Die Colonie

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Es war das der nämliche Platz, wo der Director damals die verkehrten Arbeiten des von der Frau Präsidentin herübergeschickten Vermessers unterbrochen hatte, und alle Drei wandten nun ihre Thiere, um auf den breiteren Weg zurückzukehren.

Als sie die Laube passirten, warf Könnern freilich den Blick hinüber, um nach der freundlichen Gestalt zu suchen; aber wie eine Erscheinung war sie verschwunden, und nur auf der Bank, auf welcher sie gesessen hatte, lagen ein paar Blumen, die sie wahrscheinlich mit heraufgenommen und in der Eile ihres Rückzuges auf dem Sitze liegen gelassen hatte.

Könnern, der jetzt voranritt, hatte die Blüthen augenblicklich bemerkt, und ehe er sich selber über das, was er that, Rechenschaft geben konnte, hielt er an, stieg vom Pferde und schnallte seinen Sattelgurt ein Loch empor. Dadurch gab er seinen Begleitern Zeit, an ihm vorüber zu reiten, und als er sie voraus sah, trat er rasch in die Laube, nahm die Blumen, legte sie in sein Taschenbuch, stieg dann wieder auf und folgte, ohne sich umzusehen, den Vorausgerittenen. - Und doch hatte ihn dieses Mal sein sonst so scharfes Auge im Stiche gelassen, denn hinter einem kleinen Dickicht der hier gerade sehr üppig wachsenden Flachs- oder Tucung-Pflanze, hinter das sich Elise zurückgezogen, um die Fremden erst vorüber zu lassen, hatten ein Paar lächelnde Augen seinen unschuldigen Raub beobachtet und folgten ihm, bis sich der Wald wieder hinter ihm schloß.

Könnern überholte seine Begleiter dicht am Hause des menschenscheuen Meier, der aber durch einen geschickt gefällten Baum die Passage so gelegt hatte, daß sie nicht unmittelbar /66/ an seinem Garten vorüberführte, sondern diesen durch sorgfältig gepflegte Büsche vollständig verdeckt hielt.

„Hier wohnt der sonderbare Kauz," sagte der Director. mit der Hand in das Dickicht zeigend, durch welches das Dach nur undeutlich herausschimmerte. „Wenn mit dem Manne nur irgend ein Umgang wäre, wollte ich vorschlagen, daß wir anhielten und ihm wenigstens guten Tag sagten. Schade um das allerliebste Mädchen, das der alte Brummbär hier wie eine Nonne gefangen hält."

„Eine Brünette?" fragte Könnern.

„Ja," erwiderte der Director; „aber wie, zum Teufel, haben Sie das schon ausgefunden? Sie sind doch, so viel ich weiß, zum ersten Mal in der Colonie."

„Hätten es die Herren nicht gerade so gemacht wie der vorige Landvermesser," lachte Könnern, „und die Variation auf der verkehrten Seite der Nadel gesucht, so würden sie, nur ein paar Striche aus dem Cours, eine allerliebste junge Dame im Walde gesehen haben, die sich da draußen mit irgend einer Lectüre die Zeit vertrieb."

„Und davon haben Sie uns kein Wort gesagt?" rief Günther.

„Ich durfte Sie doch nicht stören," lächelte der junge Mann; „übrigens glaubte ich auch, daß wir sie auf dem Wege hierher überholen würden; sie muß sich aber auch sehr geeilt haben, um uns voraus zu kommen."

„Merkwürdige Leute," meinte der Director kopfschüttelnd; „aber jedenfalls werden Sie mit dem Alten bekannt werden, Schwartzau, denn Sie müssen ihn aufsuchen, wenn Sie auf seinem Lande die Vermessung beginnen, damit er dabei ist und die Grenzen kennen lernt. Er wird es sich auch wahrscheinlich nicht nehmen lassen, die Eckbäume selber dauernd zu bezeichnen, und das erspart Ihnen gleich eine Arbeit."

„Dann begleite ich Sie," sagte Könnern, „ich interessire mich für alle Originale."

„Besonders wenn es Brünetten sind, wie mir scheint," lachte der Director; „Sie mögen aber immerhin in diese Gegend einen kleinen Jagdzug machen, denn wenn Sie der dichte Wald nicht stört, finden Sie doch wohl hier und da ein /67/ Stück Roth- oder Schwarzwild, oder vielleicht gar einen Tapir, die hier zuweilen ebenfalls vorkommen. Jetzt aber, meine Herren, dürfen wir unsere Zeit nicht länger vergeuden, wenn wir den andern Strich ebenfalls besuchen wollen. Sobald wir weiter oben die ordentliche Straße erreicht haben, können wir auch unsere Thiere besser ausgreifen lassen." - Und dem seinigen die Sporen gebend, trabte er, so rasch es ihm der noch ziemlich unebene Boden gestattete, auf dem schmalen Wege hin in den Wald hinein.

So wenig sie aber dabei von den Einwohnern des Platzes gesehen hatten, so waren sie doch nicht eben so unbeachtet daran vorübergeritten, denn der Eigenthümer des Hauses schien sich für alle Fremden lebhaft zu interessiren, wenn er auch nicht mit ihnen in persönliche Berührung kommen wollte.

Zu diesem Zwecke hatte er sich eine ordentliche kleine Warte gebaut, in welche die eine Ecke seines Gartens, ohne von außen bemerkbar zu sein, auslief. Das war zugleich sein Lieblingsplatz geworden, wenn er keine andere Arbeit vorhatte, und er las oder schrieb gerade dort am liebsten, da er sich hier vollkommen ungestört wußte.

Das letzte Gespräch der Männer war gerade vor diesem Ausguck gehalten, und Meier, der mit einem Buche in der Hand in seiner Laube saß, dadurch auf die Fremden aufmerksam geworden. So lange sie da draußen hielten, lauschte er auch ihrem Gespräche, und erst als sie ihren Weg fortgesetzt, nahm er sein Buch wieder auf. Aber er schien keine rechte Lust zum Lesen zu haben, denn er legte das Buch nach einiger Zeit wieder hin, ging eine Weile mit auf den Rücken gelegten Händen und gesenktem Haupte in seiner Laube auf und ab, seufzte ein paar Mal recht tief auf und schritt dann langsam zu seiner Wohnung und in das Zimmer seiner Frau, die, mit einer Arbeit beschäftigt, am Fenster saß.

Sein Blick suchte Elisen, aber sie war nicht im Zimmer, und erst nach einer Weile kam sie durch die kleine Gartenpforte, die hinaus in den Wald führte, herein und zu der Mutter, wo sie Hut und Buch ablegte und sich still an das dort stehende Instrument setzen wollte.

„Du warst im Walde, Lieschen?" fragte der Vater. /68/

„Ja, Papa."

„Und bist dort Fremden begegnet?"

Das junge Mädchen sah rasch und erstaunt zu ihm auf, erröthete auch leicht, sagte dann aber lächelnd:

„Woher weißt Du das schon, Papa?"

„Und hast Du nicht den nämlichen Spaziergang hier im Garten?" fuhr der Vater fort, ohne ihre Frage zu beantworten; „ich habe Dich schon so oft gebeten, nicht dort hinaus zu gehen, wenigstens nicht an Sonntagen, wo das müßige Volk aus der Ansiedelung nur immer in der Nachbarschaft umherschwärmt!"

Die Mutter hatte bei Beginn des Gespräches ihre Arbeit in den Schooß sinken lassen, und ihre Miene verfinsterte sich mehr und mehr. Jetzt aber nahm sie für die Tochter die Antwort auf und sagte:

„Und willst Du sie nicht lieber ganz in ein Kloster sperren? Das wäre doch jedenfalls das Einfachste, damit sie wenigstens gar kein Mensch mehr zu sehen bekäme - nicht einmal einer der am Sonntag herumlaufenden Bauern."

„Aber, Bertha!" sagte Herr Meier, erstaunt zu seiner Frau aufsehend.

„Ach was," erwiderte diese, „was zu arg ist, ist zu arg! Das Mädel ist jetzt zwanzig Jahr alt geworden, und wird versteckt gehalten, als ob wir uns schämen müßten, das junge Blut der Welt zu zeigen?'

„Aber, Bertha, Du weißt doch… “ sagte der Mann vorwurfsvoll.

„Ach, ich weiß Alles!" erwiderte die Frau; „aber man kann eine Sache auch übertreiben, und ich bin nicht im Stande, das noch länger so ruhig mit anzusehen. Hier in diesem abgelegenen Winkel der Welt hast Du doch wahrhaftig nicht zu..." Sie unterbrach sich rasch und nahm ärgerlich ihre Arbeit wieder auf, die sie jedoch unschlüssig in der Hand behielt, während Elise freundlich sagte:

„Laß sein, Mütterchen; wenn dem Vater damit ein Gefallen geschieht, kann ich ja auch den kleinen Spaziergang recht gut entbehren. Er hat Recht, es ist hier im Garten /69/ wirklich eben so hübsch wie da draußen, und ich kann mir hier die nämliche Bewegung machen."

„Ach, das verstehst Du nicht!" fuhr die einmal gereizte Frau fort; „ich hab's jetzt auch selber satt. Sieben Jahre sitzen wir nun hier, wie die Gefangenen zwischen Büsche und Bäume eingeklemmt, während die Ansiedler da unten sich ihres Lebens freuen und nur ihr fröhlicher Lärm manchmal zu uns herübertönt; sieben Jahre lang haben wir ein Leben geführt, daß es einen Stein erbarmen möchte, und ich sehe keinen Grund, weshalb wir uns jetzt noch länger wie Einsiedler in unsere Klause vergraben sollen. Ich weiß Alles, was Du mir dagegen einwenden könntest, Franz," sagte sie, einem Blicke ihres Mannes begegnend, „ich habe mir Alles zehnmal, hundertmal überlegt, aber ich selber halte es nicht länger aus. Ich will frei sein, oder ich lasse mich lieber gleich ordentlich begraben und einen Stein mit Namen und Jahreszahl oben darauf setzen. Nachher weiß ich es einmal nicht anders, und brauche doch hier wenigstens nicht eine Ewigkeit allein zu sitzen und meinen eigenen Gedanken nachzuhängen, über die man am Ende gar noch wahnsinnig werden könnte."

Ihr Gatte antwortete nicht. Er hatte sich gegen den Tisch gewandt, dort den Kopf auf den Arm gestützt und barg das Gesicht in der linken Hand. Endlich hob ein schwerer Seufzer seine Brust, und Elise, zu dem Vater tretend, schlang ihren Arm um seine Schulter, lehnte ihre Stirn auf sein Haupt und sagte freundlich:

„Sei nicht traurig, Papa - Mutter meint es ja nicht so böse. Dir ist nun einmal Deine Einsamkeit so lieb geworden, daß Du jede Störung darin fürchtest und Dich immer mehr in Dich selber zurückziehst. Versuch' es einmal draußen unter den Menschen, vielleicht gefällt Dir's selber bei ihnen, denn glücklich fühlst Du Dich ja hier in Deiner Einsamkeit auch nicht immer, in der ich Dich oft schon in recht trauriger und niedergeschlagener Stimmung überrascht habe. - Geh wieder zwischen die Leute - verkehre mit ihnen und lasse sie mit Dir verkehren, und wenn weiter nichts, bekommst Du doch dadurch Zerstreuung, und hast für stille Stunden, /70/ in denen Du das Bedürfniß fühlst, allein zu sein, ja immer Dein trauliches Plätzchen hier oben."

 

„Laß ihn gehen," sagte die Frau unmuthig; „was liegt ihm an uns - an Dir oder an mir, wenn er sich selber nur eine Grille in den Kopf gesetzt hat, der er nachhängt, seines eigenen Vergnügens halber."

„Und das sagst Du mir, Bertha?" fragte der Mann, erstaunt zu ihr aufsehend, „dessen klagst Du mich an?"

„Nur eine Grille ist's, weiter nichts," erwiderte die Frau, ohne die Frage direct zu beantworten, „eine fixe Idee, die Du Dir in den Kopf gesetzt hast, und womit Du Dich und uns elend machst. So viel Verstand habe ich aber auch, daß ich einsehe, wie Du uns Alle ganz vergebens quälst, und kurz und gut, ein Leben wie das hier halte ich nicht länger aus, mag nun auch daraus werden, was da will."

„Was da will," wiederholte leise und mit einem Seufzer der Mann, stand dann auf und verließ langsam das Zimmer.

„Zanke nicht mit dem Vater, liebe Mutter," bat Elise, als er die Thür hinter sich in's Schloß gedrückt hatte, „er ist so schon traurig genug, und das drückt ihn nachher nur noch immer mehr nieder."

„Ach was," erwiderte mürrisch die Frau, „ich habe das langweilige Leben endlich satt, und mehr noch Deinet- als meinetwegen!"

„Aber ich sehne mich ja gar nicht hinaus, Mütterchen, ich verlange es ja gar nicht besser, als ich es bei Euch habe."

„Weil Du es eben nicht besser kennst und nach und nach hier eintrocknen wirst wie eine Blume zwischen Löschpapicr," lautete die Antwort. „Du bist ein junges Mädel und mußt hinaus in die Welt, das ist Dir Dein Vater, das bin ich Dir schuldig, und wenn Du nichts von der Welt verstehst, so bin ich dafür da, daß ich Deine Ansprüche vertreten muß, oder Du hättest ein Recht, mir später einmal die bittersten Vorwürfe darüber zu machen."

„Aber der Vater...."

„Ist ein Träumer, der überall Gespenster fleht, weiter nichts, und der sich jetzt die Fenster verhängt und immer nur Nacht um sich haben will. Kommt erst einmal der /71/ wirkliche Sonnenschein zu ihm herein, so wird er auch einsehen, daß er nur geträumt hat. Daß Du ihm dabei noch das Wort redest, ist das Albernste, was Du thun kannst, und ich hätte von Dir gerade das Gegentheil erwartet. - Du bist alt genug, Elise, daß Du auch an eine Heirath denken kannst, und wen sollst Du denn hier in unserem Garten kennen lernen, wer kann Dich hier finden, wo Dich Dein Vater sogar vor ein paar müßigen Spaziergängern verstecken will?"

„Aber, liebe Mutter," sagte Elise mit tiefem Erröthen, denn sie mußte sonderbarer Weise gerade in diesem Augenblick an den jungen Fremden im Walde und an seinen Blumendiebstahl denken, „das hat denn doch wohl noch lange, lange Zeit, und wenn der Vater -"

„Ach was," unterbrach sie die Mutter, „Du redest wie der Blinde von den Farben - Du bist zwanzig Jahr alt, Eliese, und wenn wir die nächsten sieben Jahre noch so fort leben, wie die letzten, so bist Du siebenundzwanzig und kannst dann auch siebenunddreißig und siebenundvierzig werden, ohne daß sich Jemand weiter um Dich bekümmert. Nein, dafür muß ich, Deine Mutter, sorgen, und - überlaß Du mir das nur; ich werde schon mit Deinem Vater fertig."

Damit war das Gespräch für jetzt abgebrochen. Die Mutter begann wieder an ihrer indessen vernachlässigten Arbeit, und Elise ging in ihr Stübchen hinaus, um über eine ganze Menge der verschiedensten Dinge nachzudenken, die ihr heute durch den Sinn gingen und den Kopf fast wirr machten. Sonderbar, daß ihre Gedanken dabei immer zu dem jungen Fremden zurückflogen, den sie doch nur den kurzen Augenblick gesehen! Weshalb mußte die Mutter auch gerade heute von ihrer Heirath sprechen und dabei sagen, daß es die höchste Zeit sei, an etwas Derartiges zu denken?

Es war Abend und Nacht geworden, als die Sonne kaum hinter den hellblauen Gebirgsrücken im Westen untergegangen war und vorher noch die leichten darüber lagernden Wolkenzüge mit ihrem schönsten und rosigsten Licht übergössen hatte. Rasch erbleichten aber die nur zu momentanem Leben angehauchten Nebelbilder, und wie sie kaum erst in ein prachtvolles /72/

Silbergrau übergingen, nahm dieses schon jene todte, bleigraue Färbung an, der die Dunkelheit in den Tropen fast unmittelbar folgt.

Die Comtesse Baulen hatte ihr Zimmer noch nicht wieder verlassen und ging, die Arme auf der Brust gekreuzt, das Kinn auf die zarte Korallenschnur gesenkt, die ihren Hals schmückte, mit raschen, unruhigen Schritten in dem kleinen Gemache auf und ab. Sie sah dabei nicht einmal, daß es dunkelte und nach und nach völlig Nacht geworden war; sie hörte nicht, daß ihre Mutter draußen schon zweimal angeklopft und ihren Namen gerufen hatte. Nur die eigenen unruhigen Gedanken beschäftigten ihren Geist, nur das eigene unruhig pochende Herz hielt sie oft krampfhaft mit beiden Händen fest, bis sie sich endlich, körperlich ermattet, in einen Stuhl warf und dort wohl wieder eine volle Stunde lang in dumpfem Brüten saß.

Aber die Dunkelheit wurde ihr zuletzt unerträglich. Sie stand auf, zündete Licht an und griff dann das erste beste Buch auf, um sich zu zerstreuen und ihre Gedanken in eine andere Bahn zu lenken. Da plötzlich horchte sie auf, denn aus dem Garten, oder wenigstens aus den Büschen, die ihn dicht umschlossen, trafen die melodischen Töne einer Violine ihr Ohr.

Es war die leise und klagend zum Herzen sprechende Melodie des Thüringer Volksliedes: „Ach, wie ist's möglich, daß ich dich lassen kann"3, und wie mit einem scharfen Weh durchzuckte sie das einfache, rührende Lied. Aber wer spielte da? Zuerst glaubte sie, daß es Jemand aus der Ansiedelung sei, der da zufällig vorübergehe - aber der Spieler blieb auf derselben Stelle, und durch das offene Fenster klangen die Töne, so leise er auch spielte, voll und klar herein. -

Jetzt war Alles ruhig - nur die Grillen zirpten und aus dem Walde heraus tönte das Gequak der Frösche.

Helene athmete ordentlich tief auf, als die schwermüthige Melodie geendet hatte; es war, als ob eine Last von ihrer Seele genommen wäre, und sie trat an das Fenster, um in die wundervolle, sternenhelle Nacht hinaus zu schauen. /73/

Da quollen auf's Neue die Töne von derselben Stelle herauf, aber dieses Mal in einem wilden Capriccio, von einer Meisterhand gespielt, das in die tollsten Variationen überging und sich doch immer wieder zuletzt in das einfache, zuerst angeschlagene Thema des Volksliedes auflöste.

Helene trat scheu und erschreckt vom Fenster zurück. Galt das ihr? Und wer war es denn, der ihr hier auf solche Weise seine Huldigung brachte? Vollrath vielleicht, aber sie wußte genau, daß er gar nicht Violine spielte - und wer dann? Der junge Schulmeister im Orte, der sie oft mit seiner Aufmerksamkeit geärgert hatte, war ein Violinspieler, aber ein Stümper, und diese Saiten belebte eine Meisterhand.

Ohne recht zu wissen, was sie that, löschte sie das Licht aus, um dadurch die Aufmerksamkeit des Unbekannten wieder von ihrem Fenster abzulenken - aber das gelang ihr nicht. Der räthselhafte Spieler ließ sich dadurch nicht stören; nur das Capriccio zerschmolz nach und nach in immer weichere Melodien, bis die Töne zuletzt mehr und mehr verhallten und wieder, wie vorher, das Schweigen der Nacht auf dem Walde lag.

Helene wußte selber nicht, wie ihr geschah. Daß jenes Ständchen ihr galt, konnte sie sich nicht verhehlen, und in dem melodischen Spiele, in den vaterländischen Weisen schmolz der starre Trotz des schönen Mädchens. Als die Melodie da draußen schon lange verklungen war, saß sie noch immer, von der Gardine gedeckt, am offenen Fenster, und fühlte nicht einmal, wie ihr die Thränen zwischen den zarten Fingern durch voll und schwer in den Schooß tropften.

Unten im Hause war der geheimnißvolle Musiker indessen auch nicht unbeachtet geblieben. Oskar, der noch bis Dunkelwerden seinen neuen „Sclaven" - wie er Jeremias nannte - angelernt hatte, sein Pferd zu behandeln, lag unten in der Stube auf dem Sopha lang ausgestreckt, und pfiff, zum Aerger seiner Mutter, ohne sich dadurch aber im Geringsten stören zu lassen, einen Walzer, als jenes eigenthümliche Ständchen begann.

Im Anfange hatte er ebenfalls geglaubt, daß es irgend Jemand aus der Ansiedelung sei, der mit seiner Violine da vorüber ginge. Als die Musik aber immer auf derselben Stelle /74/ blieb, erst eine Weile schwieg und dann wieder begann, schöpfte er Verdacht, daß das am Ende gar ein Ständchen sein könne, was seiner Schwester gebracht würde, und sein Muthwille ließ ihm natürlich keine Ruhe, dem auf die Spur zu kommen.

Als er zuerst aus dem Fenster horchte, täuschte ihn der laute Ton gerade wie Helenen, und er vermuthete den Spieler im Garten selber. Er schlich sich also erst aus dem Hause hinaus hinter die nächsten Büsche, und hinter diesen, von seiner dunkeln Kleidung begünstigt, immer weiter vor. Zuletzt aber kam er an die Hecke und fand jetzt, daß sich der Virtuose allerdings außer seiner Gerichtsbarkeit, aber doch nicht außer seinem Bereiche befand, denn er erkannte durch die Hecke durch beim Sternenlichte eine ebenfalls dunkel gekleidete Gestalt, die dort an einer jungen Palme lehnte.

Das Gesicht selber konnte er freilich nicht erkennen, denn einestheils beschattete es der Hut, und dann auch der Wipfel der niedern Palme selber; aber das blieb sich auch gleich, und um einen muthwilligen Streich auszuüben, dazu war ihm Freund und Feind gleich gut genug.

Im Zimmer seiner Schwester hatte außerdem noch kurz vorher Licht gebrannt und das Fenster war offen, ein Beweis, daß sie den Ständchenbringer begünstigte, und deshalb Grund genug für ihn, ihm jeden Schabernack zu spielen, der nur in seinen Kräften stand. Vorsichtig und rasch schlich er zum Hause zurück und traf hier eben noch Jeremias, der seine Arbeit beendet hatte und gerade seine eigene Heimath - eine Dachkammer bei einem der Ansiedler - aufsuchen wollte.

„Heh, Jeremias, Du mußt mir noch einen Eimer Wasser holen," redete er diesen rasch und heimlich an.

„Die Pferde haben gesoffen," sagte Jeremias, „zu viel schadet Vieh und Menschenkind."

„Ich will's nicht für die Pferde; dort steht der Eimer, aber ein bischen rasch."

„Befindet sich allerdings nicht in unserem Contract," meinte Jeremias, „aber was thut der Mensch nicht aus Gefälligkeit, junger Herr? Sollen Ihren Eimer Wasser haben," /75/ und seine Aermel aufkrämpelnd, ergriff er den Eimer und ging zu dem Brunnen vor dem Hause, von dem er ihn bald gefüllt zurückbrachte.

„So," sagte Oskar, indem er einen Theil des Wassers wieder abschüttete, „das ist ein bischen zu viel und wirft sich schlecht. Jetzt nimm einmal den Eimer, Jeremias, und komm mit mir an die Hecke da drüben, wo der verrückte Kerl die Violine quält - hörst Du den Musikanten da drüben?"

„Ja," sagte Jeremias und sah den jungen Grafen erwartungsvoll an.

„Schön " lachte der junge Bursche, „dem wollen wir einmal den Eimer über den Hals gießen, um den holden Schwärmer etwas abzukühlen."

„So?" sagte Jeremias, ohne sich von der Stelle zu rühren.

„Na, vorwärts!" rief Oskar, auf den Eimer zeigend; „mach' schnell, ich zeig' Dir den Platz, wo er steckt, meine alte Jeremiade!"

„Wissen Sie," sagte Jeremias, ohne nur eine Hand zu regen oder eine Miene zu machen, als ob er dem Befehl Folge leisten wolle, „davon steht auch nichts in unserem Contract."

„Contract? Esel," brummte Oskar, „wenn ich Dir sage, das thust Du, so thust Du es, das ist unser Contract, weiter nichts."

„So?" meinte Jeremias, der den „Esel" als selbstverständlich hinnahm - „anderen Leuten Wasser in die Violine zu gießen, widerstreitet aber meinen Grundsätzen, und wenn sich der Herr Graf eine Tracht Schläge für unbefugtes Löschen, wo‘s gar nicht brennt, holen wollen - mit dem größten Vergnügen - da steht der Eimer; Jeremias hat aber heute seinen Sonntagsrock an und ist diesen Morgen in der Kirche gewesen - was andere Leute vielleicht nicht von sich sagen können. Wünsche allerseits einen guten Abend" - und die Hände wieder in die Taschen schiebend, ging er um den Eimer herum und zur Thür hinaus, ohne sich um den Grafen weiter zu bekümmern.

Oskar sandte ihm einen herzhaften Fluch hinterher, sah /76/ aber auch ein, daß er mit dem dickköpfigen Burschen nichts ausrichten könne. Nicht gesonnen jedoch, den einmal gefaßten Plan so rasch aufzugeben, nahm er jetzt selber den Eimer und schlich damit in den Garten. Ehe er übrigens die Stelle erreichte, wo der nächtliche Musiker gestanden, verstummte die Violine. Die letzten Töne waren verklungen und der Platz leer. Oskar horchte noch eine Weile in die stille Nacht hinaus, aber das Concert war jedenfalls vorbei, das Zimmer seiner Schwester blieb dunkel, und mit einem Fluche das Wasser über die nächsten Beete gießend, nahm er den leeren Eimer zum Hause zurück.

 

5.

Elise.

Am nächsten (Montag) Morgen standen schon um sieben Uhr früh drei gesattelte Pferde vor dem Hause des Directors angebunden, denn dieser hatte versprochen, Günther zu dem Beginne seiner Arbeiten zu begleiten, und Könnern in dem Interesse, das er an der gestrigen Erscheinung nahm, ebenfalls den Wunsch ausgesprochen, sich dem kleinen Zuge, wenigstens bis in den Wald hinein, anzuschließen.

Allerdings wünschte der Director, daß er, wenn er jagen wolle, sich einen Führer mitnehmen möge, da er sich sonst leicht in den wilden und schwer durchdringlichen Wäldern verirren könne. Dies wies Könnern jedoch lächelnd zurück und erklärte, daß er zu lange in den amerikanischen, auch ziemlich dichten Wäldern gejagt habe, um etwas Derartiges zu befürchten. Ein Führer störte ihn dabei nur auf einem wirklichen Bürschgange, und er konnte sich im Walde wohl vergehen, daß er genöthigt war einen Umweg zu machen, aber nie verirren, denn er hatte sich dafür zu genau den Cours gemerkt, den der etwa zweihundert Schritt unter Santa Clara vor-/77/beiströmende Fluß nahm, und den mußte er immer wieder treffen, sobald er mit Hülfe seines Compasses die Richtung darauf zu nahm.

So früh kamen sie aber an diesem Morgen doch nicht fort, denn erstens nahm ihnen das Frühstück noch etwa eine halbe Stunde weg, und dann kamen noch eine Menge Leute, die den Director in irgend einer wichtigen oder unwichtigen Angelegenheit zu sprechen hatten, und er mußte wenigstens anhören, was sie von ihm wollten.

Es war halb neun Uhr geworden, als die drei Männer endlich mit den nöthigen Begleitern aufbrachen, die dabei alle Instrumente des Vermessers, wie auch einige Provisionen zu tragen hatten. Könnern ließ übrigens seine Mappe heute noch zu Hause und nahm nur seine Büchsflinte mit, wenn er sich auch eben keine große Jagd versprach. Der Wald ist dort zu dicht, um nahe den Ansiedelungen, wo die Bauern überdies Sonntags noch mit ihren Flinten herumknallen, irgend einen bedeutenden Erfolg zu versprechen.

Sie ritten heute gerade durch das kleine Städtchen durch, und den beiden Fremden konnte es nicht entgehen, wie sich ihre Landsleute, selbst in dem fremden tropischen Lande, so ganz heimisch angesiedelt hatten, als ob sie noch daheim im alten Vaterlande lebten.

Die Schilder an den verschiedenen Häusern trugen überall deutsche Namen in deutscher Schrift, deutsche Kinder mit ihren Flachsköpfen und dicken, gesunden, schmutzigen Gesichtern spielten vor den Thüren. Bauerfrauen in ihren wollenen rothen Unterröcken wuschen ihr Geschirr hier unter den Palmen, wie sie es daheim unter den alten Linden gethan hatten, und deutsche Handwerker, in Schurzfell und Pantoffeln, waren eifrig dabei, ihren verschiedenen Geschäften obzuliegen.

Nur ein einziges Haus passirten sie, das fremdartig aussah. Es war ein kleines niederes Gebäude, von Stein ausgeführt, mit offenen Thüren und Fenstern, durch die man in ein paar anscheinend leere Räume hineinsah - es hingen wenigstens keine Gardinen vor den Fenstern, wie sie die ärmlichste deutsche Wohnung zeigt, und die Wände sahen leer /78/ und kahl aus. Einzelne Möbel verriethen aber doch, daß dieses Haus nicht verlassen sei, und auf der einen Commode sah Könnern auch im Vorbeireiten ein paar vergoldete Porzellanvasen und einige andere derartige Spielereien stehen.

Dort wohnte der portugiesische Delegado4, und ein paar Negerjungen kauerten vor der Thür in der Sonne und ließen sich von einem grauen, vollkommen haarlosen und nackten Hunde die Gesichter ablecken.

Am Ende der Straße war die Schule; anstatt aber, daß die Kinder jetzt eifrig darin mit Lernen beschäftigt sein sollten, lärmten sie in wildem, wüstem Geschrei vor der Thür umher, prügelten sich, haschten sich und trieben allerlei tolle Spiele. Der Dircctor hielt mitten unter ihnen sein Pferd an.

„Hallo, Ihr kleine Bande," rief er aus, „was ist das? Weshalb steckt Ihr nicht da drinnen, wohin Ihr gehört, und stellt hier auf der Straße die Stadt auf den Kopf?"

„Ja, Herr Director," sagte einer der älteren Jungen, der ihn kannte, indem er die Mütze von dem struppigen Haar herunterzog, „der Schulmeister ist nicht da und die Thür ist zu."

„Der Schulmeister ist nicht da?" fragte der Director erstaunt; „und weshalb habt Ihr ihn noch nicht geholt?"

„Ja, er ist auch nicht zu Hause und die ganze Nacht nicht heimgekommen," lautete die Antwort.

Ein sehr elegant gekleideter Herr mit weißer Wäsche, goldener Uhrkette, einigen Ringen an den Fingern und einem Panamahut auf, der aber sonderbarer Weise statt der Stiefeln ein Paar sehr bunt gestickte Pantoffeln an und einen Zahnstocher hinter dem rechten Ohr hatte, kam um die nächste Ecke und grüßte den Director und seine Begleiter freundlich. Es war der Delegado.

„Ah, mein lieber Director," redete dieser Sarno in portugiesischer Sprache an, „das wird immer ärger mit unserem Schullehrer. Wie ich eben höre, haben ihn einige Nachbarn gestern Abend spät oben am Flusse, und etwa eine Legoa von hier entfernt, schwer angetrunken verlassen, und dort wird /79/ er auch wohl jetzt noch liegen, um seinen Rausch auszuschlafen. Meines Nachbars Kinder kamen heute Morgen wieder zurück, weil sie nicht in die Schulstube konnten."

„Wer ist denn das, der da die Straße herunter taumelt?" sagte Könnern, nach jener Richtung zeigend.

„Hehe, der Schulmeister, der Schulmeister!" jubelten ihm da auch schon eine Anzahl Jungen, die ihn erkannt hatten, in dem seligen Gefühl entgegen, heute wieder keinesfalls Schule zu haben, „wie er schräg geht - und jetzt stolpert er! Höh, höh, höh, der Schulmeister!"

Es war natürlich jenes unglückliche Individuum, das sich in solchem Zustande zu keinem ungünstigeren Momente hätte zeigen können. Der Director gab seinem Pferde die Sporen und sprengte ihm entgegen, und während der zeitweilige Schulmonarch die gläsernen Augen zu Sarno aufschlug, rief dieser ihn mit vor innerer Heftigkeit fast erstickter Stimme an:

„Herr, schämen Sie sich nicht, hier am hellen Tage wie eine Sau umher zu gehen, und waren Sie nicht werth, daß ich -" er schwieg, und die Hand, in der er die Reitpeitsche hielt, schloß sich ordentlich krampfhaft um den Griff derselben.

„Pfehle mich Ihnen, Herr Director," stammelte der Unglückliche mit schwerer Zunge, vergebens dabei bemüht, sich gerade zu halten, „sehr angenehm so am frühen Morgen - sehr schöner Morgen heute, Herr Director - sehr schöner Morgen."

Der Director wandte sein Pferd in Ekel von dem Trunkenen und ritt langsam zu dem Portugiesen zurück. Die Schuljugend indessen wartete nur den Moment ab, wo sie der Gegenwart dieser Beiden enthoben wäre, um mit einem wahren Jubel über ihren entwürdigten Lehrer herzufallen.

„Jetzt haben wir wieder keinen Schullehrer," stöhnte der Dircctor, bei dem Delegado angelangt.

„Der Herr scheint heute Morgen etwas aufgeregt," sagte der Portugiese mit einem spöttischen Lächeln. „Wollen wir ihn aber nicht lieber in Sicherheit bringen? Sobald wir den Rücken wenden, fällt das junge Deutschland jedenfalls über ihn her." /80/

„Ich habe nichts dagegen," rief der Director, „und wenn sie ihm die Kleider in Fetzen vom Leibe reißen! Kommen Sie, Schwartzau, kommen Sie - oh, ich vergaß, die Herren vorzustellen: Dom Franklin Brasileiro Lima - zwei Freunde von mir, Landsleute, Dom Könnern und Dom Schwartzau, der Letztere unser durch die Regierung hergesandter Landvermesser."

Der Portugiese machte eine stumme und etwas steife Verbeugung, nahm dann den Zahnstocher hinter dem Ohre vor und sammelte die Ueberreste seines Frühstücks.