihre Mutter anzusehen und weiß, dass die keinen anderen Gedanken hat. „Wenn doch bloß der Arthur da wäre!“, wünscht sich Edelgard sehnlichst. „Der wüsste Rat, was zu tun ist. Aber gerade heute ist er auf der anderen Seite des Tales, auf den beiden großen Pachtwiesen, um nach dem Rechten zu sehen.“

„Geh, ruf Hilfe!“, sagt die Mechthild sehr bestimmt. Es klingt energisch, aber Edelgard hört die zitternden Tränen im Hintergrund heraus. „Wen ruf ich an?“, überlegt sie kurz. „Am besten unseren Freund Herbert, Rolands Vater. Der weiß meistens Rat. Der wird wissen, was zu tun ist. Heute am Mittwochnachmittag sind die meisten auf Arbeit, aber den Herbert könnte ich erreichen, der werkelt bestimmt in seiner Schreinerei herum.“

„D’ Sonja isch net heimkommen!“ Edelgard schreit diesen Satz förmlich in die Muschel. „Wie, net heim’kommen?“, fragt Herbert mit ruhiger Stimme. „Was meinsch du?“ „Ja von der Schul! Jetzt isch es fast Fünfe und sie isch no net da. Wir haben schon überall g’sucht. Sie sei in Richtung heim gangen, haben d’ Leut g’sagt, aber sie isch verschwunden, sie isch weg!“ Ohne abzusetzen sprudelt es aus Edelgard heraus. In der folgenden Stille hören beide nur das Atmen des anderen.

Dann sagt Herbert: „Also am besten, wir alarmieren die Feuerwehr, machen gleich Nägel mit Köpfen.“ Herbert spricht jetzt hochoffiziell mit fester Stimme, wie es sich für einen wichtigen Mann im Dorf gehört. In solchen besonderen Situationen glänzt er sogar mit seinem erlernten Hochdeutsch, auf das er ganz besonders stolz ist. „Ja so was“, denkt er für sich, „was kann denn da passiert sein? Vielleicht liegt das Kind wo und hat den Fuß gebrochen. Die klettern doch alle Abkürzungen den Wald hoch. Wahrscheinlich hat das Mädle seine Mutter gar nicht rufen gehört. Da muss man danach gucken! Vor drei Stunden in den Wald rein und kommt nicht mehr raus. Da ist doch was faul.“ So denkt der Herbert, wäscht sich schneller als sonst die Hände, lässt sich nicht mal Zeit zum Abtrocknen und gibt fast wortgleich seine Gedanken von vorhin übers Telefon dem Feuerwehrkommandanten weiter. „Da muss man freilich danach gucken“, kommt die kurze, bündige Antwort zurück. „Ich mach das!“

Kurz darauf heulen Sirenen. Die Menschen halten inne, egal was sie gerade tun. Brennt’s denn? Wo? Sie rennen auf die Straße. Weiß der Nachbar was? Nein. Aber da muss es doch wo brennen! Die Sirenen heulen weiter, gehen durch Mark und Bein. Grausig ist das. Bis einer es weiß: „D’ Sonja ist von der Schule noch nicht daheim. Man muss sie suchen.“

Die Feuerwehr stellt gerade einen Suchtrupp zusammen. Alle, auch die Kerle von der Jugendfeuerwehr, müssen kommen und helfen. Das laute Heulen der Sirenen ist verstummt, aber die Menschen behalten ihre Gänsehaut. Die bleibt, so wie Anspannung und Herzklopfen bleiben. Wer Kinder hat, sieht sie heute mit anderen Augen an. Gott sei Dank, sie sind zu Hause! Es gibt an diesem späten Nachmittag und Abend wohl kein Haus in der Gemeinde, wo nicht diskutiert und gemutmaßt wird, was mit Sonja passiert sein könnte. Irgendwie schmeckt heute das Vesper nicht so wie sonst. Manch einer schiebt es schneller von sich, als er es eigentlich vorhatte.

Auch auf dem Berg hören die Bewohner das Dröhnen und Heulen der Sirenen. Als Echo klingen die Töne aus verschiedenen Ecken zurück und hinterlassen den Eindruck eines Infernos. Edelgard und ihre Mutter fahren so erschrocken zusammen, als hätten sie einen Schlag mit einer Keule bekommen.

„Die Sirenen! Die Sirenen müsste Arthur hören“, fährt es Edelgard durch den Kopf. „Er muss sich doch denken, dass im Ort was g’schehen ist. Fünfe ist es auch. Eigentlich Zeit für ihn zum Heimkommen“, überlegt sie. „Oh Herrgott“, fleht Edelgard, „lass den Arthur heimkommen!“ Jetzt wissen es alle, es ist sozusagen amtlich. „Mit unserem Mädle ist was passiert!“ Wenn doch wenigstens der Vater da wäre, aber der ist am Morgen früh weg, musste nach München, Kunden besuchen.

Beide Frauen hält es nicht mehr im Haus. Sie rennen in den Hof, der an die Dorfstraße grenzt. Ihre Nachbarn sind da, sie stehen in kleinen Gruppen beieinander und diskutieren. Nicht zu laut, denn man weiß ja nichts Genaues. „Die wird man schon finden, Edelgard, mach dir net so viel Sorgen! Jetzt gucket ja ganz viele nach ihr. Man hat sie doch noch gesehen nach der Schule, also muss sie hier au wo sei. Geh nur rein zu deine andere Kinder! Mir gehen jetzt au zum Wald und helfet suchen. Mir saget dir gleich Bescheid, wenn mir was Neues erfahret.“

Kein bisschen getröstet geht Edelgard ins Haus. Es stimmt ja, sie muss nach ihren drei Jungs sehen. Die Buben haben sich so erschrocken, als die Sirenen heulten, und sind ins Haus gerannt. Dort hocken sie eingeschüchtert mit großen Augen in der Küche.

Schweigend haben sie heute ihre Hausaufgaben gemacht und danach schweigend die kleinen Spielautos auf dem Tisch herumgeschoben. Ihre Brummlaute, mit denen sonst die Fahrzeuge in allen Lautstärken begleitet wurden, kommen ihnen nur leise über die Lippen. Die Mutter hatte ihnen vorhin kurz gesagt: „D’ Sonja isch no net von der Schul daheim und jetzt suchen alle nach ihr.“ „Warum redet die Mutter nur so komisch?“ Eine ganz neue Stimme hatte sie. „Des war doch net so schlimm, wenn die Sonja mal später heimkam.“ Erst als sie begriffen, dass die Sirenen ihrer Schwester galten, erstarrten ihre Kinderseelen vor Angst und Schrecken. Sie trauten sich nicht, Fragen zu stellen, denn jeder Versuch wurde von der Oma mit harschen Worten abgetan. „Still jetzt, mir wollet jetzt nix mehr hören, setzt euch hin und haltet den Mund!“

„Fangt ganz unten am Fluss an zu suchen! Teilt euch auf!“, rief der Kommandant.

„Immer Zehner-Reihen, fünf alte und fünf junge Leut. So schaffen wir uns den Berg hoch. Auf der Teerstraße nach oben stehen Autos. Wenn jemand was sieht oder findet, gibt er Signal. Einen überlangen Hupton! Die Fahrzeuge sind offen, Zündungen sind an. Also los, guckt genau, ob ihr vielleicht Gegenstände findet oder ob es Spuren gibt, die nicht hingehören! Alles, auch die kleinste Kleinigkeit ist wichtig!“ Mit energischen Befehlen wurden die Suchtrupps eingeteilt und losgeschickt.

Gerade biegt Arthur auf die Straße nach Muri ein, als er den ersten Leuten von der hiesigen Feuerwehr begegnet. Hält und sieht sich neugierig um. „Was ist passiert, Willi? Wo brennt’s?“, fragt er den ersten, der ihm gerade über den Weg läuft. „Gut, dass du da bist, Arthur“, kommt es ernst von dem Feuerwehrmann zurück. „Es geht um eure Sonja. Die ist nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Wir fangen gerade an zu suchen.“

Mit einem Satz springt Arthur vom Traktor. Das ist etwas, was er im Moment zwar hört, aber überhaupt nicht einordnen kann. Das ist fremd. Automatisch gehen seine Gedanken sofort zu den Frauen daheim. „Wie mag es ihnen gehen?“ Er ahnt, dass er zuhause dringend gebraucht würde. Trotzdem bestimmt er kurz: „Ich suche mit!“ Das ist ihm im Augenblick näher und wichtiger. „Ja, mach das. Komm mit mir und meinem Trupp. Wir fangen mit dem unteren Teil der Strecke vom Fluss aus an.“

Inzwischen lag eine ungeheure Spannung über den Suchenden. Jeder von ihnen fürchtete mittlerweile, er könnte etwas finden, was er sich nicht wünschte. Es war ein Junge der Jungfeuerwehr, der sie fand. Der rief und schrie: „Hilfe, hier! Hil.....“ Das letzte ‚Hilfe‘ blieb ihm buchstäblich im Hals stecken. Der Magen würgte ihm entgegen. Er brach sich die Seele aus dem Leib, der Junge. Einer hupte. Lange Pause, noch mal lange. Ein Klagen, das jeden, der den Ton hören musste, erschauern ließ.

Ein Beben erfasst den abendlichen Wald. Alles rennt. „Der Ton kommt doch vom Berg!“ Sie keuchen den Berg hoch. Von allen Seiten kommen sie zum Hupton. „Da, da unten!“, schreit es ihnen entgegen. „Ein kleines Stück unterhalb der Teerstraße, da liegt sie.“

Wer mitgesucht hat oder zufällig vorbeikommt, sieht sich den Fundort an, zertrampelt Spuren, die im Nachhinein so wichtig gewesen wären. Das Entsetzen über den Anblick der Leiche, das Blutbad, das sie ertragen müssen, lässt die Männer verstummen oder aufstöhnen wie im tiefsten Schmerz, lässt sie in die Büsche taumeln, wo sie sich erbrechen, lässt sie weinen und beten.

Ein Kripobeamter sagt Jahrzehnte später: „Ich war wie gelähmt von dem, was ich da sehen musste. Es überstieg meine Vorstellungskraft. Nur weg von diesem grauenhaften Anblick! Nur einen Augenblick umdrehen und Welt sehen, die noch so war wie immer! Ich rannte zwischen die Tannen, konnte es nicht mehr ertragen, wie Tod aussehen konnte. Ich lehnte mich an einen Baum, brauchte Hilfe, konnte nur noch beten. Und ich betete: Lieber Gott, lass uns den Täter finden! Hilf uns, den Täter zu finden, hilf uns! Sonst möchte ich nie mehr was von dir!“

(aus Befragung Kommissar I. im August 2014)