Der grüne Pfad hat nie ein Ende

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Der grüne Pfad hat nie ein Ende
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Gerhard Böttger

DER GRÜNE PFAD HAT NIE EIN ENDE

Jagdliche Erlebnisse in heimischen und fremden Revieren


Leopold Stocker Verlag

Graz – Stuttgart

Umschlaggestaltung: Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at

Bildnachweis: Foto Umschlag-Vorderseite: Heinz-Dietrich Hubatsch

Alle anderen Fotos wurden vom Autor zur Verfügung gestellt.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Leopold Stocker Verlag GmbH

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E-Mail: stocker-verlag@stocker-verlag.com

www.stocker-verlag.com

ISBN 978-3-7020-1886-3

eISBN 978-3-7020-1990-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Leopold Stocker Verlag, Graz 2020

Layout und Repro: Ecotext-Verlag Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, Wien

Inhalt

Glossar

Vorwort

In heimischen Revieren

Im letzten Dämmerlicht

Der Abnorme

Auf drei Läufen

Ein besonderer Elbmarschbock

Schwarze Böcke

Listige rote Strolche

Die heimlichen Marder

Mümmelmann hat viele Namen

Mit meiner Drahthaarigen auf Gänse

Unverhoffte Beute in der Damwildbrunft

Sommer im Hochwildrevier

In fremden Revieren

Ein Karpatenhirsch

Der graue Schaufler aus Socodor

Ein Damhirsch mit Landesrekord

Noch eine Goldmedaille

In den ukrainischen Karpaten auf Böcke und Sauen

Ukraine – Land und Leute waren mir immer wichtig

Urige Achterhirsche – Sikajagd in Wolhynien

Russland und die Elche am Ural

Glossar

Manche Begriffe aus der Jägersprache sind stark regional geprägt und in anderen Gegenden Deutschlands bzw. in Österreich oder der Schweiz nicht bekannt. Daher hier eine kleine „Übersetzungshilfe“:


Beständer: Eigenjagdbesitzer bzw. Jagdpächter
Betze: Fuchsfähe (Ranzzeit ist, „wenn die Betze rennt“)
Blänke: kleiner Weiher, Stillgewässer (österreichisch auch Lacke)
Brack: Teich oder See, ursprünglich durch einen Deichbruch nach einer Sturmflut entstanden
Buchenrauschen: junge, dicht belaubte Buchenheister
Ermeline: poetische Bezeichnung für die Fuchsfähe
Frosch: übliche Bezeichnung für einen gestreiften Frischling
Groner: kurzes, verhaltenes Melden des Brunfthirsches
Hasenpanier ergreifen: flüchten
Kapuziner, Kohlhiesel, Krummer: Bezeichnungen für den Hasen
Kujel: niederpreußisch für männliches Schwein, in der norddeutschen Jägersprache gebräuchlich für eine schwache Sau
Kusselgelände: spärlich mit Büschen bewachsenes Gelände
Malepartus: Name für den Fuchsbau in der Fabel
Meister Bockert: Biber
Neue: Neuschnee, der das Abspüren und Abfährten ermöglicht, auch „weißer Leithund“ genannt
Reineke Voß (Rotvoß): Name des Fuchses in der Fabel
spielohren: Der Hase ist misstrauisch und bewegt seine Löffel, um eine eventuelle Gefahrenquelle akustisch zu orten
Vogel Bülow: mecklenburgischer Name für den Pirol
Wippsteert: plattdeutscher Name für die Bachstelze


Die norddeutschen Bracks und Blänken bieten Lebensraum für eine artenreiche Flora und Fauna – nicht zuletzt für das Wasserwild.

Vorwort

In meinen letzten Büchern war ich immer bestrebt, dem eigentlichen Erzählstrang einige Gedankengänge in Form eines nicht zu langen Vorwortes, eines Gedichtes oder zumindest eines aussagekräftigen Weidspruches voranzusetzen. So möchte ich den geneigten Leser begrüßen, einstimmen auf die geistigen Ausflüge in das Jagdrevier mit spannender Erlebnisschilderung und einige Worte zu einem mir am Herzen liegenden Thema der weidmännischen Tradition und aktuellen Jagdkultur äußern.

Auch dieses Mal ist es mir ein Anliegen, an dieser meines Erachtens löblichen und von vielen Autoren gepflogenen Sitte festzuhalten.

„Panta rhei“ – alles fließt (Heraklit), alles ist in Bewegung und in Veränderung, so hat sich auch das Jagen im Laufe der Menschheitsgeschichte gravierend gewandelt, das ist ein natürlicher Prozess. Vergessen wir aber nicht, dass unsere Vorfahren seit Tausenden von Generationen Jäger waren und danach nur etwa, um eine Zahl zu nennen, zweihundert Generationen die sesshafte Lebensweise mit Ackerbau und Viehzucht ausübten.

Die Jagd als Überlebenskampf zur Sicherung von Nahrung und Kleidung war bis zur neolithischen Revolution und Jungsteinzeit höchst existenziell. Bei Naturvölkern war es wesentlich länger und bei den leider immer weiter zurückgedrängten Buschleuten oder Buschmännern (heute San genannt) Südafrikas ist sie es bis heute. Die lebensfeindlichen Wüstenlandschaften der Kalahari und der Namib, wo die Natur keine in sich geschlossenen Einheiten bildet, sondern Fauna und Flora in der Auseinandersetzung mit den unendlichen Kräften der unbelebten Materie um jeden Quadratzentimeter Boden kämpfen müssen, fordern diesen Menschen einiges ab.

 

Über lange Jahrtausende der Evolution des Homo sapiens galt: Wer ein schlechter Jäger war, musste um seine bzw. auch um die Existenz seiner Familie fürchten.

Das war schon im Mittelalter nicht mehr so. Die Gene des Jägers wurden „verwässert“, aber sie sind keineswegs verschwunden. Nur ihre Ausprägung manifestiert sich nicht mehr unbedingt nur in der Jagd an sich, also dem Nachstellen und Töten von Wildtieren (ich bin der Letzte, der das Weidwerk auf diese Ziele reduziert), sondern wir finden ihren Ausdruck in fast allen Bereichen des menschlichen Lebens in irgendeiner Form wieder und entdecken plötzlich an nicht erwarteter Stelle die Sehnsucht nach urmenschlicher Betätigung.

Die Jagd und ihre vielschichtige Kultur, die die allgemein menschliche Kultur in vielerlei Hinsicht so reich befruchtet hat, ist zu einem kostbaren Gut geworden, zu schade, um im Mainstream unterzugehen oder von Unkundigen und Banausen mit Füßen getreten zu werden. Den hohen volkswirtschaftlichen Nutzen der Jagdwirtschaft kann man zur Not noch erklären, aber der wahre Sinn des Weidwerkes wird einem großen Bevölkerungskreis niemals aufgehen.

Es ist doch nicht Schuss und Beute allein, um derentwillen wir immer wieder in die grünen Gefilde des heimischen Revieres eintauchen oder der Unrast unserer Zeit entfliehen wollen und gespannt sind auf Erlebnisse in noch unbekannten Wildbahnen. Das Drum und Dran, die Landschaft, die Menschen, die so überaus vielfältige Natur mit ihren Pflanzen, Tieren und ihrer Stimmung, all das vermittelt uns Zufriedenheit und Ausgeglichenheit, auch wenn wir – und das betrachten wir als ein Stück Normalität – einmal wenig oder gar keinen Anblick haben. Wenn aber das Stück zur Strecke gelegt werden kann, dem das ganze Sinnen und Trachten des Jägers galt (egal, ob es ein Gehörn, ein Geweih, Krucken, Schnecken oder Gewehre und Haderer aufweist oder keine Trophäe trägt), verfahren wir nach dem altem Brauchtum unserer Väter. Mit meiner Stimme möchte ich mich an dieser Stelle dafür einsetzen, dass dieses Brauchtum im deutschen Jagdwesen seinen sicheren, unantastbaren Platz für immer behält. Es ist eine Quelle freudigen und hehren Erlebens, ein gutes Gefühl, niemals eine lästige Pflicht. So wird das jagdliche Handwerk zum gerechten Weidwerk, und je tiefere Wurzeln es hat, desto höher ist die Kulturstufe des Handelnden, des jagenden Homo sapiens. „Sage mir, was du empfindest am gestreckten Wild, und ich sage dir, wer du bist.“

Meine Jagdfreunde denken genauso, und deswegen habe ich auch ihre mir erzählten Erinnerungen niedergeschrieben. Ich danke Simon, Stefan, Hermann, Werner und Peter und entreiße damit ihre ungewöhnlichen Erlebnisse dem Vergessenwerden.

Der Geist ist es, der den Unterschied ausmacht, und ich rufe alle Jäger auf, diese Kulturstufe ihrer Passion zu pflegen und zu bewahren und Auswüchse und negative Veränderungen zu bekämpfen. Dann bin ich zuversichtlich, dass der grüne Pfad nie ein Ende hat. Weidmannsheil!


Die Sikahirsch-Jagd ist eine der Passionen des Verfassers.

Im letzten Dämmerlicht

Etwas mürrisch sah ich auf die vor mir liegende Schneise hinaus. Der erwartete Anblick war bis jetzt ausgeblieben. Wo blieb der Verursacher der frischen Fegestellen, der Herr im Haus?

So paradiesische Zustände wie im Revier des Wildmeisters Janke gab es hier nicht. Zusammen mit einem Gast hatte er doch tatsächlich von einer Kanzel aus sage und schreibe 14 Rehböcke in Anblick gehabt, sechs davon in Büchsenschussentfernung, vier davon jagdbar und zwei davon geschossen!

Das Revier in der Nähe meiner Geburtsstadt Korbach weist aber auch einen idealen Biotop für Rehwild – und Sauen – auf.

Nun hat der Ansitz an einer Schneise den unbestreitbaren Vorteil, dass man nicht ständig bis zur Nackenstarre nach allen Seiten gucken muss, sondern den Rauch seiner Zigarre gemütlichen Blickes nach vorne verfolgen kann, bis der Seitenwind ihn in das junge Laubholz mitnimmt.

Es gab aber weiterhin keinen Anblick, und ich verließ den fahrbaren Ansitzwagen und bewegte mich schnellen Schrittes zum abgestellten Fahrzeug zurück. Eine Sache hatte ich noch im Kopf: Im freien Feld war es noch hell genug, um den Wachstumsfortschritt des Blühstreifens zu kontrollieren. Im letzten Jahr in der Blattzeit hatte ich dort im Getreide einmal kurz einen besonders hoch aufhabenden Bock gesehen. An ihn erinnerte ich mich im Februar, als ich bei Mondlicht vom Sau-Ansitz zum abgestellten Auto zurück pirschte und dort an gleicher Stelle zwei Stück Rehwild draußen standen. Eins hatte nichts auf – eine Ricke, das andere überlauscherhoch geschoben. „Um den Bock musst du dich mal kümmern“, schoss es mir damals durch den Kopf. Ich hatte ihn nicht vergessen und vermutete, dass er dem geplanten Blühstreifen – das war sein Territorium – durchaus hin und wieder einen Besuch abstatten würde.

Also, mal schauen, was die Saat dort macht. Ich hatte mir auch schon eine Örtlichkeit ausgesucht, wo ich eine transportable Leiter aufstellen wollte.

Dreißig Meter vor der Heckendurchfahrt zum Feld stoppte ich meinen Wagen, schnappte mir nur das Glas und zog los. Im Wald zu meiner Rechten hatte die Dunkelheit schon die Überhand gewonnen, und ein Bock wäre nach seinem Gehörn kaum noch anzusprechen gewesen. Auf dem freien Feld hatte der späte Maientag noch nicht ganz kapituliert, ich sah sofort den Wachstumsfortschritt der gemischten Saat mit Stickstoffsammlern und Sonnenblumen, da könnte schon mal ein Happen für den genäschigen Äser eines Bockes oder einer Ricke dabei sein.

Das war ja hier nicht alles nur für die Mäuse bestimmt, deren Löcher und Gänge das Feld bedeckten – da strich auch schon der Waldkauz über die Fläche, schwenkte scharf ein und blockte auf eine der am Weg stehenden alten Eichen auf.

Ich nahm das Glas an die Augen – und hatte prompt ein Stück Rehwild in den Linsen. Es wechselte zügig am Feldrand direkt auf mich zu, verhielt jetzt – und begann an den Randbüschen zu fegen! Ein Bock, aber was für einer?

Hier kontrollierte und markierte einer sein Territorium, hatte ich den Eindruck. Spitz von vorn wechselte er weiterhin in meine Richtung. Er hatte doch ziemlich hoch auf!

Siedend heiß fiel mir mein „unbewaffneter Zustand“ ein. Schnell tauchte ich zurück in den Heckenstreifen, lief möglichst lautlos zum Wagen und schnappte mir die Büchse, die ich sofort durchlud. Schnell zurück – da saß doch tatsächlich ein Mümmelmann in der Durchfahrt, der bei meinem Erscheinen einen Kegel machte und das Hasenpanier als den besseren Teil der Tapferkeit ergriff. Hoffentlich hatte er den Bock nicht „angesteckt“!

Vorsichtig lugte ich um die Ecke, blieb so weit wie möglich noch in der Sichtdeckung der Vegetation. Da stand er, nur noch 100 Meter entfernt, verhoffte und sicherte. Mit einer einzigen Flucht wäre er in dem schon dicht belaubten Heckenstreifen verschwunden, hätte den Forstweg überfallen und seinen Hochwaldeinstand mit mehreren Dickungen erreicht.

Jetzt war der Kauz zu seinem erneuten niedrigen Jagdflug aufgebrochen, der Bock äugte kurz hinter ihm her, und dabei sah ich die enormen Stangen von der Seite, was meinen Puls nicht gerade beruhigte. Er war es!

Das Licht schwand und schwand, was tun? Nirgendwo eine Auflage oder Anstreichmöglichkeit. Probehalber kniete ich mich hin, ging in Anschlag, stützte dabei den rechten Ellenbogen auf dem rechten Knie auf. Es ging, diesen Anschlag hatte ich überdies auf der Pirsch schon oft praktiziert. Immer noch ging es darum, nicht zu weit in den freien Bereich vorzurücken, wie gesagt …

Der Bock zog näher, aber immer spitz von vorn, das Absehen des Zielfernrohres tanzte ihm auf dem Stich herum. Einen Moment geriet ich ganz kurz aus der Balance, eine Bewegung von mir muss dem sinnenscharfen Wild aufgefallen sein. Der Bock verhoffte, plötzlich stand das personifizierte Misstrauen da vorne! Er äugte und sicherte, verrenkte den Träger, hatte etwas mitbekommen, aber mich in meiner knienden Haltung noch nicht als Feind erkannt.

Laut und markig schreckte er, und ich sah schon meine Felle davonschwimmen.

Hatte ich wieder eine Bewegung gemacht? Jetzt wurde es dem Bock zu viel, und er sprang ab – aber nicht Richtung Einstand, sondern über den zukünftigen Blühstreifen hinweg, er wollte den dort angrenzenden Getreideschlag erreichen. Vorher ein letztes Verhoffen in meine Richtung, dabei stand er breit, das ganze leicht ansteigende Feld als Kugelfang hinter ihm.

Ich war mitgefahren, mit peitschendem Knall raste das Geschoss aus dem Lauf und riss den Bock von den Läufen. Keine Flucht mehr, kein Schlegeln. Ich sah ihn mit bloßen Augen liegen.

Noch fünf Minuten Dämmerlicht. In Anbetracht dieser Tatsache klaubte ich die Patronenhülse auf und ging hin zu meiner Beute. Als ich sie nach der roten Arbeit am Böschungshang zum Ausschweißen und Auskühlen streckte, war es wirklich vollends dunkel geworden, und die ersten Sterne blinkten matt am Himmel zwischen düsteren Wolkengebilden. Aber die wenigen Minuten Dämmerlicht hatten gereicht, um die dicken Rosen und den mächtigen Unterbau des nach oben abfallenden Sechsergehörnes zu bewundern. Die Totenwacht für den sieben- bis achtjährigen Bock hielt ich beim Aufsteigen des den Jäger so oft beobachtenden zunehmenden Mondes. Unverhofft kommt oft auf der Jagd, und darüber sann ich nach.


Im allerletzten Büchsenlicht kam der alte Bock zur Strecke.

Der Abnorme

So schnell wie er aufgetaucht war, verschwand er auch wieder im dichten Unterwuchs des Mischwaldes und hinterließ einen Jäger, der das Glas nicht mehr an die Augen gebracht hatte und sich fragte: „Was – um Huberto willen – hatte dieser Bock auf?!“

Eins hatte ich in den drei Sekunden, die mir zur Verfügung standen, gesehen: Er hatte viel, aber unterschiedlich auf, rechts „etwas anderes“ als links. Auf die 60–70 Meter Entfernung bei bestem Morgenlicht hatte ich links etwas „Schaufeliges“ erkannt; dieser abgewandelte Begriff, aus der Welt der Damhirsche und Elche entliehen, war mir sofort eingefallen.

Meine Drahthaar-Hündin, die sich (nach längerer Ausbildung) unaufgefordert gesetzt hatte, nachdem ich so abrupt stehen geblieben war, stupste ihren Fang gegen meinen linken Oberschenkel: „Wollen wir nicht weiterpirschen?“, hieß das. „Nein, wir warten noch einige Minuten, und dann zeigst du mir den Wechsel, den der Bock genommen hat“, antwortete ich ihr leise – oder hatte ich es nur gedacht?

Als wir dann losstiefelten, dauerte es nicht sehr lange, bis die Hündin die untrügliche Nase herunternahm und die frische Fährte verwies. Trittsiegel waren nicht zu sehen auf der grasbewachsenen Schneise. Bei mir liefen die „grünen Hirnverbindungen“ schon länger auf Hochtouren. Das war ein Bock, dem nachzustellen es sich lohnte, der bestimmt eine begehrenswerte Trophäe trug und eindeutig anzusprechen war.

Jetzt musste ein Schlachtplan entworfen werden, wie diesem roten Junibock – eigentlich war der Juni mein Lieblingsmonat für die Bockjagd – am besten beizukommen war.

Der Vogel Bülow, wie die Mecklenburger den Pirol bezeichnen, pfiff mir eins, ließ mich aber sein zitronengelbes Gewand nicht bewundern. Er hatte aus den grünen Laubkronen heraus eine gute Einsicht in das deckungsreiche Gelände – mir fehlte sie, Hochsitze gab es hier nicht. Der Ansitz an einer der Schneisen auf dem Stock schien mir zu stark auf den Kameraden Zufall abgestellt. Die Morgenpirsch mithilfe der Hundenase erschien mir interessanter, aber es musste noch eine dritte Möglichkeit geben.

Ich jagte erst das zweite Jahr in diesem abgeschiedenen mecklenburgischen Revier Bökshagen, aber die alle Wildarten anziehende Waldlichtung (der Bock war in diese Richtung gezogen) kam mir in den Sinn. Es handelte sich um eine etwa zwei Hektar große unregelmäßige Fläche, die – in Privatbesitz befindlich – aus irgendwelchen Gründen nicht wieder aufgeforstet worden war und langsam durch Naturverjüngung und Buschaufwuchs unübersichtlich wurde. Noch aber waren genügend der Sonne ausgesetzte Gras- und Krautflächen enthalten, wo jetzt im Juni frische und gehaltreiche Äsung für das wiederkäuende Schalenwild – Rotwild war auch vertreten – in Hülle und Fülle vorhanden war. Bei meinem letzten Pirschgang dort waren mir die untrüglichen Anzeichen der Anwesenheit zumindest eines Rehbockes natürlich nicht verborgen geblieben: Fege- und Plätzstellen, waren es vielleicht die Hinterlassenschaften des Abnormen?

 

Also: Heute Abend Ansitz auf der dort seit langem stehenden hohen Baumleiter. Vergnügt nahmen mein Hund und ich den drei Kilometer langen Heimmarsch in die Unterkunft in Angriff. Für so eine Strecke stieg ich morgens nicht ins Auto; wenn es schwere Beute zu transportieren galt, konnte man das Gefährt nachholen.

So sah uns auch der frühe Abend wieder auf dem genussreichen Marsch ins Revier. Wie gut es tut, die eigenen Beine zu tummeln und nicht für jede kleine Strecke den vierrädrigen Umweltsünder zu benutzen! Bianka sah das genauso, man merkte es meiner Hündin an, wie auch sie sich der Bewegung freute. Als wir in den Waldteil des Revieres eintauchten, in die sogenannte „Hägener Heide“, streifte ich ihr die Halsung über, und willig übernahm sie den vorgeschriebenen Platz „bei Fuß“.

Um den Appell zu üben, blieb ich einige Male kurz stehen, schaute mit dem Glas nach einem hoch kreisenden Mäusebussard, ein anderes Mal zwei abstreichenden Tauben hinterher (hier war noch die Hohltaube vertreten) oder leuchtete in eine Schneise hinein.

Nur einmal musste ein kurzer Zischlaut die aufmerksame Hündin zum „Sitz“ veranlassen, dann klappte es, und wir konnten zur Pirsch übergehen – die ist nämlich mit häufigem Stehen, Schauen und Horchen verbunden!

Wegen des Windes machten wir einen kleinen Umweg, und dann sah ich die Ansitzeinrichtung vor uns auftauchen. Wildanblick hatten wir bisher nicht gehabt, es war ja auch noch früh.

Meine Drahthaarige hatte viel Bewegung gehabt und ließ sich ohne Druck am Fuß der Leiter ablegen. Obwohl sie mir niemals „durchgegangen“ ist, pflegte ich ihre Führleine am Holm zu verknoten – es gab mir einfach ein sicheres Gefühl.

Lange hatte ich keine gute Zigarre mehr geraucht, setzte sie aber jetzt wohlgelaunt und mit Genuss in Brand und wartete auf die Böcke, die mir hier ihre rote Decke präsentieren würden. Einer war ja hier mindestens zu Hause!

Gerne ließ ich mir von der im Juni noch so lebendigen Vogelwelt die Zeit vertreiben und rechnete noch nicht mit Anblick, als sich bei noch über den Baumwipfeln stehender Sonne doch schon ein Stück rotbraune Decke durch eine Lücke schob. Obendrüber schwankte ein silbergraues Bastgeweih, an dem ich wenig später 14 Enden zählte, wobei die Viererkrone noch nicht ganz ausgeschoben schien. Ein mittelalter, gut veranlagter Hirsch, der völlig vertraut von uns weg äste und bald wieder verschwand.

Bianka hatte mit hoher Nase Witterung genommen, fing etwas an zu zittern – es waren nur 50–60 Meter bis zum Wild –, beruhigte sich aber schnell wieder. Im Vorjahr hatte ich in diesem Revier meine stärkste Abwurfstange mit 3,2 Kilogramm Gewicht gefunden, auch von einem Vierzehnender, nach dem Petschaft zu urteilen aber mindestens vom 8. Kopf, sodass sie nicht von dem eben gesehenen Hirsch stammen konnte. Über eine Stunde lang hatte ich kreisförmig um die Fundstelle herum nach der Passstange gesucht, sie aber leider nicht gefunden. Die Entdeckung einer gut angenommenen Suhle in einem versteckten Sumpfloch war aber auch ein Erfolg! Als ich dem Beständer davon berichtete, wetterleuchtete es in seinem Gesicht: „So, hast du sie entdeckt? An diesem Rückzugsort unseres Wildes herrscht strenge Jagdruhe. Es gibt nur eine einzige Ausnahme – der starke Feisthirsch!“

Vom Rotwild wieder zum Rehwild. Als das Tagesgestirn sich zur Nachtruhe vorbereitete, tauchte in etwa gleicher Entfernung eine Ricke mit ihrem Kitz auf, die ich fünf Minuten beobachten konnte.

Eigentlich hatte ich mir hier mehr Anblick versprochen, aber den Ansitz hatte ich sehr genossen. Als es so dunkel geworden war, dass ich nicht mehr ansprechen konnte, baumte ich ab. Der Hund freute sich über die erneute Bewegung und verwies mir auf dem Heimweg so manche frische Fährte, zog immer wieder kurz an, stellte die Behänge auf und teilte mir durch sein ganzes Verhalten mit, dass in dem Bereich viel Wild auf den Läufen war. Daraufhin fragte ich sie: „Bianka, war der Abnorme hier auch unterwegs?“ Sie schaute mich wissend an und schüttelte ihren edlen Kopf.

Also morgen früh wieder die Schneisen abpirschen und die kleinen Blößen und Lücken im Bestand im Auge behalten!

Als es so weit war, wählte ich den gleichen Pirschweg wie am Vortag, der Wind hatte nicht gedreht und würde dem am Morgen Richtung Einstand ziehenden Wild meine Anwesenheit verraten. Man wird es nachvollziehen können, dass es mich bald zu „der“ Schneise hinzog, an der ich den Bock zum ersten und einzigen Male gesehen hatte. Es widersprach nicht meinem Plan, hier auf dem Sitzstock eine Viertelstunde zu verhocken, bevor die Morgenpirsch weitergehen sollte. Zufrieden nahm der Hund neben mir Platz, und zwar so, dass ich seinen Kopf ständig im Auge hatte, denn er würde mir die Botschaften des Windes vermitteln, die ich Zweibeiner mit meinem verkümmerten Riechorgan nicht mitbekam.

Die Kühle des frischen Junimorgens vor Sonnenaufgang ließ mich bald etwas frösteln. Den Kuckuck schien das zu amüsieren, ganz nahe ließ er seine heisere Lache ertönen, bevor ich den Sperbergefiederten über die Wipfel streichen sah.

Da brach es in dem kürzlich durchforsteten Stangenholz rechts vor uns, wenig später flitzte ein vorwitziger Frischling über die Schneise. Während ich noch dachte: „Nanu, der ist doch wohl nicht alleine?“, schob sich schon die Bache aus dem dichten Himbeergestrüpp heraus, gefolgt von fünf weiteren Fröschen, die wussten, was sich gehört und schön der Mama auf dem Pürzel folgten. Bianka tauschte einen tiefen Blick mit mir und sackte enttäuscht etwas zusammen, als ich abwinkte.

Da! Ein zorniges Schrecken aus dem Stangenholz. War es der Bock? Rehwild pflegt auf diese Weise häufig seinen Unmut über die quirligen Sauen auszudrücken.

Vierläufer und Zweibeiner richteten sich auf, Spannung lag plötzlich in der Luft.

Die Schneise war nur schmal, vorsichtig und langsam nahm ich schon mal die Büchse hoch und ging in Anschlag. Eine Chance würde ich trotzdem nur haben, wenn der Bock zumindest kurz verhoffen würde. Auf ein flüchtiges Stück würde man an dieser Stelle nicht fertig werden. Da war er schon! Es gibt viele Situationen auf der Jagd, in denen man unbedenklich durchs Zielfernrohr ansprechen kann. Aber … das Stück hatte nicht auf, eine Ricke!

Völlig breit stehend äugte sie zur anderen Seite hin, dann zu mir rüber, neigte den jetzt erkannten schlanken Schmalreh-Hals, zupfte ein Kräutlein und verschwand im dichten Ginsterbestand. Jeder Weidgenosse wird mir beipflichten: Jetzt musste er kommen!

Ganz leises Klicken des Stechers, im Zielfernrohr erwartete ich jeden Moment die rote Decke, das klar zu erkennende Schaufelgehörn – und fieberte vor dem Schuss!

Eine Minute, zwei Minuten … Er kam nicht! Ich setzte die Büchse ab, war aber jederzeit bereit, sie blitzschnell wieder hochzunehmen. Meine Bereitschaft wurde nicht belohnt, und nach einer Viertelstunde war ich mir ziemlich sicher, dass meine Büchse heute nicht mehr sprechen würde. Das Schrecken konnte aber nicht von einem Geist stammen, und ich sann über die hundert Gründe nach, warum das begehrte Wild sich heute nicht gezeigt hatte.

Trotzdem marschierte ich entspannt durch die herrliche Natur mit dem freudig mich begleitenden Hund an der Seite in Richtung Unterkunft zurück mit dem festen Vorsatz: Sowohl heute Abend als auch morgen in der allerersten Frühe wieder Ansitz an der Schneise!

Es ist immer ein Genuss, das langsame Vergehen eines Junitages im Revier – und nicht in engen vier Wänden – zu erleben und mit allen Fasern des Menschseins den unendlich vielen Facetten des Lebens „in Farn und Fichten“ zu folgen. In Bökshagen gab es selten eine Störung durch Zweibeiner. Noch eine Seltenheit gab es an dem Abend: Keinerlei Wildanblick! Auch keine Lautäußerung, kein Schrecken im Bestand, kein Brechen von Hochwild, auch die Hundenase zeigte nichts an.

So ging ich am nächsten Morgen mit gemischten Gefühlen hinaus, obwohl das Wetter und vor allem der Wind mir wohlgesonnen waren und ich meinen alten Ansitzplatz deswegen wieder beziehen konnte. Und – diesmal hatte ich den gleichen Anblick wie am Tag zuvor: Es wird die gleiche mittelalte Bache gewesen sein, die ihre sechs Frischlinge – diesmal alle hinter ihr – über die Schneise in den Tageseinstand führte. Beschwören kann ich es natürlich nicht, dass es auch das gleiche Schmalreh war: Nicht nur ein Häppchen nahm es auf der Schneise auf, sondern äste zwei oder drei Minuten lang auf dieser, völlig vertraut und kaum einmal den feinnervigen Kopf zum Sichern erhebend.

Bevor es einzog, wechselte es auf kaum 50 Meter an meine Position heran, was mich veranlasste, den Gesichtsschleier von der diesmal getragenen Schirmmütze herunterzulassen. Bei der Blattjagd ging ich kaum einmal ohne diese Gesichtstarnung hinaus.

War der „Schaufelige“ hier nicht mehr um die Wege? Schon mindestens eine halbe Stunde lag die Schneise ohne Leben vor mir. Aufmerksam wurde ich, als meine Hündin abrupt ihren Kopf erhob, die Behänge aufstellte und in das mit dichtem Unterwuchs bestandene Stangenholz hineinäugte. Ich hatte nichts gehört oder gesehen.

Doch im selben Augenblick blendete mich eine Bewegung auf der „falschen Seite“, wo das Schmalreh verschwunden war. Ein Stück rote Decke in der Randvegetation – kam das Stück zurück, um noch Nachlese zu halten?

Nein, wieder brauchte ich kein Glas: Spitz zu mir hin verhoffte auf 70–80 Meter ein starker Rehbock, viel Masse zeigte sich zwischen den Lauschern, er äugte mich direkt an, durch mich hindurch, erkannte mich nicht.

Regungslos verharrten Jäger, Hund und Wild. Als der Bock eine halbe Wendung machte, stand er breit und gab mir die zwei Sekunden Zeit, schnell die Waffe hochzunehmen, wobei ich durch das Zielfernrohr die „erschreckend“ schaufelige linke Stange klar erkannte.

Er war es! Der Zeigefinger verstärkte den leichten Druck auf den gestochenen Abzug und der Schuss peitschte hinaus. Im Repetiervorgang sah ich den Bock fallen, sekundenlang die Läufe schlagen über den noch vom Morgentau glänzenden Stauden, dann zog wieder Ruhe und Bewegungslosigkeit ein, überraschendes und spannendes Erleben verhallte langsam, und nur das heftig pochende Jägerherz fand noch nicht so schnell zu seinem alten Rhythmus zurück.