Zwischen Beraten und Dozieren

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Zwischen Beraten und Dozieren
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa


Geri Thomann, Monique Honegger, Peter Suter (Hrsg.)

Zwischen Beraten und Dozieren

Praxis, Reflexion und Anregungen für die Hochschullehre

Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung, Band 2

Eine Publikation des ZHE – Zentrum für Hochschuldidaktik

und Erwachsenenbildung, Pädagogische Hochschule Zürich

ISBN Print: 978-3-0355-0919-9

ISBN E-Book: 978-3-0355-0920-5

2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Reihe Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung

Einführung und Übersicht

Geri Thomann

Grundlagen der Beratung für die Hochschullehre

Instrument 1: Fünf Phasen der Beratung – ein Grundgerüst

Monique Honegger

Studierende beim Schreiben und Lernen begleiten

Instrument 2: Phasen einer Beratung im Hochschulalltag

Daniel Ammann und Monique Honegger

«Ist meine Arbeit wissenschaftlich genug?»

Dialog zum Beraten beim Schreiben von Masterarbeiten

Instrument 3: Der Beratungskontrakt

Peter Suter

Studierende online betreuen – Beispiel einer Kurzveranstaltung nach dem Prinzip «Learning instead of teaching»

Evelyn Waser

Tutorieren im Problem-based Learning – oder die Kunst des Lehrens im Spannungsfeld zwischen Begleitung und Leitung

Instrument 4: Diagnose in der Beratung

Instrument 5: Landkarte des Fragens

Roger Johner

Begleitung von Projekten im Hochschulstudium

Urs Ingold

Praxisbeispiel: Online-Beratung in Studiengängen der PH Zürich

Instrument 6: Gesprächsführung

Reto Tremp

Zwischenräume – oder Beratungen zwischen Tür und Angel

Heinz Brunner

Intervision als Instrument der Professionalisierung und Qualitätssicherung

Instrumente 7a und 7b: Vorgehensmodell Intervision und Checkliste «Contracting» für Intervisionen

Geri Thomann und Monique Honegger

Gruppenprozesse im Lehr-/Lernalltag begleiten und beraten

Die Kultur von Vereinbarungen und ihre Förderung – ein Interview mit Elisabeth Fröhlich Luini

Register

Vorwort zur Reihe Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung

Lehren, prüfen, beraten, forschen, organisieren: Diese Themen sind Bestandteil des Aufgabenfelds von Dozierenden. Sie sind die Akteurinnen und Akteure im Wissens- und Technologietransfer durch Weiterbildung und Dienstleistungen, betreiben Projektmanagement und engagieren sich in der Qualitätsentwicklung der eigenen Hochschule.

Lehre und Unterricht an Hochschulen sowie Hochschulentwicklung sind seit der Umsetzung der Bologna-Deklaration herausgefordert: So gestalten Dozierende etwa gemeinsam Curricula oder einzelne Module, planen Leistungsnachweise, integrieren Phasen von selbstorganisiertem Lernen oder implementieren Konzepte wie Problem-based Learning in ihre Lehrveranstaltungen.

Das ZHE (Zentrum für Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung) an der Pädagogischen Hochschule Zürich unterstützt seit 2009 Hochschulen und ihre Dozierenden bei den Herausforderungen durch Weiterbildung und Beratung.

Themenschwerpunkte des ZHE sind u. a. Studierendenorientierung, Rollenvielfalt bei Dozierenden, kompetenzorientierte Lehre, erwachsenenbildnerisches Handeln, Mentoring, Tutorat, Beratung, Schreib-, Denk- und Lernförderung in Lehre an Hochschulen sowie Hochschulentwicklung, Evaluation und höhere Berufsbildung.

Die Reihe Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung regt Diskussionen über und Auseinandersetzungen um aktuelle und praxisrelevante hochschuldidaktische Fragen an. Sie stellt Dozierenden an Fachhochschulen sowie Aus-/Weiterbildungsverantwortlichen in weiteren Institutionen der Erwachsenenbildung nützliche Reflexions- und Handlungsinstrumente zur Verfügung.

Jeweils eine Person aus dem Editorialboard verantwortet in der Regel als (Mit-)Herausgeberin oder Herausgeber den jeweiligen Band. Üblicherweise erscheint ein Band jährlich.

Wir beleuchten in der überarbeiteten und erweiterten Auflage des zweiten Bands das Verhältnis von «Beraten» und «Dozieren» im Hochschulalltag aus der Perspektive der Beratung näher. Herausgebende dieses Bands sind Geri Thomann, Leiter des ZHE der PH Zürich, Monique Honegger, Gründerin des Schreibzentrums an der PH Zürich, und Peter Suter, Dozent für Medienbildung und E-Learning an der PH Zürich.

Geplant sind folgende Bände:

Band 7: Weiterbildung an Hochschulen. Über Kurse und Lehrgänge hinaus (Hrsg. Tobias Zimmermann, Geri Thomann, Denise Da Rin)

Band 8: Qualitätskultur und Qualitätsmanagement an Hochschulen (Hrsg. Michael Frais, Franziska Zellweger, Geri Thomann)

Bitte kontaktieren Sie uns für Rückmeldungen oder Ideen. Wir wünschen Ihnen viele Anregungen.

Das Editorialboard der Reihe:

Geri Thomann, Monique Honegger, Dagmar Bach und Tobias Zimmermann Zentrum für Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung

geri.thomann@phzh.ch

http://hochschuldidaktik.phzh.ch

Einführung und Übersicht

Mit der vorliegenden überarbeiteten und erweiterten Auflage des zweiten Bands der Reihe «Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung» präsentieren wir praktische Ideen, Reflexionen, Essays, Introspektionen, Dialoge und Kontrapunkte zum Themenkreis Zwischen Beraten und Dozieren.

Warum hat dieser Themenkreis eine Bedeutung für unser Zielpublikum, das vorab aus Dozierenden an Hochschulen besteht? Über das Lernen ist viel geschrieben worden und darüber, dass Lehrangebote das Lernen lediglich anregen können. Wie genau aber ein solcher Paradigmenwechsel die lehrende Tätigkeit beeinflusst, diskutiert die (Fach-)Öffentlichkeit bisher eher wenig. Unter Dozieren im Hochschulalltag wird spontan nach wie vor noch Unterrichten, Erzählen, Vorzeigen, Vorlesungenhalten assoziiert. Ein Klischee?

Wir wissen, dass sich Lernprozesse an Hochschulen überall auch anders abspielen: Projektlernen, Laborsituationen, Praktika, begleitete Online-Phase, Peergrouplearning, das Schreiben von Texten. Ebenso wissen wir, dass die Dozierenden hierbei in anderen Formen – eben beratend oder begleitend – tätig sind.

Verfügt diese «andere» Form von Dozieren über weniger Status als die traditionelle Lehrrolle? Frei nach dem Motto: «who can, does, who cannot, teaches, who cannot teach is counselling somebody».

Dass der scheinbare Widerspruch von Beraten und Dozieren in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat, veranschaulichen folgende Beispiele:

Im Rahmen des begleiteten Selbststudiums an Hochschulen erfordert E-Learning bzw. Digital-Learning notwendigerweise beratende Begleitung durch Dozierende. In institutionalisierten E-Learningsettings zeigt sich hingegen, dass das zur Verfügung stehende Zeitbudget der Dozierenden noch nicht dem steigenden Anteil der Beratungsarbeit entspricht.

 

Dank Bologna werden mehr schriftliche Arbeiten geschrieben an Hochschulen und überhaupt mehr (schriftliche) Leistungsnachweise verlangt. Die Begleitung und Beurteilung solcher Arbeiten beansprucht Dozierende zunehmend in weiteren Rollen (Beratung und Beurteilung).

Dozierende werden in der Regel als (wissensvermittelnde) Expertinnen und Experten angestellt; die neu geforderte Zurückhaltung in beratendem Sinne stellt mit Sicherheit eine Herausforderung dar.

Und doch existiert ein Bild des Experten als «wissender Berater», es hält sich im Meister-Novizen-Modell seit der Entstehung der Universitäten im Mittelalter. Hochschuldozierende beraten eigentlich gerne. Handelt es sich bei dieser Art von Beratung jedoch wirklich um diejenige Beratung, die wir meinen, wenn wir gleichzeitig betonen, Lernende seien für ihr Lernen selbst verantwortlich?

Die vorliegende Textsammlung konzentriert sich auf die Frage, wie Lehrende im Hochschulalltag beraten. Die Texte diskutieren Rahmenbedingungen und etablierte Praxen und hinterfragen, wie sich Dozierende wahrnehmen, wenn sie beraten.

Sie lassen in verschiedene Welten blicken und bilden keine konsistente Gesamtperspektive. Sie thematisieren vielmehr verschiedene Ansprüche an die beratende Tätigkeit und damit verbundene immanente Spannungsfelder. Dies ermöglicht hoffentlich eine Annäherung an ein hochschulrelevantes Beratungsverständnis und eine Diskussion darüber. Beides scheint uns dringend notwendig.

Was Beratung ist und sein kann, auch im Alltag von Lehrenden, umreisst Geri Thomann im ersten Artikel dieses Bandes.

Weil mit Bologna und der Zunahme der schriftlichen Kommunikation im Berufsalltag das Schreiben an Bedeutung gewonnen hat, stellt Monique Honegger in ihrem Beitrag Tipps und Tricks für das Anleiten und Begleiten von Schreiben in fachorientierten Modulen im Hochschulstudium zur Verfügung.

Es folgt ein Dialog von Monique Honegger und Daniel Ammann zum Thema Begleiten von Masterarbeiten.

Wie Studierende in ihren Lernprozessen online begleitet werden können und wie ein entsprechendes Lehrsetting für Dozierende aussieht, stellt Peter Suter in seinem Beitrag dar.

Das Tutorat ist eine weitere Form des Beratens. Der Projektbericht von Evelyn Waser zum Thema Tutorieren im Problem-based Learning (PBL) bietet Einsichten in die beratenden Tätigkeiten im Rahmen dieses Lehr-/Lernkonzepts.

Rogers Johners Beitrag zu Projektbegleitung in der Hochschulpraxis, die vorab aus «steuernder Beratung» besteht, bietet praxiserprobte Tipps.

Urs Ingold schildert eine praktische Umsetzung zu Online-Beratung in Studiengängen.

Das Beraten findet auch zwischen Tür und Angel statt. Dieses Zwischengespräch, scheinbar jenseits aller formalen Rahmen, fokussiert Reto Tremp in seinem Artikel.

Heinz Brunner behandelt das Thema Intervision in Dozierenden-Teams.

Arbeiten mit Studierenden bedeutet stets Arbeiten mit Gruppen. Gruppen zu leiten und zu begleiten, ist eine zentrale Tätigkeit von Dozierenden. Geri Thomann und Monique Honegger bieten hierzu einen Überblick.

Ein Interview mit der Beratungsexpertin Elisabeth Fröhlich Luini rundet die Tour d’Horizon ab. Sie äussert sich dazu, wie Lehrende sich in der Beratungsrolle finden und suchen.

Angereichert wird der Band mit Geri Thomanns Instrumenten. Es handelt sich dabei um die Idee, den Dozierenden Modelle aus der professionellen Beratung für ihre Praxis zur Verfügung zu stellen. Diese benötigen eine Übersetzungsleistung in den Hochschulalltag, besitzen einen inneren Zusammenhang und stehen in Beziehung zum ersten Text Grundlagen der Beratung.

Die Autorinnen und Autoren stellen sich jeweils zu Beginn ihrer Texte mit einem positiven Statement zu «Beratung» vor. Wir danken ihnen herzlich für das inspirierende Mitdenken und freuen uns aufs Weiterdenken.

Interessierte finden unter https://phzh.ch/de/Weiterbildung/Hochschuldidaktik-und-Erwachsenenbildung/publikationen-projekte/#ein moderiertes Gespräch der Herausgeberinnen und Herausgeber zur Thematik.

Ein grosser Dank gebührt Dominique Eigenmann, Deutschlandkorrespondent beim Tages-Anzeiger, für die Moderation des Gesprächs und Werner Burger für dessen Aufnahme, Regie und Schnitt. Ebenso danken wir Daniel Ammann für sein Mitdenken in diesem Band.

Nicht zuletzt möchten wir uns beim hep verlag (vor allem bei den Projektleiterinnen Geraldine Blatter und Katharina Roth sowie dem Verleger Peter Egger) bedanken.

Die Herausgeberin und die Herausgeber

Geri Thomann

Grundlagen der Beratung für die Hochschullehre

«Das Spannendste an Beratungen sind für mich immer wieder die Geschichten, welchen ich zuhören darf, die mich anregen und neue Welten eröffnen, in welchen wir (die zu beratende Person mit mir) zusammen Muster zu erkennen versuchen, um Hypothesen zu bilden und daraus Schlüsse zu ziehen.»

Geri Thomann, Prof. Dr. phil, dipl. Supervisor/Organisationsberater, ist Leiter des Zentrums für Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung (ZHE) der Pädagogischen Hochschule Zürich.

Einleitung

Die einen Studierenden sind am Schreiben ihrer Bachelorarbeit oder sind in Projekten engagiert und suchen bei Stolpersteinen Ihren Rat als begleitende Fachperson. Andere beissen sich ihre Zähne an Case Studies aus, sind blockiert und fragen Sie im Unterricht um Ihren Rat; wieder andere leiden unter der Komplexität der Studiengangsorganisation und möchten von Ihnen Orientierungshilfe. Einige zweifeln gar an ihrer Studienwahl und wünschen, mit Ihnen darüber ein Gespräch zu führen. All diesen Phänomenen kann nicht mit reiner Fachexpertise begegnet werden.

Im Kontext der Bologna-Reform nehmen an Fachhochschulen selbstorganisierte Lehr-/Lernformen einen grösseren Platz ein. Zudem kann Lernen im Zuge einer «Ermöglichungsdidaktik» auf Basis eines konstruktivistischen Lernverständnisses lediglich angeregt und begleitet werden. Die Rolle der Dozierenden erweitert sich damit aus lernpsychologischen und strukturellen Gründen und enthält immer mehr begleitende und beratende Aspekte. Die Aktivität liegt dabei vorwiegend bei den Lernenden.

Dadurch eröffnen sich einige Fragen:

Wie sieht ein solches Begleitungs- oder Beratungsverhalten genau aus? Heisst Beraten nur noch «Geschehenlassen»? Wo liegt dabei die Verantwortung der Lehrenden?

Kann man überhaupt zielorientiert beraten, oder ist das dann eher Instruktion?

Verhindern wir durch unsere «lehrende Haltung» wirkliches Lernen – indem wir alle Stolpersteine aus dem Wege räumen?

Ist Beratung im Kontext von Lehre und Studium überhaupt möglich?

Sollen Lehrende als inhaltliche Experten mit ihrem Wissen zurückhalten?

Können wir überhaupt beraten, wenn wir auch noch beurteilen sollen? Ist dann Beratung sozusagen ein «Wolf im Schafspelz»?

Erhalten wir zu wenig Aufmerksamkeit, wenn wir «nur» beratend tätig sind – ganz ohne Publikumsapplaus? Oder erhalten wir gar mehr?

Wollen sich Studierende überhaupt beraten lassen?

Wie strukturieren wir Beratungssituationen, wie unterscheiden sich diese von Instruktionsanlässen?

Wo und wann ist Beratungskompetenz von den Dozierenden gefragt?

Der vorliegende Text versucht, diese Fragen zu beleuchten und, wo möglich, mittels Modellen und Reflexionen den Dozierenden Unterstützung im Alltag zu bieten.

Nach einer Einleitung, die in kurzer Form lernpsychologische und strukturelle Aspekte zum Thema aufzeigt (erstes Kapitel), werden anhand des «Rollenstrausses» von Dozierenden verschiedene Handlungsfelder beschrieben (zweites Kapitel). Zwei davon – Beraten und Begleiten – werden anschliessend näher beleuchtet (drittes und viertes Kapitel). Schliesslich werden drei ausgewählte Spannungsfelder zwischen der Beratung und den anderen Rollen der Dozierenden beschrieben (fünftes Kapitel).

Sie finden im vorliegenden Buch als Anreicherung dieses Texts zwischen den Berichten verschiedene Instrumente für das professionelle Beratungshandwerk (Beratungsphasenplan, Ablauf einer Beratung im Hochschulalltag, Kontraktierung1 von Beratungen, diagnostisches Vorgehen, Interventions-handwerk, Landkarte des Fragens).

Mit «Dozierenden» oder «Lehrenden» sind selbstverständlich auch lehrende wissenschaftliche Mitarbeitende oder Lehrbeauftragte gemeint. Ist die Rede von «Studierenden» oder «Lernenden», sind auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Weiterbildungslehrgängen mitgedacht. Schliesslich werden Beratene in der Beratungssprache als «Klienten» bezeichnet und beratene Systeme (einzelne Personen, Teams oder Organisationen) gelegentlich als «Klientensysteme»; diese Begriffe aus der Beratungssprache werden benutzt, um deutlich zu machen, dass mit «Klienten» nicht nur Studierende gemeint sein müssen.

Die sogenannten «Reflexionsfragen» nach den einzelnen Kapiteln sind als Anregung zur Denk- oder Lesepause gedacht.

Prämissen

Lernpsychologische Prämissen

Die Kognitionspsychologie hat einen engen Zusammenhang zwischen kognitivem Strukturaufbau und aktivem Handeln festgestellt. Auch die Gehirnforschung bestätigt, dass durch aktives entdeckendes Lernen Informationen im Gehirn nicht isoliert, sondern in netzwerkartigen Verbindungen gespeichert werden und dadurch leichter situationsgerecht nutzbar werden (vgl. Siebert 2008, S. 65).

Es wäre ein Widerspruch, unter der Prämisse der Aneignungsperspektive (im Gegensatz zur Vermittlungsperspektive) Lernende als Hauptakteure ihres Lernens zu verstehen und ihnen gleichzeitig die Selbststeuerung ihres Lernens abzusprechen.

Die Motivation steigt mit dem Grad der von den Lernenden wahrgenommenen Selbstbestimmung. Bereitschaft und Wille, sich neue Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen, sind unter anderem mit drei grundlegenden psychologischen Bedürfnissen des Menschen verbunden: sich als autonom und kompetent zu erleben und sich sozial eingebunden zu fühlen.

Lernen ist somit ein konstruktiver, aktiver, selbstgesteuerter und sozialer Prozess, der immer in einer bestimmten Situation stattfindet (vgl. Mandl 2006). Erst in authentischen Situationen wird Wissen für Lernende bedeutungsvoll: Ziele, Inhalte und Lernarrangement sind dann aufeinander abgestimmt, die Lernaufgaben haben einen echten Bezug zur Alltagswelt; Wissenserwerb und Anwendungsmöglichkeiten fallen dadurch nahe zusammen.

Aktives Handeln führt zudem über Reflexion zu effektivem Lernen. Die Metakognitionsforschung (vgl. u. a. Kaiser 2003) zeigt, dass die Qualität des Lernens nachhaltig gefördert wird, wenn Lernende über ihre eigenen Lernaktivitäten und Lernerfahrungen nachdenken und dadurch sich (bzw. ihr Lernen und Arbeiten) besser verstehen und steuern können.

Lernen in diesem Sinne kann von Dozierenden lediglich angeregt, initiiert, begleitet und damit «ermöglicht» (Arnold 2007) werden; tun müssen es die Lernenden selbst. Das heisst jedoch nicht, dass Dozierende zur Passivität verdammt sind: Instruktion und Anleitung sind nach wie vor gelegentlich notwendig, und Beratung und Begleitung beinhalten immer auch Steuerungselemente (siehe auch Brunner in diesem Buch).

 

Strukturelle Prämissen

Mit der Bologna-Reform im Hochschulwesen wurde die strukturelle Unterscheidung zwischen Präsenzunterricht (Kontaktlektionen), begleitetem Selbststudium und freiem (oder autonomem) Selbststudium geschaffen. Dies warf und wirft die Frage auf, welches denn nun die Rolle von Dozierenden gerade beim begleiteten Selbststudium sei.

Parallel zur Bologna-Deklaration trat die Orientierung nach Kompetenzen und «Learning outcomes» von Studierenden auf den Plan, die wiederum die Implementierung von geeigneten methodischen Ansätzen wie «Problem-based Learning» (siehe Artikel von Evelyn Waser in diesem Buch) u. ä. nach sich zog. Solche Konzepte bedingen andere Handlungskompetenzen von Dozierenden, die häufig mit folgender Redensart umschrieben werden: «from the sage on the stage to the guide on the side».

Damit eröffnen sich neue Handlungsfelder für die Dozierenden, beispielsweise die Beratung und die Begleitung, aber auch einige Spannungsfelder, etwa zwischen organisationaler Strukturreform und der Lernenden-Orientierung, zwischen Formalisierung und Selbstorganisation oder zwischen der Kompetenzorientierung im Studium und dem Bedarf des Arbeitsmarkts.

In einem nächsten Schritt wird der Fokus auf die Rollen der Dozierenden gerichtet resp. auf den «Rollenstrauss», in dem sich die Lehrenden an den Hochschulen täglich bewegen. Die Aussagen beschränken sich dabei auf die Lehrfunktion und auf die Diade «Dozent/in – Studierende» – wohlwissend, dass diese Perspektive die Realität des mehrfachen Leistungsauftrages an Hochschulen vernachlässigt.

Der Rollenstrauss von Dozierenden

Unter dem Begriff «Rolle» werden mehr oder weniger explizite Erwartungen und Ansprüche an Funktionsträger (hier Dozierende) verstanden; Rollen beinhalten jedoch immer auch einen Interpretationsspielraum (Thomann 2013, S. 21 ff.).

Wir skizzieren die einzelnen Handlungsfelder der Lehrenden im Folgenden in Form von Rollen kurz, um danach die beiden Handlungsfelder der Beratung und der Begleitung genauer zu beleuchten.


Abb. 1 «Rollenstrauss» von Dozierenden

Folgende Rollen der Dozierenden lassen sich ausmachen:

Experte/Expertin sein

Ursprünglicher Grund des Auftrags der Lehrenden ist ihre Expertise, das fachspezifische Wissen, das inhaltliche Durchdringenkönnen des «Stoffs» etc.

Lehr-/Lernsituationen planen und gestalten

Präsenzunterricht gestalten (Vorlesungen, Aktivierung von Studierenden, Übungen, Anwendungsaufgaben), Inszenieren von fall- und problembasiertem Lernen, Gestalten von Blended-Learning-Sequenzen, Produzieren und Gestalten von selbsterklärenden Scripts, von interaktiven Lernmaterialien auf einer Lernplattform etc.

Führen

Leiten von Projektgruppen, Anleiten zum Selbststudium, Kontrollieren der Präsenzpflicht, Moderieren von Plenumsveranstaltungen, Führen von Konfliktgesprächen, Umgang mit schwierigen Situationen und Studierenden, Entscheiden bei Promotionsfragen etc.

Begleiten (längerfristig, Projekte, Gruppen- oder Einzelarbeiten)

Längere Begleitaktivitäten (Anleitung, Beratung, Controlling) während des Selbststudiums, Begleiten von Bachelor-/Master-/Diplomarbeiten, Begleiten von Praktika/Projekten, Begleiten von Studierenden während ihrer ganzen Ausbildungszeit etc.

Siehe Kapitel «Begleiten» (S. 22 ff.)

Beraten (kurzfristig, zielorientiert, eher einzelne Studierende)

Einzelne Studierende (oder allenfalls kleine Gruppen von Studierenden) in ihrem Lernprozess zielorientiert und «kontraktiert» beraten, diagnostisch tätig sein (z. B. während Problem-based-Learning-Sequenzen, bei Stolpersteinen in einem Projekt oder in einer schriftlichen Arbeit, bei ungenügenden Leistungen), Beraten von Studierenden bezüglich Organisation des Studiums und beruflicher Ausrichtung etc.

Siehe Kapitel «Was ist Beratung?» (S. 19 ff.)

Beurteilen

Kompetenz- und lernzielorientiert Prüfen, Gestalten von Prüfungssituationen, Formulieren von Prüfungsfragen, Interpretieren und Bewerten von Leistungen, Kommunizieren von Bewertungen etc.

Institution vertreten

Beteiligung an der Entwicklung von Curricula, am Entwerfen von Kompetenzprofilen, an der Konzipierung von Beurteilungskonzepten und an Evaluationen; Kooperation mit dem Kollegium etc.

Gesellschafts-/Staatsvertretung sein

Als gesellschaftlich anerkannte «öffentliche» Expertin oder anerkannter öffentlicher Experte auftreten, als Modell wirken, «arriviert» sein. Türöffnerin oder Türöffner sein für gesellschaftliche Funktionen von Studierenden etc.

Rollenerwartungen der Studierenden an die Dozierenden

Die oben beschriebenen Rollen überschneiden sich selbstverständlich: Beispielsweise existieren Nahtstellen zwischen der Beurteilungs- und der Institutionsvertretungsrolle oder zwischen der Führungs- und der Lehrgestaltungsrolle.

Die Komplexität des Rollenstrausses erhöht sich zudem durch die spezifischen Rollenerwartungen der Studierenden: Die einen erwarten von den Dozierenden reine Expertise, andere möchten klare Führung, wieder andere begnügen sich mit zurückhaltender Begleitung. Weitere verlangen immer wieder individuelle Beratung oder pochen auf klare Beurteilung, einige sehen die dozierende Person als Vertretung der Institution oder als Modell einer gesellschaftlich anerkannten Funktion.

Diese Erwartungshaltungen verschieben sich von Fachgebiet zu Fachgebiet, von Dozent/in zu Dozent/in. Dies bedeutet, dass Dozierende sich dauernd zwischen differierenden Rollenerwartungen bewegen. Sie müssen Prioritäten setzen und Kompromisse zwischen den eigenen Rollenvorlieben und den Rollenerwartungen der Institution und der Studierenden eingehen.

Im fünften Kapitel werden exemplarisch drei ausgewählte Spannungsfelder beschrieben.

Beraten und Begleiten

Wie Sie den Beschreibungen weiter oben entnehmen können, unterscheiden sich Beratung und Begleitung einerseits durch den zeitlichen Aspekt (Begleitung findet in der Regel über eine längere Zeitspanne hinweg), andererseits durch die Quantität der Klienten (Beratung ist eher dialogisch und Face-to-Face-orientiert). Zudem integriert Begleitung immer auch ein Stück «Leitung» (Anleitung, Controlling). Typischerweise werden gerade in Projekt-begleitungen häufig verschiedene Rollen vermischt: Anleitung, Controlling und Beurteilung gehören genauso wie die Beratung zu den Begleitaufgaben in verschiedenen Phasen von Projekten (vgl. auch Johner in diesem Buch, S. 121 ff.). Der Begriff «Betreuung» entspricht am ehesten demjenigen der Begleitung (vgl. Suter in diesem Buch, S. 66 ff.), bezeichnet jedoch eher ein pädagogisches Verhältnis.

Beratung2 in unserem Sinne ist tendenziell symmetrisch orientierte, gemeinsame Arbeit an Fragestellungen oder Problemen. Begleitung hingegen kann als zurückhaltende Führung mit integriertem Beratungsanteil verstanden werden.

Reflexionsfragen Rollenstrauss

Wo und wie bewegen Sie sich alltäglich als Dozentin oder Dozent im sogenannten «Rollenstrauss»?

Welches sind Ihre Vorlieben, welches nicht?

Was erwarten Ihre «Klientinnen und Klienten» (z. B. Studierende) von Ihnen, was erwarten andere Erwartungsträger?

Können Sie dabei Konfliktfelder benennen?

Wie gross ist Ihr Interpretationsspielraum?

Nutzen Sie diesen? Wo?

Wie würden Sie Ihre Rolle als Beraterin oder Berater und als Begleiterin oder Begleiter genau beschreiben, welche Erwartungsträger können Sie benennen? Wo könnten Konfliktfelder auftauchen?

Wir fokussieren vorerst auf die Rolle Beraten. Zuerst wird der Begriff definiert, anschliessend werden drei Beratungsmodelle erläutert.

Was ist Beratung?

Definition von Beratung

Eine der bekanntesten und anerkanntesten Definitionen des Begriffs «Beratung» stammt von R. Lippitt (1959, in: Fatzer 2005, S. 56):

«Beratung (…) ist eine allgemeine Bezeichnung für mancherlei Beziehungsformen. Die allgemeine Definition von Beratung (…) hat folgende Voraussetzungen:

Das Beratungsverhältnis ist eine freiwillige Beziehung zwischen einem professionellen Helfer (Berater) und einem hilfsbedürftigen System (Klient).

Der Berater versucht, dem Klienten bei der Lösung laufender oder potenzieller Probleme behilflich zu sein;

die Beziehung wird von beiden Partnern als zeitlich befristet angesehen.

Ausserdem ist der Berater ein ‹Aussenstehender›, d. h. er ist nicht Teil des hierarchischen Machtsystems, in welchem der Klient sich befindet.»

Sie sehen hier schon, dass beratende Tätigkeit in vielen Feldern (zum Beispiel der Lehre) gemäss dieser Definition gar keine Beratung wäre, da die Beziehung in der Regel häufig nicht freiwillig ist, die zeitliche Befristung nur bedingt gilt und Beraterinnen und Berater nicht immer «Aussenstehende» sind, sondern den «Klientinnen und Klienten» gegenüber meistens verschiedene Rollen wahrnehmen.

Diese mögliche Divergenz zeigt Schein auf eine andere Weise mittels folgender Grundmodelle auf:

Drei Grundmodelle der Beratung

ABeratung als Beschaffung von Information und Professionalität, Expertenberatung

Der Klient oder die Klientin weiss,

was das Problem ist;

welche Lösung benötigt wird;

woher die Lösung kommen kann.

Der Berater oder die Beraterin beschafft die benötigten Informationen und erarbeitet die Lösungen.

BBeratung im Rahmen der Arzt-Patienten-Hypothese

Der Klient oder die Klientin leidet unter bestimmten Unzulänglichkeiten oder Problemen, deren Ursachen sowie mögliche Lösungsansätze sind ihm/ihr aber unbekannt.

Der Berater oder die Beraterin übernimmt die Verantwortung für eine richtige Diagnose (Erfassung) des Problems und dessen angemessene Lösung.

Der Klient oder die Klientin ist abhängig vom Beratungsprozess bis zur Lösungsfindung.

CDas Prozess-Beratungs-Modell

Der Klient oder die Klientin hat das Problem und behält während des ganzen Beratungsprozesses die volle Verantwortung dafür.

Der Berater oder die Beraterin hilft der Klientin oder dem Klienten, bestimmte Ereignisse und Vorgänge wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und zu verstehen und ihnen angemessen zu begegnen (handeln).

Der Klient oder die Klientin weiss sich selber zu helfen, und die Beraterin oder der Berater vermeidet, von Klientinnen und Klienten in eines der vorangehenden Modelle geleitet zu werden.

nach Schein (2000, S. 25 ff.), modifiziert durch Thomann (2013)

Wenn Sie sich den Berater-Jargon (z. B. «Klientin/Klient») wegdenken, bemerken Sie vielleicht, dass die Zuordnung der eigenen Beratungstätigkeit zu einem der Grundmodelle gar nicht so einfach ist: Mögen Sie Beratung noch so sehr als zurückhaltende und moderierende Prozessberatung verstehen: Wenn Sie beispielsweise als (Fach-)Experte oder (Fach-)Expertin beauftragt sind, werden Sie auch so wahrgenommen. Da wäre zu entscheiden, ob Instruktion nicht grundsätzlich adäquater ist als Beratung.

Die Expertenhypothese des Modells von Schein setzt interessanterweise sehr selbstbewusste und handlungsfähige «Klientinnen und Klienten» voraus. Studierende würden hier genau wissen, was sie benötigen und Sie als Dozentin oder Dozent mit den «richtigen» Fragen kontaktieren (vgl. das fragegeleitete Lerncoaching in Landwehr/Müller 2006, S. 184 ff.).

Die Arzt-Patienten-Hypothese fasziniert vielleicht durch den hohen Machtanteil der Beratenden und käme einem gewissen «Betreuungspotenzial» auf der Seite der Dozierenden und einem «Abhängigkeitsbedürfnis» auf der Seite der Studierenden entgegen; es wäre jedoch verfehlt zu behaupten, Klienten oder Studierende müssten als «Kranke» «geheilt» werden.

Reflexionsfragen «Grundmodelle der Beratung»