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Die Colonie: Brasilianisches Lebensbild. Dritter Band

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Die Colonie: Brasilianisches Lebensbild. Dritter Band
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1. Die Abendgesellschaft

In der Wohnung der Frau Gräfin sollte heute Abend große Gesellschaft sein, und die Zimmer waren deshalb alle festlich mit Blumen geschmückt, die Cigarrentische ängstlich bei Seite geschafft und einige Dutzend Stearinlichte in den verschiedenen Räumen angezündet, ja, selbst Helenens Instrument in das Empfangszimmer gebracht worden. Auf acht Uhr lautete die Einladung, und es fehlten noch etwa fünf Minuten daran, als die Frau Gräfin, in einem schweren Seidenkleid, das ihr Herr von Pulteleben extra aus Rio verschrieben und das sehr viel Geld gekostet hatte, in den Empfangssaal rauschte, um vor dem Spiegel dort ihre Toilette noch einmal zu mustern.

Helene saß am Fenster, hatte den Kopf in die Hand gestützt und schaute nach dem letzten Streifen fahlen Lichtes, der noch den westlichen Horizont begränzte, und die Conturen des malerisch eingeschnittenen Gebirgszuges scharf und deutlich in der klaren Luft abzeichnete.

»Wenn nur der Jeremias heute Alles richtig besorgt hat,« sagte die Mutter endlich und suchte vergebens in dem Spiegel eine Frontansicht von ihrem Rückgrat zu bekommen – »ich traue ihm nicht recht; er ist ein ganz entsetzlicher Mensch mit seinen Verkehrtheiten.«

»Ein Irrthum war dieses Mal in den Einladungen nicht möglich,« sagte Helene, »denn er hatte ja alle Namen deutlich aufgeschrieben.«

»Aufrichtig gesagt,« fuhr die Mutter fort, »ist es mir nicht recht angenehm, daß wir bei der heutigen Gelegenheit gerade wildfremde Menschen haben, von denen ein paar sogar mit dem früheren Director eng liirt waren. Der Baron wird wieder schön über die »bürgerliche Versammlung« die Nase rümpfen.«

»Es sollte mir leid thun,« sagte Helene gleichgültig, »wenn der alte Adel des Barons sich dadurch unangenehm berührt fände; wenn er aber unter seines Gleichen leben wollte, hätte er nicht nach Brasilien auswandern, wenigstens hier keine deutsche Colonie zum Aufenthalt wählen sollen. Der Eine der Herren ist übrigens, um Dich und den Herrn Baron zu beruhigen, von Adel, und zwar ein früherer Artillerieofficier, ein Herr von Schwartzau.«

»Und wie heißt Dein kühner Pferdebändiger?«

»In der Colonie wird er kurzweg Herr Randolph genannt; ich weiß aber nicht einmal, ob das sein Vor- oder Zuname ist – wen interessirt das auch, wenn wir nur einen Namen haben, mit dem wir ihn anreden können.«

»Und Du nimmst weiter kein Interesse an ihm?« fragte die Frau und sah ihre Tochter forschend dabei an.

»Zu welchem Zweck kommen wir heute Abend hier zusammen?« fragte Helene kalt und stolz.

»Es ist gut,« sagte die Mutter und sah nach der Uhr, die sie am Gürtel trug – »ah, schon acht Uhr, und da hör' ich auch Jemanden auf der Treppe.«

Die Thür des Zimmers wurde in diesem Augenblicke rasch geöffnet; Oskar trat herein und warf, wie gewöhnlich, seine Mütze in die Ecke.

»Er ist's richtig,« lachte er dabei, zu Helenen an's Fenster gehend; »hab' ich Dir's nicht gleich gesagt?«

»Wer ist's? Was habt Ihr nur wieder?« fragte die Mutter. »Du könntest Dich doch wenigstens heute Abend ein Bißchen zusammennehmen, Oskar, und Dein wildes, ungestümes Wesen lassen. Ist das nun eine Manier, die Mütze auf's Sopha zu werfen, wo wir jeden Augenblick unsere Gesellschaft erwarten! Wer ist wer?«

»Jener Mensch,« rief Oskar, »den wir neulich Morgens überholten, als uns die Pferde durchgegangen waren, und der Deinem Schimmel, glaub' ich, in die Zügel gesprungen, ist richtig unser heimlicher Violinspieler von früher her, hinter dem ich, wer weiß wie oft, mit einem Eimer Wasser hergekrochen bin und ihn nie habe erwischen können – aber abgewöhnt hab' ich's ihm wenigstens, daß er das Gekratze hat sein lassen.«

Helene antwortete Nichts darauf und wandte sich wieder dem Fenster zu, und Oskar, mit einer Quantität anderer Neuigkeiten im Kopfe, fuhr, ohne auf die Schwester weiter zu achten, fort:

»Und mit des Meier Frau ist es auch richtig – die ist in den Fluß gesprungen, weil sie der alte Einsiedler da drüben so furchtbar geprügelt hat, daß sie's zuletzt nicht mehr aushalten konnte.«

»Gemeines Volk!« sagte die Frau Gräfin wegwerfend; »aber ich glaubte, Du wolltest zu der Auction hinausreiten?«

»Da bin ich auch gewesen; die langweilige Geschichte hat eben so lange gedauert, da war gar kein Fertigwerden mit all' den tausend und tausend Kleinigkeiten.«

»Und hat Herr von Pulteleben viel gekauft?«

»Verwünscht wenig,« sagte Oskar; »ein Herr Könnern – Du mußt ihn schon in Santa Clara gesehen haben, und er wohnte ja bei Sarno im Hause – schien ordentlich versessen auf Alles, was sich noch irgend brauchbar erwies, und es war gar nicht möglich gegen ihn anzubieten.«

»Herr von Pulteleben ist zurück?«

»Hörst Du ihn nicht oben herumpoltern? Er kann wieder seine Stiefeln nicht ankriegen.«

»Du bist ein schrecklicher Mensch, Oskar!« sagte die Mutter und sah nach ihrer Uhr – »aber wo unsere Gäste bleiben, ist mir unbegreiflich.«

»Die Meisten sind erst jetzt von der Auction zurück,« sagte Oskar; »der Director war auch oben und wollte gern einige der guten Möbel haben, aber Gott bewahre, Herr Könnern brauchte sie selber – der muß schmählich reich sein.«

»Herr Könnern ist ja wohl auch mit eingeladen?« fragte die Frau Gräfin ihre Tochter.

»Ja,« sagte Helene; »er hat sich aber entschuldigen lassen.«

»So – entschuldigen? Wir sind dem Herrn wahrscheinlich nicht vornehm genug. Was sich, um Gottes willen, solche Menschen nur einbilden?«

»Da unten hör' ich Jemanden,« rief Oskar – »Jeremias unterhält sich – der Bursche ist heute göttlich – hast Du ihn schon in seiner Galatracht gesehen?«

Die Frau Gräfin hatte aber keine Zeit mehr zu antworten, denn in diesem Augenblick wurde die Thür weit aufgerissen, und Jeremias, der wirklich heute im Glanz seines gewöhnlichen Ballornats erschien, meldete:

»Se. Ehrwürden der Herr Pastor Beckstein mit Ihro Ehrwürden der Frau Gemahlin.«

Oskar drehte sich auf dem Absatz herum und drückte sein Taschentuch in den Mund, und seine Mutter konnte ihm nur noch einen wüthenden Blick zuschleudern, denn im nächsten Moment mußte sie schon mit lächelndem Gesicht den Herrn Pastor begrüßen, der in schwarzem Frack, weißer Weste, gesticktem Vorhemdchen und eben solchem weißen Halstuch, darunter aber, etwas unpassend, mit Nanking-Beinkleidern in der Thür erschien und seine Frau hinter sich herschleppte.

Die Frau war eine hagere, ausgetrocknete Gestalt mit etwas spitzer Nase und eben solchen Backenknochen, kleinen, grauen Augen und dünnen Lippen – außerdem allbekannt in Santa Clara als Schrecken der Dienstboten und – wenn das Gerücht nicht log – auch ihres eigenen Mannes. Jetzt aber schien das ganze Gesicht nur Licht und Sonnenschein, so freute sie sich, die Frau Gräfin wohl und munter zu sehen, so glücklich war sie über das vortreffliche Aussehen der gnädigen Comtesse – von Oskar nahm sie keine Notiz, denn sie hatte noch zwischen ihrem Manne und der Thür durch sein Lachen gesehen und strafte ihn jetzt mit stiller, aber furchtbarer Verachtung.

Pastor Beckstein selber, eine grobe, vierschrötige Gestalt, schien sich noch nicht recht wohl in seiner Umgebung zu fühlen, und so behaglich er drüben in der Schenke hinter einer Flasche Bier oder einer Partie Solo saß, so beengt fühlte er sich von jeder anständigen Umgebung. Pastor Beckstein war auch in der That nicht in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen, sondern daheim ein gar ärmliches Dorfschulmeisterlein gewesen. Aus einem oder dem andern Grunde mußte er aber seinen Dienst quittiren, war dann eine Zeit lang Unterschaffner an einer Eisenbahn und wanderte zuletzt nach Brasilien aus. Hier, da er eben keine andere Stellung bekommen konnte, wurde er Geistlicher und kanzelte jetzt seine Zuhörer jeden Sonntag Morgen ab. Er hatte wenigstens, wie der Amerikaner sagt, the gift of the gab, und mit einer Unzahl citirter Bibelstellen, die natürlich Niemand nachschlug, gelang es ihm, sich ziemlich geschickt in seiner Stellung zu behaupten – konnten die Colonisten doch auch keinen andern und besseren auftreiben.

Übrigens war er, und besonders außerhalb der Kirche, tolerant genug, viel toleranter wenigstens, als die Frau Pastorin, die eine strenge Controle über sämmtliche Kirchgänger in der Colonie hielt. Aber auch sie schien das Umgehen der Kirche weniger für eine Sünde gegen Gott selber, als für eine persönliche Beleidigung ihres Mannes zu halten, und vergab es deshalb nie. – Sie ging natürlich in ein ziemlich abgetragenes schwarzes Seidenkleid wie eingeschnürt und ohne Crinoline, mit einer großen, weißen Haube auf, die weiter nichts Merkwürdiges als zwei furchtbar große, reich gestickte – leider auch schon einmal ausgebesserte – Zipfellappen und eine sehr große, orangenfarbige Rose trug.

Glücklicherweise blieben diese Beiden nicht lange die einzigen Gäste, denn die Unterhaltung wäre unter so verschiedenen Elementen sehr bald in's Stocken gerathen. Bald danach meldete Jeremias: »Herr Balthasar Rohrland nebst Frau Gemahlin, Madame Rohrland.«

Madame Rohrland war ganz das Gegentheil der Frau Pastorin: ein kleines, rundes, munteres Frauchen, sehr einfach, aber gar nicht geschmacklos gekleidet, mit weiter keinem Schmuck, als ihrem Trauring und einer einzelnen Achatschnur um den Hals.

Rohrland selber war ein schlichter, praktischer Mann mit gesundem Mutterwitze, und er wie seine Frau bewegten sich vollkommen ungenirt in der bis jetzt noch immer etwas steifen Umgebung.

Mit dem Schlage halb Neun erschien Baron Jeorgy, und zwar grundsätzlich stets genau eine halbe Stunde später, als die an ihn ergangene Einladung lautete. Er war natürlich à quatre épingles gekleidet; seine Toilette ließ Nichts zu wünschen übrig, und er hätte eben so gut damit bei dem Lever irgend eines europäischen Fürsten erscheinen können. Pastor Beckstein schrak auch wirklich ordentlich in sich zusammen, als er zufällig einmal einen Blick auf seine Nankings warf. Die Frau Pastorin haßte den Baron aber seit diesem Augenblicke noch viel mehr, als sie ihn je gehaßt hatte – es versteht sich von selber, nur seines Stolzes und Hochmuths wegen, der ihn sogar nicht ein einziges Mal in ihre Kirche ließ.

 

Jetzt erschien auch endlich – als Hausgenosse jedoch eben so gewissenhaft und laut von Jeremias angemeldet – Herr von Pulteleben, gleichfalls sehr elegant gekleidet, sogar mit einem noch neueren Frackschnitt als der Baron, was seinerseits diesen wieder ärgerte. Herr von Pulteleben ging übrigens vor allen Dingen auf die Damen zu, diese zu begrüßen, machte dem Baron dann die gehörige Verbeugung und grüßte den Herrn Pastor mit seiner Gattin, die anfingen, sich in eine Ecke zu drücken und dort festzusetzen, in etwas summarischer Weise – was wieder einen Stachel in der Brust der Frau Pastorin zurückließ. Die Frau Pastorin sammelte überhaupt heute Abend Stacheln – wären es thatsächliche gewesen, ihr Herz hätte beim Nachhausegehen wie ein blutiges Nadelkissen aussehen müssen. Dann näherte sich Herr von Pulteleben der Frau Gräfin, um ihr nur vorläufigen, übrigens nicht befriedigenden Bericht über die Auction abzustatten. Die Frau Gräfin hatte nämlich gehofft, daß er eine ganze Menge sehr hübscher, wenn auch vielleicht sehr unnöthiger Dinge mitbringen würde, und sah sich darin eben nicht angenehm getäuscht. Jetzt meldete Jeremias wieder einen neuen Gast, den Herrn Director von Reitschen, dem er aber vorher noch einmal, aus Ungeschicklichkeit oder Malice, die Thür vor der Nase zumachte, und dann tausendmal um Entschuldigung bat.

Günther und Felix waren die Letzten, die erschienen, und Felix in der That noch bis zum letzten Augenblick unschlüssig gewesen, ob er gehen oder bleiben solle. Ja, noch vor der Thür hatte er des Freundes Arm gefaßt und gesagt:

»Laß mich lieber unten, Günther – es ist wahrhaftig besser, und die Frau da oben mag ihre Rolle weiter spielen nach Herzenslust. Wir sind ja alle mit einander Komödianten auf dieser wunderlichen Weltbühne, und die Gesellschaft betrügt entweder selber oder verlangt dringend, betrogen zu werden – warum ihr also den Spaß verderben?«

»Ich würde Dir trotzdem zureden, mit hinauf zu kommen,« sagte Günther, »wenn ich nicht heute zufällig gehört hätte, daß diese Abendgesellschaft wirklich zu einer Art Verlobungsfeier benutzt werden soll, und ich kann mir denken, daß Dir das nicht angenehm wäre. Hast Du also nicht ganz besondere Lust mit hinaufzugehen, so kehre ruhig nach Haus zurück; ich will Dich dann schon oben entschuldigen. Es findet sich später wohl einmal eine andere und bessere Gelegenheit, die Frau Gräfin wenigstens wissen zu lassen, daß man ihre wahre Abkunft kennt.«

»Glaubst Du, daß mich die Verlobung stören würde?« lachte der junge Graf bitter – »wahrhaftig nicht! Im Gegentheil gönne ich der nachgemachten Comtesse von Herzen diesen Herrn von Pulteleben, und ihm eben so gern die Kammerfrau als Schwiegermutter – ich würde mich sogar hüten, die Verbindung zu stören, und wenn mir das auch nur ein Wort kostete. Aber in einer Art hast Du Recht – wenn auch in einem andern Sinn, wie Du es gemeint – Helene selber könnte nämlich glauben, ich sei der Verlobung ausgewichen, und deshalb – gehen wir hinauf. Ich freue mich jetzt selber darauf, einmal einer echt aristokratischen Gesellschaft in einer brasilianischen Colonie beizuwohnen.«

»Du willst mitgehen?«

»Gewiß,« lachte Felix, des Freundes Arm wieder ergreifend und ihn mit fortziehend; »es muß überhaupt schon fast dreiviertel sein, und wir werden jedenfalls mit Schmerzen erwartet. Wie sich die Frau Gräfin freuen wird, meine Bekanntschaft zu erneuern! Aber ich bitte Dich, Günther, nie selber über meine Entdeckung zu reden. Das Geheimniß ist mein eigen.«

»Gewiß – aber glaubst Du, daß sie Dich wiedererkennt?«

»Ich glaube kaum – zu viele Jahre sind verflossen, seit wir uns nicht gesehen, und ich selber – bin alt dabei geworden; vielleicht kann ich jedoch ihrem Gedächtnisse nachhelfen.«

»Da sind wir.«

»Allerdings; es weht ordentlich ein feierlicher Duft durch diese erleuchteten Hallen – wenn nur das Ganze nicht so nach dem Tischler röche – und Jeremias in Gala – Ich fürchte fast, Günther, daß wir nicht in standesgemäßer Toilette erscheinen.«

»Immer 'rein, meine Hörrschaften,« rief ihnen Jeremias unten im Hausflur entgegen – »immer 'rein – hür ist der Platz, wo Sie Staunenswerthes sehen und erleben werden – immer hereun! Erwachsene Herrschaften zahlen gar Nichts und Säuglinge unter zwölf Jahren die Hälfte!«

»So recht, Jeremias,« lachte Günther – »ist die Gesellschaft versammelt?«

»Alle da, meine Hörrschaften,« erwiederte Jeremias mit größtem Ernste – »fehlten nur noch, wie der Dichter sagt, zwei lumpige Personen« – und damit stieg er die Treppe vor ihnen hinauf, riß die Thür auf und meldete:

»Herr Baron, Günther von Schwartzau mit – Donnerwetter, ich weiß ja Ihren Namen nicht!«

Oskar lachte g'rad' hinaus, und auch der Director konnte ein Lächeln nicht unterdrücken; nur die Frau Gräfin schoß einen zürnenden Blick auf den tactlosen Diener, und Baron Jeorgy schien ebenfalls bis in die Fingerspitzen hinein empört, über diese Mißhandlung jedes Anstandes, jeder Sitte. Günther übrigens, ohne sich im Geringsten außer Fassung bringen zu lassen, nahm Felix bei der Hand, ging mit ihm auf die Gräfin zu und sagte mit einer leichten Verbeugung:

»Gnädige Frau, Sie waren so gütig, mich und Freund Randolph auf heute Abend einzuladen, und ich erlaube mir deshalb, uns Beide hier vorzustellen.«

Die Frau Gräfin machte eine stumme Verbeugung gegen Herrn von Schwartzau, die nur an der äußersten Kante den neben ihm stehenden Freund einschloß; Helene aber, die hinter ihrer Mutter gestanden, trat jetzt vor, und von Schwartzau die Hand reichend, sagte sie herzlich:

»Sie haben mir besonders eine große Freude gemacht, daß Sie der Einladung gefolgt sind, denn draußen im Walde wurde mir ja gar keine Zeit gegeben, Ihnen so herzlich für die Hülfe zu danken, die Sie mir geboten, wie ich es wohl gemocht.«

»Comtesse,« sagte Günther, wirklich überrascht von der fast wunderbaren Schönheit des Mädchens – »so sehr wir den Unfall Ihretwegen bedauert haben, so glücklich hat uns der kleine Dienst gemacht, den wir Ihnen leisten durften. Übrigens muß ich die Haupthandlung vollkommen von mir abwenden, denn Freund Randolph hier war der eigentliche Held des Morgens, indem er sich Ihrem Pferd entgegenwarf.«

Helene hatte sich mit ihrem Danke gegen beide Männer gewandt gehabt, aber während sie sprach doch immer nur Günther angesehen, und höchstens einmal ihren Blick wie scheu zu seinem Begleiter, aber nie bis zu dessen Antlitz erhoben. Jetzt konnte sie es nicht länger vermeiden, und auch ihm die Hand reichend und tief dabei erröthend, sagte sie, aber nicht mehr so zuversichtlich, als vorher:

»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich war an jenem Morgen so mit meinem wild gewordenen Thier beschäftigt, daß ich wirklich kaum mehr hörte oder sah, was um mich her vorging – viel weniger denn hätte Personen unterscheiden können. Nehmen auch Sie meinen herzlichsten Dank.«

»Bitte, mein gnädiges Fräulein,« sagte Felix ruhig, indem er die gebotene Hand nahm, leicht an seine Lippen hob und dann wieder los ließ – »machen Sie keine Umstände. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich dem Pferd nur aus einer Art von alter Angewohnheit entgegen sprang. Ich kann nämlich keine durchgehenden Pferde leiden, und fahre ihnen stets in den Weg, wo ich sie eben treffe.«

»Sie wollen also damit sagen,« lächelte der Director, »daß Sie dem Pferde mehr des Pferdes als der Reiterin wegen in den Zügel fielen.«

»Genau dasselbe,« sagte Felix, sich hoch aufrichtend und den Director ansehend – »mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Herr Director von Reitschen,« sagte Günther, ihn vorstellend, und die beiden Männer verbeugten sich vornehm gegen einander.

»Der Herr Randolph hat etwas sehr Anständiges in seinem Benehmen,« flüsterte Baron Jeorgy leise der Frau Gräfin zu, neben der er stand.

»Finden Sie?« sagte die Gräfin und musterte den Fremden mit einem gleichgültigen Blick; sie hatte ihr Auge auch schon wieder von ihm abgewandt, als es noch einmal dahin zurückkehrte und ihn aufmerksamer betrachtete. Wo hatte sie denn das Gesicht schon einmal in ihrem Leben gesehen?

Helene erröthete noch tiefer, als der junge Fremde ihren Dank auf so fast leichtfertige Art zurückwies; sein ganzes Benehmen dabei war aber so achtungsvoll und gewandt, daß sie ihm auch wieder nicht böse sein konnte.

Jeremias störte die Unterhaltung auf sehr directe Weise, indem er ein sehr großes Theebret mit einer Anzahl Tassen und Rahmgießer, Zuckerdose und Rumflasche mitten zwischen die Gruppe hineinschob und auf das Verbindlichste fragte:

»Irgend Etwas gefällig? Bitte, langen Sie zu. Herr von Schwartzau – hurrjeh, jetzt hätten Sie gleich die Rumflasche mit dem Ellbogen heruntergefegt!«

Bald war der Thee allgemein und eben so das Gespräch, denn der Thee verschwemmt eigentlich jede Gesellschaft, und eine ernsthafte oder geistreiche Unterhaltung ist bei häufigem Genuß von Thee kaum möglich. Er schläfert viel mehr ein, als daß er aufweckt, und daher sehr häufig die entsetzlichen Folgen, wenn bei Vorlesungen auch noch Thee umhergereicht wird.

Sehr natürlicher Weise drehte sich aber das Gespräch anfänglich fast ausschließlich um die Tagesbegebenheit – die Auction des Meier'schen Gutes und Eigenthums, den Selbstmord der Frau und den raschen, geheimnißvollen Abzug von Vater und Tochter, der mehr einer Flucht als einer wirklichen Abreise glich. Günther dankte auch Gott im Stillen, daß Könnern die Einladung ausgeschlagen, denn jedes Wort hier wäre ein Messerstich für ihn gewesen.

»Apropos, Herr von Schwartzau,« wandte sich endlich der Director an diesen – »will sich denn Ihr Freund Könnern bleibend bei uns niederlassen? Wie ich erst verstand, war er blos auf einer Durch- oder vielmehr Kunstreise hier. Nach den bedeutenden Einkäufen aber, die er heute, besonders an Möbeln und anderen, schwer zu transportirenden Gegenständen gemacht, sieht es doch viel eher aus, als ob er sich hier eine Wirtschaft und einen eigenen Heerd gründen wolle.«

»Ich muß sehr bedauern, Ihnen darüber keine genaue Auskunft geben zu können, Herr Baron,« sagte Günther, »denn ich selber habe hier das Erste von diesen Einkäufen gehört. Möglich, daß er dazu den Auftrag von Herrn Meier selber bekommen, denn so viel ich weiß, gedenkt jener Herr hierher zurückzukehren. Er hat wahrscheinlich nur das Überflüssige verkaufen lassen.«

»In der That? Und waren Sie näher mit der Familie befreundet?«

»Ganz und gar nicht – ich habe das Haus kurz vor ihrer Abreise zum ersten Male betreten.«

»Sonderbar,« sagte der Director; »es scheint eigentlich Niemand im ganzen Ort zu sein, der sie kennt.«

»Ich weiß Niemanden. Sie haben wenig oder gar keinen Umgang mit Fremden gehabt.«

»Und weshalb die Frau den Tod könnte gesucht haben?«

»Das Geheimniß ruht wohl mit ihr im Grabe,« sagte Günther ausweichend, »denn ich glaube nicht, daß die Familie selber darüber Auskunft geben würde. Sie soll übrigens immer tiefsinnig gewesen sein, und es ist möglich, daß die vollkommen abgeschiedene Lebensweise nicht wenig dazu beigetragen hat, eine solche krankhafte Idee zum Ausbruch zu bringen.«

»Sehr wahrscheinlich,« sagte der Director – er sah, daß er aus Günther Nichts weiter herausbringen würde, selbst wenn dieser wirklich um Eins oder das Andere gewußt hätte.

Das Gespräch drehte sich endlich wieder anderen Gegenständen zu, und Jeremias reichte zum zweiten Mal den Thee zwischen die Frau Pastorin und Madame Rohrland hinein, die eben tief in wirthschaftliche Dinge verwickelt waren.

»Ja,« entgegnete die Frau Pastorin auf eine Äußerung der andern Dame bezüglich des Strickens, indem sie Jeremias die wieder gefüllte Tasse abnahm und sich Zucker und Milch nahm – »das ist gar Nichts – denken Sie nur, was ich für Füße zu versorgen habe, die Strümpfe verlangen. Ich muß für meinen Mann und mich, für meine fünf Kinder und auch noch für den Schwager von meinem Mann, also für acht Personen, stricken.«

»Alle Wetter!« sagte Jeremias erstaunt – »für zweiunddreißig Beine!«

Die Frau Pastorin warf ihm einen wüthenden Blick zu und Jeremias ging weiter, wo Herr von Pulteleben neben Helenen und dem Director stand.

»Trotzdem, daß wir selber bei den Cigarren interessirt sind,« lachte Helene, »so halte ich es doch für eine entsetzliche und fatale Gewohnheit, die aber eben nicht abzuschaffen ist und deshalb ertragen werden muß.«

 

»Und doch stände es in der Gewalt der Damen, das zu thun,« sagte der Director galant; »die jungen Damen sollten sich nur alle verschwören, keinen Mann zu küssen der raucht.«

»Das hälfe gar Nichts,« meinte Jeremias trocken, indem er das Theebret vorschob – »bitte, langen Sie zu, mir schläft der Arm schon ein – die jungen Damen sollten sich lieber verschwören, Jeden zu küssen der nicht raucht – was nachher für ein Gereiße um den Herrn Director wäre!«

Helene und Herr von Pulteleben lachten dieses Mal und der Director sah Jeremias über die Schulter verächtlich an, was aber an diesem ruhig abprallte.

Oskar, welchen die Gesellschaft langweilte, hatte sich an's Instrument gesetzt und spielte einen Walzer, aber so falsch und außer allem Tact, daß ihn selbst seine Mutter bat, aufzuhören.

»Bitte, Comtesse,« fragte der Director, »wollten Sie nicht die Freundlichkeit haben und uns Etwas zum Besten geben? Ich habe schon so viel von Ihrem Spiel gehört, aber noch nie die Freude gehabt, selber Ohrenzeuge zu sein.«

Helene verneigte sich leicht, zog ihre Handschuhe aus und ging auf das Clavier zu. Jeremias blieb mit dem Theegeschirr vor Herrn von Pulteleben stehen.

»Und sind Sie nicht musikalisch, würdiger Greis?« sagte der junge Mann, indem er zulangte und sich eine Tasse bereitete.

»Ich leider nicht,« meinte Jeremias, indem er zusah, wie sich Jener ein Stück Zucker nach dem andern in die Tasse warf – »aber ich stamme aus einer ganz musikalischen Familie.«

»So?«

»Ja,« sagte Jeremias – »ich habe drei Schwestern, die sind alle musikalisch, die eine schlägt das Clavier, die andere spielt das Pianoforte und die dritte ist Witwe – nehmen Sie nicht noch ein Stückchen Zucker?«

»Ruhig da,« sagte Günther, als Helene gerade zu präludiren begann, und Jeremias drückte sich mit dem jetzt überall herumgereichten Bret zur Thür hinaus.

Helene, die einen vortrefflichen Lehrer gehabt, spielte wirklich wunderschön, und das Beste dabei, mit tiefem Gefühl – und wie seelenvoll trug sie jetzt das Adagio von Mozart vor, wie kräftig und frisch sprang sie zu dem Allegro über, durch das immer und immer wieder die süßen und wehmüthigen Klänge zuckten.

Felix lehnte mit in einander geschlagenen Armen an dem Fenster nächst dem Clavier. Er hatte kalt und gleichgültig bleiben wollen, aber die Töne sprachen zu mächtig zu ihm. Es war die nämliche Melodie, mit der ihm Helene, als er den letzten Abend unter ihrem Fenster gespielt, geantwortet hatte, und jetzt – er deckte seine Augen mit der Hand, und Alles, was ihn umgab, schwamm in einem wilden, wirren Chaos zusammen, aus dem nur die Töne wie Sphärenmusik zu ihm herüber drangen.

Jetzt schwiegen sie – »Bravo, Bravo, vortrefflich – wirklich meisterhaft!« tönte es von allen Seiten – nur Felix wandte sich ab und schaute stumm und still in die dunkle Nacht hinaus, deren frischer Luftzug seine Schläfe kühlte – die leeren Beifallsphrasen thaten ihm weh.

Ein anderer Spieler hatte den Platz am Pianoforte eingenommen – die junge Frau Rohrland, die eine sehr hübsche Polka ganz allerliebst und mit großer Fertigkeit abspielte. Felix hörte es gar nicht, als eine leise Stimme an seiner Seite sagte:

»Sind Sie nicht auch musikalisch?«

Der junge Mann schrak empor, als ob er einen Stich in's Herz bekommen hätte, und als er sich wandte, stand neben ihm Helene, das liebe Antlitz fragend zu ihm aufgehoben, während der Glanz der Lichter ihr goldblondes Haar wie mit einem Heiligenscheine zu umgießen schien.

»Sind Sie nicht auch musikalisch?« wiederholte Helene die Frage, als sie sah, daß sie der Fremde fast verwirrt anstarrte, als ob er die Worte überhört hätte.

»Ich? – Nein,« stammelte Felix und biß die Zähne auf einander, daß er sich, gerade dem Mädchen gegenüber, so schwach und unbeholfen gezeigt – »nein, Comtesse,« wiederholte er fest, und fast rauh – »mir träumte einmal, daß ich spielen könnte – aber die Zeit liegt dahinten und – ich sehne sie auch nicht zurück.«

»Und hören Sie gern Musik?« fragte Helene weich.

»Nein,« erwiederte der junge Graf nach einigem Zögern – »Musik sollte ein Genuß, eine Erholung für uns sein, und mir – reißt sie nur immer wieder alte Erinnerungen und Bilder wach, die besser abgethan im Dunkeln schlafen. Ich hasse Musik!«

»Oder fürchten sie,« sagte Helene ernst.

»Fürchten? Es giebt wenig, was ich auf der Welt fürchte, Comtesse – und doch könnten Sie Recht haben – ich fürchte sie vielleicht.«

»Und bietet uns nicht auch gerade die Musik so manchen süßen Trost in Schmerz und Leid!«

»Sie reden, Comtesse,« sagte Felix, fast spöttisch lächelnd, »als ob Sie schon ein Leben voll bitterer Erfahrungen hinter sich und nicht – einen Blumengarten knospender Erwartungen vor sich hätten.«

»Lieber Gott,« sagte das junge Mädchen unbefangen – »Jeder von uns trägt seine Last an Sorgen und Schmerz, die sich oft hinter der glattesten Stirn verstecken – wer will sagen, daß er die schwereren trüge. – Aber wir werden zu ernst,« brach sie freundlich ab – »wissen Sie, Herr Randolph, daß wir Beide eine merkwürdige Übereinstimmung in unseren Träumen haben?«

»Wir Beide?«

»Ja – auch mir träumte neulich einmal, daß Sie – spielen könnten, und doch hatte ich Sie selber kaum mehr als einmal und nur flüchtig auf der Straße gesehen. Finden Sie das nicht wunderbar?«

»Allerdings – sehr wunderbar!« rief Felix und schaute überrascht zu ihr auf, Helene sah ihn aber so ruhig und unbefangen an, daß er den Kopf wieder abwandte und sagte: »Aber wer kann für seine Träume? Sie kommen eben und gehen, und drücken dabei trotzdem ihre Fährten in unsere Erinnerung, daß wir in späteren Jahren die wirklichen von den geträumten kaum noch unterscheiden können. Lassen Sie uns Beide unsere Träume vergessen.«

Dunkles Roth schoß in Helenens Züge und ihre Lippen öffneten sich wie zu einer Erwiederung, aber kein Wort verließ sie, und der laute Applaus der eben beendeten Polka, bei dem besonders Pastor Beckstein mit seinen breiten Händen wacker arbeitete, brachte die Gesellschaft wieder unter einander, die sich jetzt um Frau Rohrland drängte und ihren Dank für den Genuß aussprach. Helene wurde dadurch ebenfalls von Felix getrennt, und Oskar's laute Ankündigung, daß der Tisch gedeckt sei und der Gäste harre, machte überhaupt jede weitere Unterhaltung unmöglich.