Ein Garten zweier Welten

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Ein Garten zweier Welten
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GERHARD DEISS

ERZÄHLUNG


Inhalt

1. HARTMUT VOR DEM MORGENGEBET

2. HAMID NACH DEM MORGENGEBET

3. HARTMUT DIE MACHT DER ERINNERUNG

4. HAMID DIE GESCHICHTE DES GÄRTNERS

5. HARTMUT DER RUF ZUM MITTAGSGEBET

6. HAMID TRÜGERISCHE STILLE

7. HARTMUT UNTER EUKALYPTUSBÄUMEN

8. NACHMITTAGSGEBET DIE BEGEGNUNG IM GARTEN

9. HARTMUT ENTSCHLÜSSELUNG DER BILDER

10. HAMID ZUM ABENDGEBET

11. HARTMUT WIE AUS DER FERNE

Über den Autor

1. HARTMUT
VOR DEM MORGENGEBET

Unruhig waren die Träume gewesen, manche auch beunruhigend, die über den Morgenruf des Muezzins hinweg zu Ende gebracht wurden. Aus Nacht und Träumen ist er erwacht. Die Rufe überlagerten einander, vielstimmig zu einem Geflecht gleichmäßiger Anrufungen verbunden. Es gibt nur eine Quelle des Lichts, des Lebens, auf dass sie zu allen mit derselben Stimme sprechen. Nach dem Morgenruf ließ sich draußen, am östlichen Horizont bereits die Dämmerung erahnen, die für jene, deren unverrückbarer Glaube das Tageslicht auch dann entstehen lässt, wenn die Natur noch nicht bereit ist, sich den strengen Vorschriften der Religion zu beugen, schon länger sichtbar war.

Das Zimmer lag noch im tiefen Dunkel, Nacht des Ungläubigen, dem die Rufe des Muezzins als unvermeidliche, gerade noch hinnehmbare Eigenheiten eines fremden Lebensraumes bereits vertraut waren. Dieses Mal jedoch wurde auch seine Nacht beendet. Unruhig wechselte er immer rascher seine Liegeposition im aufgewühlten Bett, das die Spuren einer überhitzten Nacht tragen würde. Im Halbschlaf streckte er seine Hand zur anderen Betthälfte hinüber, um festzustellen, dass er wieder allein und sich selbst ausgesetzt war. Er rang mit dem Schlaf, doch dieser hatte ihn endgültig verlassen. Keine schwarzen spinnenhaften Wesen, sondern gallertartige, wässrige Ringe senkten sich von der Decke herab und ließen die Konturen des Zimmers entstehen, das er vorübergehend bezogen hatte, ein Bereich jenes ihm zugeteilten Hauses, das er für eine Weile zu bewohnen hatte auf geborgter Erde.

Nun herrschte wieder Stille, nur das Rauschen in seinen Adern fiel ihm auf, störend, denn er fühlte eine Gefahr darin, sich selbst ausgesetzt zu sein wie ein Schiffbrüchiger. Leise Schritte, die im Kies des Gartens knirschten, retteten ihn vor der Selbstversenkung. Er musste den Wächter nicht fragen, ob die Nacht bald um sei. Den Morgenrundgang, den letzten seines Dienstes, trat der Wächter regelmäßig noch in der Dunkelheit an, nachdem er vom Morgenruf des Muezzins aus einem unerlaubten Schlaf gerissen worden war. Auch diesmal war sein Schritt wieder gleichmäßig, ein niemals zögerndes Vorwärtsschreiten, von keinen besonderen Vorkommnissen beeinträchtigt. Die Nacht hat ihre Schuldigkeit getan und könnte abtreten, sobald der Dienst des Wächters endete. Aber gerade diese Zwischenzeit, die Pause zwischen Dunkel und Hell, Ruhe und Bewegung, Innen- und Außenwelt, Traum und Wirklichkeit, jene Handvoll Minuten, die ratlos und verloren zwischen den Zeiten schwebt, in denen das ferne Hundegebell verstummt, jener Entre’acte im Welttheater zwischen Jenseits und Diesseits war stets unbewacht geblieben, wenn ihn der Schlaf zu früh verstoßen hatte.

Zuletzt erwachte sein Geruchssinn. Endlich war die Schwüle des Vortages, die auch weit in die Nacht hineingereicht hatte, erfrischenderen Luftströmen gewichen, die sich durch die Luftschlitze im Zimmer ausbreiteten und das Atmen leichter werden ließen. Gierig saugte er die Vorboten des neuen Tages ein, bis sein Atem ruhiger wurde und ihm fast einen erneuten Schlaf beschert hätten, wäre er nicht durch ein zögerliches Klopfen an den geschlossenen Fensterläden gänzlich aufgeweckt worden. Wollte ihn der Wächter über einen wichtigen Vorfall in Kenntnis setzen? Der aber würde sehr schwerwiegend sein müssen, denn wegen nichtiger Anlässe wagte es der Wächter im Allgemeinen nicht, seinen Schlaf zu stören. Erst einmal in den letzten Monaten hatte ihn der Wächter aufgeweckt, in jener Nacht, in der das Dunkelblau des Nachthimmels in eine blutrote Farbe übergegangen war, die bei der einheimischen Bevölkerung Angst und Panik ausgelöst hatte. Doch dafür hatte es am nächsten Tag genügend physikalische Erklärungsversuche seitens der hiesigen Obrigkeit gegeben. Nordlichter, Luftspiegelungen, nein, keine Nuklearexplosion von Testversuchen des großen Nachbarstaates, nein, kein Feuerregen, nein, keine Heuschreckenschwärme, die in rötliche Sandstürme eingehüllt das Land heimsuchen würden, auch sonst keine Ankündigung großen Unheils. Es verlaufe alles in geregelten Bahnen und das Staatsoberhaupt und seine Regierung würden für das Wohl des braven Volkes sorgen. Er selbst hatte wie in einem Traum das Naturschauspiel der durch das Rot aufgehellten Nacht vor der Tür betrachtet und eine Feuersbrunst in der Nähe vermutet, doch war die Farbe ebenso rasch wieder verschwunden, wie sie plötzlich aufgetaucht war.

Dieses Mal war der späte Nachthimmel sowohl für die Gläubigen wie die Ungläubigen genauso, wie er zu sein hatte. Auch war der Wächter bereits abgezogen. Ein leichter Wind setzte ein und ließ erneut den Fensterladen gegen das Fenster schlagen. Er hakte ihn fest, zögerte aber, sein Bett wieder aufzusuchen, zu verlockend war die frische, nicht zu kalte Luft, die seinen halb nackten Körper umstrich und ihn wie in ein übergroßes Leintuch der Natur einhüllte.

Zu Hause … ja, in seiner früheren Heimat – denn wo ist zu Hause, wenn nicht dort, wo man sich auf längere Zeit einzurichten versucht – mochte der Tag bereits begonnen haben. Orient – ein weiter Begriff. Er überholt zuweilen das, was man früher den Okzident genannt hat. Der abendländische Tag, auf den das nach Westen erweiterte Morgenland hier noch wartete, würde bereits seine ersten Frühverkehrsspitzen erreicht haben. Das Zentrum des Geschehens … Und war es auch nicht zentral für das Weltgeschehen, so vermittelte dort die Dynamik, die zuweilen zur Hektik wurde, die Bestätigung, dass sich alles vorwärtsbewegt, in neuen Produktionslinien, in Innovationen und in einer ständigen Weiterentwicklung der Technik, und die gemeinsam geteilte Annahme, dass nur fortdauernde Veränderung das Leben ausmachen kann.

Hartmut Klemner war in seiner Heimat nicht in einem Beruf beschäftigt gewesen, den man der produktiven Wirtschaft zuordnen würde, doch in jenem Bereich, der von der vormaligen Zentraladministration nach Jahren wirtschaftsliberaler Vorherrschaft nunmehr zur unterstützenden leichten Verwaltung mutiert war. Der Staat hatte sich immer mehr aus dem täglichen Leben seiner Bürger verabschiedet und die meisten obrigkeitsbezogenen Tätigkeiten etlichen nicht minder strengen, dafür roboterartigen und gut bezahlten Privatfirmen überlassen. Lediglich seine persönlichen Kontakte zu maßgeblichen Politikern der die Regierungsgeschäfte nun seit Jahren wahrnehmenden Partei hatten Hartmut Klemner davor bewahrt, mit noch nicht ganz fünfzig Jahren in die Abfindungspension geschickt zu werden und so die Heerscharen braun gebrannter und sportlich hochaktiver Frühpensionisten zu verstärken. Er hingegen wurde ausgesandt, an einen Außenposten, einen Ort, von dem man vor einigen Jahrhunderten noch gesagt hätte, er liege am Rande der Welt, denn weiter draußen im Meer, jenseits des Horizonts, breche die Welt endgültig ab. Ein Außenposten, der nichtsdestoweniger bedeutend sei, wurde ihm vermittelt, denn nur wenn man die Peripherie kenne, wisse man, was auf den Nabel der Welt, unsere Heimat, wohl zukommen mochte. Sein Auftrag war unklar geblieben, keine besondere Botschaft war ihm mit auf den Weg gegeben worden, sieht man vom formalisierten Empfehlungsschreiben ab, das er in einem im Allgemeinen unnahbaren und ihm nur für sehr kurze Zeit geöffneten Palast übergeben hatte. Unklar war damals auch sein Abschied geblieben, Abschied wovon – von der Welt von heute und morgen, um in eine Welt von gestern einzutauchen, ein Gestern, das nicht sein eigenes Gestern war, ja nicht einmal das Gestern der ihm vertrauten Umwelt? Abschied von einer Familie, die ihm nichts mehr bedeuten durfte, da er ihr nichts mehr bedeutete, denn zu gering ausgeprägt waren jene Eigenschaften, die seine Partnerin gerne an ihm gesehen hätte, sodass sie ihn schließlich mit einem sportlichen, aufstrebenden Jungunternehmer ausgetauscht hatte, der seine Erfolge nicht nur am Tennis- und Golfplatz, sondern auch in Bilanzzahlen unter Beweis stellen konnte. Woran hätte sie Hartmut Klemner, den sie seit geraumer Zeit nur noch Klemi oder, wenn sie schlecht gelaunt war, Klempner nannte, messen können? Zu Beginn des gemeinsamen Lebensabschnittes – aus dem davorliegenden hatte sie einen Sohn in die Partnerschaft eingebracht, quasi als persönliche Einlage, wie sie scherzhaft betont hatte – hatte sie noch auf steigende Aktienkurse des Staates und seiner Verwaltung gesetzt, doch erwies sich das bald als Fehlkalkulation, spätestens zu dem Zeitpunkt, als sich die Republik in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung verwandelte.

 

Die Frau hatte dem Untüchtigen klargemacht, dass wieder ein Lebensabschnitt vorbei war. Der Trennungsschmerz hätte sich für ihn in Grenzen gehalten, wäre da nicht das Kind gewesen, das zwar nicht sein eigenes war, das er aber in den letzten Jahren sehr lieb gewonnen hatte. Der Knabe, gerade sechs Jahre alt geworden und bereits in die Schule eingetreten, schenkte Hartmut zum Abschied eine Zeichnung, aus der dieser zunächst ein festgehaltenes Familienidyll aus früheren Zeiten zu erkennen vermeinte. Doch oberhalb der drei einander die Hände haltenden Personen war ein seltsam anmutendes Gebilde, wenngleich von geringer Größe, so doch bedrohlich erscheinend, zu erkennen. Dies sei nicht der Maikäfer auf seinem Flug ins Pommerland, sondern ein Bombenflugzeug, das gerade auf seinem Weg zum Zielort unser Land überquerte, damit es dort unten den Frieden herbeibomben könne, erklärte unbefangen das Kind. Hartmut empfand dieses Gebilde eher als eine unmittelbare persönliche Bedrohung, eine Fledermaus, die, zu früh unterwegs, die nahende Nacht ankündigt. Oder waren es nicht doch eher die Schwingen eines Greifvogels, der Menschen entführt und an fremde Orte bringt?

Erst vor ein paar Tagen war ihm das Bild wieder in die Hände gefallen, als er einen weiteren einsamen Abend mit viel Alkohol zu überwinden suchte. Die dabei aufkommende Leichtigkeit hatte es ihm ermöglicht, sich wieder einmal dem Schrifttum seiner Vergangenheit zu stellen und alte an ihn gerichtete Briefe durchzusehen. Neben Verheißungen aus der Vorvergangenheit lag oben im Schuhkarton die Zeichnung, die ihn nun erneut mit Unruhe erfüllte. Der bedrohliche Gegenstand darauf schien ihm noch größer geworden und ins Zentrum des Bildes gerückt zu sein, ja, fast hatte er die drei dargestellten Personen verdrängt.

Durch die zögernd einsetzende Morgendämmerung machte er den Gleitflug eines Storches aus, der aus seiner Nachtruhe aufgestört worden sein musste und ebenso wie er selbst verfrüht dem neuen Tag ausgesetzt war. Um wie viel leichter sich hier die Tage anließen. Die morgendlichen Verkehrsstaus, von denen auch diese Stadt nicht mehr verschont wurde, geduldig ertragene Unvermeidbarkeiten des Alltags, die nur vom Ritual der Hupkonzerte und südländischen Temperament begleitet waren, nicht aber die innere Unruhe erzeugen vermochte, die er von zu Hause gewöhnt war. »Wir fließen hier in der Zeit eingebettet, nicht gegen ihren Strom, und so haben wir sie in unserem Besitz«, hatte ein Angehöriger dieses Landes erst kürzlich dem Vertreter jenes Landes erklärt, das den globalen Uhrenmarkt in der Hand hält, worauf dieser resignierend zur Einsicht gelangte, die Schweiz habe wohl die Uhren, dieses Land hier aber die Zeit.

Hartmut fühlte sich verloren. Der Weg aus der Vergangenheit war unterbrochen, die Gegenwart war ihm entglitten. Er wollte nicht wieder in die Nacht und ihre Träume zurück, die Träume, die ihn aus der Vergangenheit eingeholt und ihm das Erwachen so schwer gemacht hatten, denn es war ein Erwachen aus seinen vergangenen Möglichkeitsformen. Die Leiber ferner Geliebter suchten seine Träume heim und führten ihm schmerzhaft vor Augen, was alles hätte möglich sein können, hätte er es nur gewagt, ja, nur gewollt. Zwanzig Jahre schienen stillgestanden zu sein, ein Phänomen, das ihm erst in diesem Land, dem Outpost fernab des innovativ geschäftigen Treibens seiner Heimat, begegnete. Die wispernd geflüsterten Verheißungen all jener Mädchen, die ihm einst Gleichgültigkeit gezeigt oder nur vorgespielt hatten, die in seinen Träumen nicht gealtert erschienen, begannen auch seine Tage zu umfloren. Ja, ein Flor war es, wenn die Verheißungen der Nachtträume den Selbstvorwürfen der Tagesrealität wichen – warum hatte er nicht damals so gehandelt, wie es in den Träumen der Gegenwart angebracht schien? Alles wäre so einfach gewesen, wäre da nicht sein Selbstzerstörungstrieb gewesen, der bereits greifbare Erfolge zum Scheitern gebracht hatte. Es war gewesen, als hätte er sich damals beweisen wollen, das Schicksal aus eigener Willenskraft selbst gestalten zu können, was nur möglich war, wenn alle positiven Voraussetzungen vorhanden waren, seine Wünsche zu erfüllen, und es nur noch an ihm lag, den Gewinn zu realisieren. Seine letzte Partnerin hatte ihm diese Haltung vorgeworfen. Vielleicht war es für sie auch ein Grund gewesen, mit ihm Schluss zu machen, als sie erkannte, dass in seinem Leben nur das Unverwirklichte und nicht mehr das Verwirklichbare zählten.

Das Kind kam ihm wieder in den Sinn.

Teils traurig, teils sehnsuchtsvoll blickte es ihm aus einer imaginären Welt entgegen, die aus dem Strudel der Zeit herausgeworfen worden war. Der gleiche Ausdruck war auf seinem Gesicht erschienen, als ihm Hartmut einmal eine Geschichte zum Einschlafen erzählt hatte, eine Gutenachtgeschichte, deren Schluss zum Guten für das Kind nur ein vermeintlich guter war. Warum könne denn das Sterntalerkind, das so reich belohnt wurde, nicht wieder zu den Menschen in die Stadt zurück? Warum müsse es in den Sternen aufgehen, die so weit entfernt blinken? Zumindest ließ der Schluss diese Vermutung zu. Verbannt in die für manche verheißungsvoll blinkende Ferne. Hartmut versuchte wohl, einen weiteren Schluss hinzuzuerfinden, der die Verbindung mit den Menschen wiederherstellt. Doch der Knabe schien entrückt, schon in die Luft anderer Planeten eingetaucht, ehe sich seine Augen schlossen und er endgültig in der Traumwelt aufgenommen wurde.

Die Traurigkeit, die uns umgibt, bevor wir wieder von unseren Träumen empfangen werden, ein zartes Gespinst einander durchdringender Stimmen, die uns verlockend zuzurufen scheinen. Doch tatsächlich bleibt alles stumm und kein Laut tönt durch den Schleier unserer Träume. So blieb Hartmut auch die Stimme des Kindes versagt, noch hörte er Stimmen anderer in sich ertönen.

Die letzten Sterne am Horizont des nördlichen Himmels erloschen endgültig, und Blau in allen Schattierungen breitete sich aus, so rasch, als würden Wellenkämme über den Himmel ziehen, die zu einer endgültigen Entladung des Lichtes führen sollten. Nur kurz war der rötliche Schimmer des Morgens am Horizont, ehe er vom Weiß des Tageslichts aufgesaugt wurde und somit keinen Anlass für Aufsehen und Schrecken mehr geben konnte. Geräusche drangen von der nahen Straße in den erwachenden Garten und vermischten sich mit den eindringlichen Vogelrufen, die kadenzierend den Tag begrüßten. Bald lag ein Geräuschteppich um das Haus und beschwichtigte auch Hartmuts spätnächtliche Unruhe. Der nächste Ruf des Muezzins würde nun gegen die Geräusche der Welt anzukämpfen haben. Erste Sonnenstrahlen fielen in den Garten, der kunstvolle Gärtnerarbeit erkennen ließ.

Hartmut entkleidete sich gänzlich, um sich den ersten Sonnenstrahlen, den noch erträglichen, auszusetzen und gleichzeitig die noch frische Luft mit allen Poren seines nicht mehr jungen Körpers einatmen zu können.

2. HAMID
NACH DEM MORGENGEBET

Es mochten wohl die ersten Vogelstimmen sein, die aus dem noch unvollkommenen Morgen drangen, nicht mehr das Zirpen der lichtscheuen Fledermäuse. Es mochten wohl auch die realen Erinnerungen der letzten Tage sein und nicht die Nachwehen irgendwelcher Traumeswirren, die in ihm jetzt aufstiegen. Doch den Morgentau auf seinen Händen zu spüren war er noch nicht bereit. Vor Kälte zitternd band sich Hamid seine Arbeitsschürze um. Noch nie war er so früh im Garten erschienen – der Wächter hatte ihn kaum einlassen wollen –, zumindest hatte er immer gewartet, bis der Verkehrslärm ihn aus seinem Schlaf weckte. Doch diesmal war es tatsächlich der Ruf des Muezzins gewesen, so wie es auch sonst hätte sein sollen.

Der Auftrag des Propheten – oder war es ein göttlicher Auftrag, der ihn aufzustehen geheißen hatte, verkündet aus dem Mund des Ibn Bakr, jenes jungen Geistlichen, der die Gläubigen seit geraumer Zeit in seinen Bann zog, auch jene, die vom rechten Weg des Glaubens abgekommen waren. Glänzende Augen, die Blitze aussandten, zur Gänze in sich gekehrt, und den Außenstehenden nur ein leuchtendes, doch auch todverkündendes Weiß zeigend, wenn sie nach innen sahen und in die Trance des Glaubenseifers verfielen, beredte Gehilfen einer zunächst wohltönend und vertrauenserweckend erklingenden Stimme des großen Bruders, der all sein Wohlwollen und seine Sympathie mit den am Rande dieser großen Stadt in den Hütten des Elends Leidenden anbot. Mit den Verheißungen des künftigen Paradieses kamen auch die Forderungen der Religion einher, modulierend dann die Stimme, die sie verkündete. Die Tonlage änderte sich mit fortschreitender Predigt, bis sie einem Stakkato von Maschinengewehrgarben glich, die vielstimmig in hoher Tonlage seinen Mund verließen und den Kampf um die Reinheit des Glaubens verkündeten, Stärkung bis zum nächsten Freitag, denn die Reinheit ist nur durch Waschungen im Blut zu erlangen.

Wie im Traum verließ Hamid diese Predigten, die sich jedes Mal zu überbieten schienen und die Gläubigen zusehends in innere Ekstase versetzten, denn sie harrten noch lange nach dem Gebet reglos aus. Die Unrathaufen auf den Pfaden zwischen den Wellblechhütten, die den bereits Glücklicheren dieses Slums Haus und Hof waren, die streunenden Hunde und zerlumpten Kinder, sie waren Hamid vertrauter als das Treiben auf den Prachtstraßen des Zentrums der Stadt, wohin er nur selten fuhr, denn ihm wurde dort jedes Mal im Angesicht der Weite und der wie Schnee und Eis in der Sonne glitzernden Fassaden der Glaspaläste kalt. Auch die mit Brettern und Kartons geflickten Unterkünfte der noch Ärmeren, ja selbst die Schlafstätten der Allerärmsten, die ihre Nächte im Freien zubrachten, wenn in den großen Betonröhren der nahen Baustelle kein Platz mehr war, wurden ihm zur paradiesischen Medina. Trüb dahinfließende Kloaken mit stechendem Gestank zogen durch die organisierte Ansammlung des menschlichen Unvermögens, mit den Erfordernissen der Zeit Schritt zu halten. Doch wenn Hamid vom Prediger der Weg ins Paradies gezeigt worden war, konnten ihm selbst diese Rinnsale wie Bäche voll Milch und Honig erscheinen.

Er selbst wohnte nicht in diesem Viertel, doch die Predigten, die allwöchentlich aus der kleinen behelfsmäßigen Moschee klangen, zogen ihn dorthin, und in der Gemeinde der Gläubigen wurde er wie einer der Ihren aufgenommen. Hamids eigene Familie betrachtete sein Tun mit Argwohn. Hatte nicht sein Bruder ihm die Stelle als Gärtner bei dem reichen Ausländer verschafft, ihm, der begnadete Hände für alles besaß, was lebte und wuchs? Was sollten die Pilgerwanderungen in den Slum, der Abstieg hinab ins Fegefeuer der Unglücklichen?

Seinem älteren Bruder, der als Koch bei einem Regierungsangestellten arbeitete, war Hamids Verfangensein mit dem Slumprediger ein Dorn im Auge. Sollten diese Gepflogenheiten bekannt werden, so sagte er, dann müsste er selbst um seine Stellung bangen, denn die Sicherheit der Reichen und Regierenden wurde streng überwacht, und von den Slums, die sich der Überwachung entzogen, drohte Gefahr.

Hamid fiel die Auseinandersetzung mit seinem Bruder am Vorabend wieder ein, als er sich seinen Tee aus einer mitgebrachten Thermoskanne eingoss. Aus den aufsteigenden Dämpfen blickte ihn im zornigen Gesicht des Älteren der Vorwurf an, sie alle um ihre Stellungen bringen zu wollen.

»Aber ich verlasse diese Predigten stets gereinigt und gestärkt, nichts kann mir etwas anhaben, und bestimmt auch nicht meinen Verwandten«, hatte Hamid entgegnet, doch es hatte nichts genutzt.

Als die Sonnenstrahlen das Geflecht der Äste durchbrachen und sich Hamids in der Kälte zitternder Körper beruhigte, hob er den Blick und musterte den Garten, den er als seinen eigenen betrachtete, denn mit den eigenen Händen hatte er ihn gestaltet und ihm eine Seele verliehen. Die Herren des Gartens wechselten einander in gleichmäßigen Abständen ab und blieben ihm unbekannte Gestalten, die ihm Anweisungen gaben, manche ausführlicher, andere jedoch gar nicht, was auch gut war, denn sie hätten mit ihren eitlen Wünschen nach besonderer Prachtentfaltung nur das Gleichgewicht des Gartens gestört.

Dieser Garten war in kleinen Vierecken angelegt, die durch schmale Wege voneinander getrennt waren. Über niedrigen Sträuchern, Malven, Jasminen und Oleandern, erhoben sich kleine Orangenbäume und Stechpalmen, darüber wiederum mächtige Dattelpalmen und Jakarandas, die bereits vor Generationen gepflanzt worden waren, offenbar noch vor Anlage des Gartens. Ein kleines Wasserbecken bildete den Mittelpunkt des von einer hohen Mauer umfassten Gartens. Gegenüber dem Haus war ein Brunnen in der Mauer eingebaut. Der Brunnen war längst versiegt, dennoch vermittelte er das Gefühl von Frische, vor allem zur heißesten Zeit. Jetzt schimmerte noch Tau auf den kleinen Rasenstücken um ihn herum.

 

In den Gevierten des Gartens selbst lag die Erde zwischen den einzelnen Sträuchern und Bäumen blank und gab Hamid stets zu erkennen, woher er kam und wohin sein Weg führen würde.

Er hatte im schattigen Becken des Wandbrunnens seinen kleinen Vorrat an mitgebrachten Speisen untergebracht und holte sich von dort die erste Mahlzeit des Tages. In der Erde vor dem Brunnen lag etwas eingegraben, dessen er sich nur undeutlich erinnern wollte. Das morgendliche Gebet war ihm diesmal schwerer von den fast stummen Lippen gekommen als sonst, zu sehr schwang noch die Auseinandersetzung mit seinem Bruder am Vortag nach. Keinen Denar werde er hergeben, um Hamid bei der Werbung um die schwarzäugige Aischa zu unterstützen, deren Vater es zur Bedingung gemacht hatte, dass jeder, der seine Tochter heiraten wollte, ein eigenes Haus oder aber wenigstens einen beträchtlichen Geldbetrag vorweisen müsse. Die Liste der Bewerber war lang, und Hamid konnte sich kaum Hoffnung machen, auch wenn er meinte, dass Aischa seine Zuneigung erwiderte. Sie war ihm nur einige Male auf dem Markt begegnet, hatte damals seine Blicke erwidert. Ihre Augen hatten ihm mehr ausgesagt, als es Worte vermocht hätten, selbst jene des Ibn Bakr, ja sogar seine Predigten hätten gegen ihre Blicke nur schal gewirkt.

Aus den noch immer aufsteigenden Dämpfen des Tees war auch ihr Gesicht zu erkennen, das jenes seines Bruders zusehends verdrängte. Nicht verdrängen konnte er jedoch die Worte des Ibn Bakr, die dieser vor noch nicht allzu langer Zeit heimlich und in fast verschwörerisch anmutender Weise im persönlichen Gespräch ihm gegenüber fallen gelassen hatte: Prophezeiungen des Paradieses, wo ihm die anmutigsten Wesen zu Diensten und zur Liebe sein würden. Auf die weltliche Liebe brauche er gar nicht zu verzichten, denn man könne nicht auf etwas verzichten, das ohnedies nicht zu erlangen sei, womit er auf die aussichtslose, da nicht bezahlbare Verwirklichung seiner Verbindung mit Aischa anspielte. Doch die Verheißungen des Korans könne er bald selbst erleben, quasi leibhaftig, wenngleich der Leib von anderer Gestalt sein werde, als man es sich vorstellen könne. Das Wort »Martyrium« war ebenfalls gefallen. Der Geistliche räusperte sich dabei und senkte seine sonst laute Stimme. Ob er bereit wäre, sich als Kämpfer des Glaubens auszuzeichnen und der Reinheit der Lehre zu dienen? Hamid war wie immer von seinen Worten entzündet, sodass ihm die Stimme versagte und er nur begeistert nicken konnte. Was er dafür zu tun hätte, darauf wollte Ibn Bakr aber noch nicht eingehen. Er machte lediglich einige Andeutungen über die Feinde des Glaubens, die wie ein großer Polyp ihre Fangarme überallhin ausbreiteten, unter den Decknamen »Modernität« und »westliche Werte«. Mit ihrem sündhaften Satellitenfernsehen, wo sich die nackten Frauenkörper in eindeutigen Posen den Blicken von Millionen – auch gläubiger Muslime – darböten, mit ihren Restaurants und Hotels, wo der Alkohol fließe, und mit der von ihnen verfochtenen Trennung des Glaubens vom Alltag. Sie seien ärgere Feinde als es vor Jahrhunderten die christlichen Kreuzfahrer waren, denen man auf dem Schlachtfeld offen gegenübertreten konnte und wo die Fronten klar verliefen. Insofern habe er mit einer gewissen Wehmut und Anteilnahme die großen Kundgebungen und von Millionen besuchten Trauerfeierlichkeiten des letzten Papstbegräbnisses verfolgt. Heute hingegen zögen sich die Ideen des Feindes bereits durch die Köpfe so mancher Muslime, wodurch der Gottlosigkeit bei der Obrigkeit kaum noch Einhalt zu bieten sei. Doch die wahren Gotteskämpfer hätten sich nun erhoben – und auch für ihn, Hamid, schlage bald die Stunde. Mit tapferen Gleichgesinnten, bereit, ihr Leben gegen ein besseres zu tauschen, würde er ihn demnächst bekannt machen.

Ein leichter Zweifel durchfuhr Hamid. Ob denn nun die Aufopferung für den Glauben und dessen höhere Vollendung das Ziel sei oder die persönliche Befindlichkeit, die man durch die Reise ins Paradies verbessere. Doch diese Gedanken lösten sich rasch wieder auf und fielen der Faszination der Ausstrahlung des Geistlichen anheim. Dessen Worte, auch wenn er zur Solidarität der Gläubigen untereinander aufrief, von denen ein großer Teil darbte und auf ein besseres Leben hoffte, verklangen in der Folge nur sehr langsam in seinem Inneren, selbst wenn er sich unter dem prächtigen Bougainvilleastrauch im Garten des Fremden anderen Gedanken hingab. Wie konnte ihm selbst dieser Garten ein Paradies sein, so wie es ihm seine Familie einreden wollte, wenn jenseits seiner Mauern Not und Elend herrschten? Aber auch wenn er nur von ähnlichen Gärten des vermeintlichen Glücks umgeben gewesen wäre, nie hätte er sich geistig oder körperlich dieses Glück zu eigen machen können. Doch die Vorstellung, mit Aischa ganz verbunden zu sein und sie umgekehrt auch mit ihm, war berauschend, wobei er sich gleichzeitig der Aussichtslosigkeit seiner Wünsche bewusst war. Mit ihr im Slum zu leben, ausgeschlossen von den vermeintlichen Gärten des Glücks, selbst das erschien ihm als ein unerreichbares Ziel.

Der Tagtraum wich bald einer unangenehmen Erinnerung, die sich aus einem dunklen Hintergrund heraufdrängte. Nach der letzten Freitagspredigt waren sie zu ihm gekommen, Männer in schwarzen Anzügen, wie man sie noch nie in dieser Gegend gesehen hatte, und hatten ihn aufgefordert, mit ihnen mitzukommen. Unwillig und verängstigt war er in den kleinen Fiat eingestiegen, wo er eingezwängt zwischen zwei Bärtigen auf der hinteren Bank sitzend eine längere Fahrt auf sich nehmen musste. Am Rand der Stadt, dort, wo die abgewohnten Betonblocksiedlungen in Brachland und wilde Müllablagerungen übergingen, stiegen sie vor einem kleinen Café aus und gingen mit ihm in das dunkle Hinterzimmer, in dem er vor lauter Zigarettenrauch zunächst überhaupt nichts erkannte. Doch dann sprach aus den Rauchwolken heraus eine Stimme zu ihm.

»Bruder, wir haben dich schon erwartet, denn ohne deine Mithilfe ist unser Plan nicht auszuführen. Gott ist groß und hat dich zu uns gesandt, damit wir die neue Stadt errichten können.«

Hamid schwieg, auch wenn sein unsichtbarer Gesprächspartner offenbar auf eine Antwort von ihm wartete. Still war es in dem Raum, nur aus der Ferne war das Krähen eines Hahns zu hören und das Bellen der Hunde, die in den Müllbergen nach Nahrung suchten. Die Hitze im Raum war fast unerträglich und wurde in der Stille noch drückender. Da fasste ihn die Hand des bis dahin Unsichtbaren.

»Die neue Stadt im neuen Reich, in der wir alle in Glück und Frieden wohnen, auch diejenigen, die bereits ins Paradies vorausgegangen sind. Der neue Staat in einer neuen Welt, denn wir werden uns diese untertan gemacht haben. Glaubenskrieger werden die Siege errungen haben. Wenn wir früher in offener Feldschlacht die Kreuzritter vertreiben und uns wieder den Orient zu eigen machen konnten, so werden wir auch jetzt die letzte Schlacht gegen die Ungläubigen gewinnen. Diese Schlacht hat schon begonnen und bereits das Leben vieler Feinde gefordert. Aber nicht immer können wir Flugzeuge einsetzen oder Atomreaktoren sprengen. In diesem Land muss gezielt die Regierung vernichtet werden, und wenn es nicht die gesamte auf einmal sein kann, dann ein Verräter unseres Glaubens nach dem anderen.«

Der Mann schob eine Videokassette in das Gerät unter dem Fernseher, der neben ihm stand, und lud Hamid ein, sich zu setzen. Eingehüllt von religiösen Gesängen verfiel Hamid bald in einen Trancezustand, der auch anhielt, als aus dem Fernseher die Anleitungen zum Anlegen und zum Auslösen von Sprenggürteln ertönten. So musste es wohl auch sein, wenn Passagieren eines Flugzeugs das Anliegen der Sicherheitsgurte erklärt wird, wovon ihm sein Bruder erzählt hatte, nachdem er von seinem Flug zu den heiligen Stätten zurückgekommen war. Die Sicherheitsgurte für unseren Glauben, fielen ihm auch die Worte des Ibn Bakr ein, die dieser einmal verwendet hatte, als er darauf zu sprechen gekommen war, dass der Schutz des Glaubens wichtiger als der Schutz des Lebens sei, ja im Gegenteil, die Aufgabe des Letzteren oft für den Ersteren unabdingbar sei.

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