Der Ziegenmelker

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Der Ziegenmelker
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© 2021 – e-book-Ausgabe

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Zell/Mosel

Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel

Tel 06542/5151 Fax 06542/61158

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-89801-911-8

Lektorat: Gabriele Korn-Steinmetz

Ausstattung: Stefanie Thur

Titelbild: Archv/shutterstock.com

Gerda C. Heidelmann

Der Ziegenmelker

Roman

Rhein-Mosel-Verlag

Ich suche nicht – ich finde

Suchen – das ist das Ausgehen von alten Beständen

und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuen.

Finden – das ist das völlig Neue!

Das Neue ist auch in der Bewegung.

Alle Wege sind offen und was gefunden wird,

ist unbekannt.

Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.

Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich

nur jene auf sich nehmen,

die sich im Ungeborgenen geborgen wissen,

die in die Ungewissheit,

in die Führungslosigkeit geführt werden,

die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen,

die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht

– menschlich beschränkt und eingeengt –

das Ziel bestimmen.

Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis

im Außen und Innen:

Das ist das Wesenhafte des modernen Menschen,

der in aller Angst des Loslassens

doch die Gnade des Gehaltenseins

im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.

(Pablo Picasso)

Die Sonne schien, als ich aufwachte. Meine Augen schlossen sich sofort wieder, weil sie das plötzliche Licht nicht mochten.

Doch nur einen Moment später öffnete ich sie erneut, nur einen winzigen Spalt breit und sah den sich bewegenden Schatten eines Zweiges an der Wand. Ich hob den Arm, um dem Schatten Einhalt zu gebieten. Vergeblich.

Es war mir unerträglich, dass sich um mich herum etwas bewegte. Mein Blick fiel dabei auf meine Hand. Sie sah seltsam blass und knotig aus, als wäre sie die Hand eines alten Mannes und nicht die eines jungen.

Der Anblick erschreckte mich. Unschlüssig bewegte ich sie hin und her, hob etwas mühsam auch die andere Hand, um sie gegeneinander zu reiben und zu beleben. Doch sie behielten das leidende Aussehen.

Mit einem Rest von Energie stand ich auf, denn ich musste dringend zur Toilette. Wie ernüchternd. War ich deswegen aufgewacht?

Ich wäre lieber noch auf dem Gipfel des sonderbaren Geröllhügels geblieben, auf den ich mich im Traum endlich hinaufgearbeitet hatte.

Oben die freie Luft einatmen zu können hatte mir seltsam gut getan. Der Zustand schien noch immer nachzuwirken. Selbst der Gang zur Toilette fiel mir leichter.

Über dem Waschbecken legte ich das Gesicht in die mit kaltem Wasser gefüllten Hände und massierte meine schmerzenden Augen.

Ich wiederholte den Vorgang so lange, bis die Kälte selbst in meine Schädelknochen zu dringen schien. Danach betrachtete ich mich im Spiegel.

Ein hageres, blasses Gesicht mit dunklen Bartstoppeln blickte mich an, ein Fremder. Nach dem Abtrocknen sah ich noch blasser aus. Der Spiegel musste sich irren. Das war ich nicht.

Ich setzte mich auf mein Bett und zog die Jeans von der Stuhllehne, eine vertraute Geste, mit der ich fast jeden Tag begann.

Doch ich wunderte mich, wie lange ich brauchte, um mein Hemd zuzuknöpfen.

Auch die Schuhe waren eigenartig schwer. Bevor ich weiter entscheiden konnte, was ich tun wollte, klopfte es.

Meine Mutter stand im Türrahmen. Und hinter ihr mein Vater.

Mit sonderbar fremden Augen, die nicht meine zu sein schienen, sah ich beide mit sorgenvollen Gesichtern auf mich zukommen.

Ich hörte meine Mutter sich räuspern und dann mit belegter Stimme sagen: »Guten Morgen, Gregor.«

Ich konnte mich nicht entsinnen, dass mein Vater jemals in dieses Zimmer gekommen war. Erschöpft setzte ich mich zurück auf die Bettkante und wartete auf das, was geschehen würde.

Mit entschlossenen Mienen kamen sie wie eine geschlossene Wand auf mich zu. Ihre Nähe drückte mir den Atem ab.

»Wie geht es dir?«, fragte mein Vater und durchbrach die Stille.

Das interessiert dich doch überhaupt nicht, dachte ich mit einer aufkommenden Aggression. Warum fragst du mich? Ohne zu antworten atmete ich hörbar aus.

Er drehte den Stuhl um und setzte sich mir gegenüber.

Meine Mutter schloss das Fenster. Das tat sie immer, wenn es laut zu werden drohte. Niemand sollte Zeuge unserer Auseinandersetzung werden.

»Gregor«, begann sie unsicher. In dem hellen Licht sah sie überaus groß aus, obwohl sie zierlich und viel kleiner war als ich. Das Gesicht meines Vaters hingegen nahm ich gar nicht wahr.

Ich blickte nur auf den sonnenbeschienenen Teil seiner braunen Cordhose.

Seit Tagen hatte ich alle Fragen meiner Mutter gereizt abgewehrt und auch kaum das Essen angerührt, das sie mir ins Zimmer brachte.

Nahezu verstummt hatte ich mich in mein Bett verkrochen, den Ort, von dem ich annahm, dass er nur mir gehöre. Ich hatte mich geirrt.

Sie erreichte mich überall.

Und nun hatte sie meinen Vater als Verstärkung mitgebracht. Ich blickte zu ihm hoch und bemerkte in seinem Gesichtsausdruck, wie unangenehm ihm dieser Besuch war.

Meine Mutter redete weiter auf mich ein. Als sie eine Atempause benötigte, ich auf ihre Vorschläge und Belehrungen jedoch nicht reagierte, begann mein Vater, wie mit einem Kind mit mir zu reden.

Er sprach liebevoll und inständig, er bat und flehte, aber auch seine Argumente erreichten mich nicht.

Ich zog die Schultern hoch und hörte nur dem Klang seiner Stimme zu, ohne den Sinn verstehen zu wollen.

Dann wurde er mit einem Mal unangenehm laut und eindringlich.

Schließlich packte er mich an den Schultern, als ob er mich wach rütteln müsse. Seine Berührung löste ein angstvolles Gefühl in mir aus.

Plötzlich verabscheute ich sie, mehr noch, ich hasste sie alle beide.

Ich hasste die Art, wie sie mich in die Enge trieben, doch am allermeisten verachtete ich mich selbst.

Der Hass stieg mit einem brennenden Schmerz in mir hoch, wuchs über mich hinaus und endete in einem gellenden Schrei:

»Nein! Neiiiiin! Ich will nicht! Ich will nicht in eine Klinik! Ich will keine OP! Keine Chemo! Lasst mich in Ruh! Lasst mich doch in Ruh!«

Als mein Schreien aufhörte, stürzte der peinigende Schmerz durch meinen Körper zurück, wie ein Turm, der in sich zusammenbricht.

Mit zitterndem Atem hielt ich mir die Fäuste vor die Augen und verschloss sie vor den immer noch drängenden Fragen meiner Eltern und dem Gellen meiner Stimme.

Plötzlich war es still.

Ich hatte noch niemals meine Eltern angeschrien. Erschrocken blickten wir uns mit aufgerissenen Augen an.

Meine Mutter atmete tief aus. Ihre Brust hob und senkte sich, als wolle sie erneut zu sprechen beginnen.

Doch mein Vater legte abwehrend die Hand auf ihren Arm. Sie bewegte nur stumm die Lippen.

Ich nahm die Autoschlüssel vom Tisch und verließ ein wenig taumelnd mein Zimmer.

»Gregor!«, hörte ich meine Mutter rufen »Gregor …!«

Doch sie kam mir nicht nachgestürzt, um mich zurückzuhalten. Sie ließ mich gehen.

Die Tür klappte hinter mir zu. Meine Schritte hallten auf den Steinstufen der Treppe.

Mein Auto stand an seinem gewohnten Platz. Ich stieg ein und steckte den Schlüssel in das Schloss.

Doch dann wusste ich nicht, was ich tun sollte. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass es nichts gab, worauf ich Lust hatte. Es wartete niemand auf mich.

Mechanisch drehte ich den Schlüssel um, startete den Motor und fuhr los. Ich hörte den Kies knirschen, bemerkte den glatten, schwarzen Anstrich des Eisengitters und ließ einem grünen Blumen-Lieferwagen die Vorfahrt.

Dann fuhr ich hinterher, automatisch, ohne Empfinden.

Selbst Frankfurt, die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen war, bedeutete mir nichts.

Ich hatte irgendwann einen Rundflug geplant, um zu sehen, welch ein Ungetüm sie war mit ihren Blechlawinen, die sich in sie hinein- und heraus wälzten, mit ihren Hochhäusern, Turmspitzen und Dächern, den Windungen des Mains, ihren Geräuschen und Lichtern. Doch es war bei dem Vorhaben geblieben.

Was wohl die Vögel von dieser Stadt hielten, wenn sie über ihr kreisten und den Luftraum mit den Abertausenden von Flugzeugen teilen mussten?

Ich hatte die Vögel nie interviewt.

Doch ich kannte die Stadt gut genug, um aus ihr zu fliehen, ohne nachdenken zu müssen.

Eingezwängt zwischen anderen Autos, Abgasen und Lärm fuhr ich an den Häusern, den Glastürmen der Banken und Versicherungen vorbei, hielt an den Ampeln, fuhr weiter, geradeaus, mehr links, mehr rechts, an den Messehallen vorüber, bis mir ein Plakat in die Augen sprang. Go West stand darauf.

Vielleicht war das meine Richtung. Nach Westen also.

Das Gefühl für die Zeit, sonst so wichtig, war mir verloren gegangen. Ich wusste nicht, ob ich bereits ein, zwei oder gar mehr Stunden unterwegs war.

Meine Hände klebten am Lenkrad wie angeschweißt. Das Lenkrad war das Einzige, was mir vertraut schien und meinem Tun einen Sinn gab.

Als ich ein Hinweisschild nach Bonn sah, nahm ich die nächste Abfahrt. Nach Bonn wollte ich nicht.

Ich fuhr lange Strecken durch nie zuvor wahrgenommene Waldgebiete. Die Autobahn war mitten hindurch gefräst worden. Die Landstraßen vor mir kannte ich auch nicht, aber sie waren verkehrsärmer und gut zu befahren.

 

Dann fiel mir ein, dass Samstag war. Die sommerliche Hitze hatte sich inzwischen im Auto eingenistet. Ich ließ das Fenster herunter und fuhr es dann wieder hoch.

In allem was ich tat war eine Art Sturheit, ein angelernter Mechanismus, der ohne große Kraftanstrengung für mich arbeitete.

Nach einer Hochebene mit grünen Feldern geriet ich unter einer Straßenbrücke in ein langgezogenes Tal, das wie eine verbeulte Wanne wirkte.

Ich riss mich aus meiner Lethargie. Vor mir waren plötzlich keine anderen Autos mehr. Ich konnte nicht mehr mechanisch irgendjemandem hinterher fahren. Ich musste mich entscheiden, wohin ich wollte.

An einem asphaltierten Platz neben der Straße hielt ich an und stellte den Motor ab. Ein Schwall heißer Luft prallte mir entgegen, als ich ausstieg.

Durch die Hitze oder auch durch das grelle Sonnenlicht wurde mir einen Moment schwindlig. Ich hielt mich am Türrahmen fest und atmete tief durch. Die Luft roch nach Heu und Staub und verursachte einen heftigen Husten, der mir schmerzlich in die Magengrube fuhr.

Auf der Anhöhe vor mir sah ich die dunklen Umrisse eines Waldes. Dort musste es kühl und angenehm sein.

Der steile Anstieg bereitete mir viel Mühe. Zweimal ließ ich mich erschöpft auf das verdorrte, hohe Gras fallen. Doch schließlich schaffte ich den Hang und stellte mich aufatmend in den Schatten.

Ein mit braunem Lavageröll bestreuter Weg führte in den Wald hinein. Ohne lange nachzudenken, mit der gleichen Sturheit wie am Steuer, heftete ich meinen Blick auf das braune Band vor mir. Ich sah weder nach rechts noch links, sondern folgte wie besessen dem schattigen Weg.

Mir war, als sei mein Kopf leergefegt. Es tat gut, leer zu sein und durch das mechanische Gehen in eine noch größere Leere zu gelangen.

Ich blieb erst stehen, als in dem Lavagebröckel etwas Helles aufleuchtete.

Vor mir sah ich einen kleinen, weißen Elefanten, so klein, dass er in meine Handfläche zu passen schien.

Er lag genau vor meinen Füßen, hatte mutig seinen winzigen Rüssel erhoben und schien irgendetwas in die Welt hinaus zu trompeten.

Beim Anblick des Plastikspielzeugs riss plötzlich etwas in mir auf. Der gefürchtete, schreckliche Schmerz kam zurück und trieb mir die Tränen in die Augen.

Wie in einem Film sah ich meine Mutter vor mir, betrachtete mein Leben, das verflochten war mit ihrem, sah Gestalten, Ereignisse und Begebenheiten, die ich schon lange vergessen hatte.

Die Bilder liefen rasend schnell rückwärts. Ein Schütteln überkam mich, als ich meine Mutter über einer Schüssel mit kochendem Wasser sitzen sah, in der Hoffnung, mich abtreiben zu können.

Ich hörte sie mit meinem Vater streiten, dass sie nie ein drittes Kind haben wollte, dass sie mich aber trotz aller Bemühungen hatte gebären müssen.

Wo hatte ich diese so intimen Gespräche belauscht? Von wem gehört? Es war so lange her, doch sie schienen sich festgeschrieben zu haben.

Als kleiner Junge saß ich zu oft unter langen Tischtüchern versteckt oder in nicht einsehbaren Ecken und hörte, was nicht für meine Kinderohren gedacht war.

Verstecke vermittelten mir das Gefühl von Geborgenheit und die überraschende Entdeckung, dass die Erwachsenen sich ihre Enttäuschungen gegenseitig vorwarfen oder ihre Nöte teilten. Dass sie mich nicht wahrnahmen überraschte mich.

Das Gehörte vermischte sich mit meinen eigenen, einsamen Zweifeln, die ich irgendwo in mir verdrängte, wo sie unverdaut liegen blieben.

Eine Aussage meines Vaters, dass er mich für einen Versager hielt, dass ich ein Mensch voller Ängste, widersprüchlich, dickköpfig und unzugänglich sei, ließ mich trotz der Hitze frösteln.

Ich hörte meine Mutter weinen. Sie schien wie von Sinnen. Ihre überschlagende Stimme vermischte sich mit dem Hämmern meines Herzens. Mir wurde übel.

Zitternd ging ich in die Knie und saß eine Weile vor dem kleinen Elefanten. Er schien zu wachsen, je näher ich ihm kam und trompetete unbeirrt weiter.

Ich atmete in kurzen Stößen, um ein Erbrechen abzuwehren und wartete ergeben, bis meine aufgebrachten Gedärme sich wieder beruhigt hatten.

Ich ließ das Spielzeug liegen, erhob mich in Panik und beschleunigte meine Schritte. Angst überfiel mich, mein Auto nicht mehr erreichen zu können. Doch als ich aus dem Wald heraustrat, sah ich es im Tal stehen.

Es war ein Rundweg, ich musste nur auf der anderen Seite über die Böschung wieder hinabsteigen. Die Hitze brachte meine Benommenheit zurück.

Ich zwang mich weiterzugehen bis zu einer Ansammlung von Hecken, um von dort schräg hinunter auf den Talboden zu gelangen.

Unterhalb der Hecken lief ich auf ein mit rotem Mohn überwuchertes Hangstück zu. Ein bohrender Schmerz fuhr mir durch den Leib.

Ich riss die Arme hoch und presste die Finger hart gegen meine Augäpfel. Das lenkte ab von der erbärmlichen Übelkeit und bescherte mir die Erscheinung des Tunnels mit der großen, hellen Öffnung am Ende, durch die wir alle hindurch müssen.

Ich flog auf den Tunnel zu, in die Helligkeit hinein und begann zu würgen. Den Kopf vornüber in das Blutrot des Mohns gebeugt, erbrach ich eine gallige Flüssigkeit.

Ich zitterte, wischte die Speichelfäden mit dem Handrücken von den Lippen und wartete auf das Ende des Schmerzanfalles. Mit der anderen Hand suchte ich nach einem Taschentuch, um mich abzutrocknen und meine Tränen aus den Augen zu wischen. Doch ich fand keins.

Verschwommen erblickte ich vor mir einen Engel. Er saß seitlich von mir auf der Bank und musste mich die ganze Zeit beobachtet haben.

Merkwürdig! War ich etwa schon gestorben?

Ich bemühte mich um ein Lächeln. Der Engel, wie ich bemerkte, lächelte zurück. Er trug ein weißes Kleid bis zu den Knöcheln, dazu weiße Sandalen.

Sein Gesicht war von dunklen Locken eingerahmt. Unter dem linken Auge auf der Wange fielen mir zwei winzige Muttermale auf.

»Entschuldigung«, begann ich und suchte nach den richtigen Worten, »ich hatte Sie nicht gesehen. Mir war schlecht. Ich, ich bin krank … Ich habe Krebs und … es hat mich eben hier erwischt. Vielleicht bin ich ja schon gestorben!«

Genau so empfand ich meinen Zustand.

Ich sprach nicht weiter. Mit den mageren Sätzen hatte ich meine jämmerliche Vorstellung gewiss zur Genüge umschrieben.

Es erstaunte mich jedoch selbst, dass ich zum ersten Mal vor einem Fremden ausgesprochen hatte, dass ich krank sei.

Der Engel schüttelte kaum merklich den Kopf. Er musterte mich einen Augenblick und sagte dann überzeugt: »Sie sind nicht gestorben und Sie müssen auch noch nicht sterben, wenn Sie nicht wollen.«

Ich sah ungläubig zu ihm hin. Wollte er mich trösten?

»Vor allem müssen Sie von dort, wo Sie bisher lebten, fortgehen. Mit aller Konsequenz«, ergänzte er.

Seine Augen suchten mein Gesicht ab. Fand er dort eine Antwort?

»Und außerdem«, fuhr er resolut fort, »sollten Sie künftig alles essen, was bitter ist.«

Er wies mit der Hand entschieden auf die unter uns liegende Wiese.

Das Ganze kam mir unwirklich vor. Woher wollte er wissen, was gut für mich war? Er kannte mich doch gar nicht.

Ich blickte ihn verblüfft und ratlos an.

Von der anderen Seite des Tales wehte Musik zu uns herüber. Auf der Anhöhe sah ich einen Kirchturm zwischen hohen Bäumen und Häuser in unterschiedlicher Höhe mit blau-grauen Schieferdächern.

»Im Dorf dort feiert man ein Fest«, erklärte er, »vor unserer Zeit lebten dort die Kelten. Es ist ein magischer Ort. Sie sollten hingehen und das Brot essen, das sie gebacken haben. In Quellwasser eingeweicht. Oder in Bier. Es gibt heute dort eine besondere Sorte Bier, bitter, aber gut für Sie.«

Er stand von der Bank auf und runzelte die Augenbrauen.

»Noch etwas«, sagte er und blickte aufmerksam zu mir herüber, »Sie sollten Ziegenmilch trinken, körperwarm. In kleinen Mengen, sieben Mal am Tag.«

Er hob die rechte Hand und ballte eine Faust. Dann führte er sie zum Mund, drückte sie einen Moment an die Lippen, öffnete die Faust wieder, beugte sich zu mir hin und legte mir die Handfläche sanft auf die Brust.

Ich wagte kaum zu atmen, aber mein Brustkorb hob und senkte sich spürbar unter dem schwachen Gewicht seiner Hand.

Nach einem kurzen Augenblick zog er die Hand wieder zurück, bewegte sie grüßend hin und her und drehte sich um. War er im Begriff wegzugehen?

Tatsächlich. Ohne ein weiteres Wort griff er nach dem an der Hecke angelehnten Fahrrad und setzte seinen Fuß auf die Pedale.

In meiner Verblüffung brachte ich kein Wort über die Lippen. Ich wollte ihn unbedingt zurückhalten, doch wie?

»Warten Sie«, gelang es mir schließlich zu sagen und fügte völlig ungewollt hinzu, »ich habe dort oben einen weißen Elefanten gesehen.«

Das klang absolut lächerlich, doch die Augen des Engels verengten sich zu einem Lächeln.

»Einen weißen Elefanten …«, wiederholte er, »das bringt Ihnen Glück.«

Er schwang sich auf das Fahrrad und fuhr weg. Ich sah ihm entgeistert nach, bis er hinter der Wegbiegung verschwand.

War das eine Halluzination?

Nein, er hatte wirklich dort gesessen und zu mir gesprochen. Ich setzte mich auf die Stelle der Bank, von der er aufgestanden war und rief mir seine Worte in die Erinnerung zurück.

Siebenmal Ziegenmilch trinken? Die Zahl sieben bedeutete in der Bibel Vollendung und Perfektion. Im Konfirmandenunterricht hatte ich es erklärt bekommen bei 2 Kö 5.10: ›Geh und wasch dich siebenmal im Jordan‹, das hieß also: oft.

Vor Anstrengung hielt ich den Atem an. Es dauerte eine ganze Weile, wie mir schien, bis ich mich von der Wirklichkeit der Begegnung überzeugt hatte.

Der trockene Grasgeruch, der mit einem heißen Luftschwall aus dem Tal zu mir herauf wehte, ließ mich erneut schrecklich husten.

Meine Knie zitterten, als ich aufstand und mir über den Hang hinab einen Weg suchte. In der Hitze kam ich nur mühsam vorwärts.

Auf der Straße, die zu dem Dorf führte, ging ich noch langsamer. Meine bedächtigen Schritte gaben mir das beschützende Gefühl, dass niemand mich bemerke.

Am Rand des Marktplatzes mit den vielen sonderbar gekleideten Menschen kaufte ich mir an einem Stand ein halbes Brot. Dann setzte ich mich auf eine Bank und legte die Hände auf meine kraftlosen Knie.

»Bier?«, fragte ein dralles Mädchen mit einer braunen Haube. Ich nickte kaum merklich und wenige Minuten später stand ein großes Glas Bier vor mir.

Die Männer und Frauen am Tisch beobachteten mich verstohlen, bis ihre Neugierde offenbar befriedigt war. Dann wandten sich ihre Köpfe erneut ihren Banknachbarn zu, um ihre unterbrochenen Gespräche mit ihnen fortzusetzen.

Einer von ihnen, ein schmalgesichtiger Mann mit einem sauber gezogenen Scheitel, schwang nach einer Weile die Beine zu mir herüber und sah mich neugierig und ein wenig listig an.

»Ist gut«, sagte er in seinem dörflichen Dialekt und wies auf das Bier, »das haben sie extra gebraut. Ist ja auch ein besonderer Tag heute, 1200 Jahre sind wir schon alt hier!«

Das war also der Anlass. Er hob sein Glas und prostete mir zu.

»Auf Ihr Dorf!«, sagte ich spontan und trank einen kleinen Schluck. Das Bier war sehr herb, doch angenehm frisch.

Während ich es auf der Zunge erwärmte, überlegte ich, wie ich das Brot einweichen konnte. Ich begann, mir ein Stück davon abzubrechen. Als ich mich damit abzumühen begann, reichte mir mein aufmerksamer Nachbar sein Taschenmesser.

»Ist nicht groß, aber es geht damit besser«, meinte er verschmitzt.

Ich drückte die kurze Klinge in den Brotlaib und begann, die Kruste aufzuschneiden. Danach ließ sich leicht ein Stück abtrennen.

Ich schnitt es in schmale, lange Streifenstücke und gab dem Mann sein Messer wieder zurück.

Er wies lächelnd auf meine Brotriemen und sagte ein sonderbares Wort.

Ich verstand nicht, was er damit meinte, bis ein Jüngerer am Tisch mir das Dialektwort erklärte. Es sei die Bezeichnung für die mundgerechten Stücke, die ich mir zurechtgeschnitten habe.

Also hatten alle am Tisch, auch wenn sie miteinander redeten, unser Gespräch mitbekommen. Ich blieb, so schien es mir, immer unter Kontrolle.

Entschlossen tauchte ich eines der Brotstücke in mein Bierglas, saugte es aus und aß es ganz langsam auf. Einer, der mich beobachtet hatte, erklärte etwas verständnislos, wie er Brot tunke, nämlich mit Leberwurst in gutem Bohnenkaffee.

Dabei senkte er seinen Blick in mein Glas und bedauerte wohl mein immer trüber werdendes Getränk. Er verzog den Mund. Brotkrümel im Bier! Wie schrecklich! Ein guter Biertrinker schien ich seinen Mienen nach nicht zu sein.

 

Ich war beruhigt, am Ende der Bank zu sitzen, denn sollte ich dieses seltsame Bier-mit-Brot-Gemisch nicht vertragen, konnte ich ohne Umstände hinter das nächste Haus flüchten. Doch es blieb alles ruhig in mir.

Nach einer Weile wurde ich angenehm müde und fühlte mich leicht betrunken. Der Wunsch nach Schlaf überkam mich zusehends, doch wo sollte ich mich hinlegen? Mein Auto stand weit unterhalb des Dorfes.

Zurücklehnen war nicht möglich. Allmählich sackte mein schwerer werdender Körper immer mehr nach vorne.

Mit dem brennenden Wunsch, die Arme auf den Tisch und meinen Kopf darauf zu legen, sah ich mich neugierig um. Vielleicht gab es irgendwo eine Wiese, wo ich allein sein konnte.

Mit einem Rest von Energie stand ich auf, griff nach der Brottüte und hob ungelenk die Beine über die Bank.

Ich spürte, wie die Köpfe meiner Tischnachbarn sich nach mir umdrehten und mich anstarrten. Es war schrecklich.

Eine Weile ging ich leicht schwankend auf einem asphaltierten Weg geradeaus, dann an einer grünen Hecke entlang, bis ich an ein geschmiedetes Tor kam.

Ein Türflügel stand offen. Hinter einer Reihe von Grabsteinen und hohen Bäumen entdeckte ich die Kirche, die ich von der anderen Talseite gesehen hatte.

Das Portal war nicht verschlossen. Mit etwas Mühe ließ es sich öffnen. Eine dumpf-kühle Luft schlug mir entgegen. Zu meiner Überraschung spielte jemand auf der Orgel.

Mit einem Seufzer überwand ich die Luftbarriere und setzte mich in eine der hinteren Bänke. Ich legte meine Brottüte neben mich und streckte die Beine aus.

Augenblicklich fielen mir die Augen zu. Mein Bauch drückte sich heraus, als sei ich schwanger, schwanger mit Brot und Bier. Welch ein seltsames Gefühl.

Ich befahl mir, an nichts zu denken und alles zu vergessen. Es war unvorstellbar angenehm, hier zu sitzen.

Mit dem Orgelspiel im Ohr musste ich sofort tief eingeschlafen sein. Ich wurde wach, weil mir jemand sanft auf die Schulter klopfte und sagte: »Sie können hier nicht schlafen.«

Ich riss die Augen auf.

»Ich schlafe nicht, ich denke nach«, entgegnete ich, bemühte mich, hellwach zu erscheinen und stand gehorsam auf.

»Ich muss die Kirche jetzt abschließen«, sagte der Mann entschuldigend.

Ich nickte, packte meine Brottüte und trat vor ihm aus dem Portal. Er schloss es ab und steckte den Schlüssel in seine Jackentasche.

»Haben Sie die Orgel gespielt?«

Vielleicht sollte ich ihm ein Kompliment machen.

»Ja«, sagte er kurz und lächelte mich fast ein wenig grimmig dabei an.

»Ihr Spiel hat mir sehr gut gefallen«, beharrte ich »vielleicht können Sie mir sagen, wo ich übernachten kann. Gibt es hier ein Hotel?«

Wir standen unter einer der riesigen Eschen auf dem Kirchhügel und blickten in die Richtung des Dorfes.

»Nein, hier gibt es kein Hotel«, meinte er bedauernd.

»Ich habe dort drüben einen Engel getroffen«, sagte ich unvermittelt und versuchte so, ihm meine Situation verständlich zu machen, »er erklärte mir, was ich machen soll. Hier.«

Dabei wies ich mit dem Zeigefinger heftig auf den Boden, als ob ich mich von dem Platz nicht mehr fortbewegen dürfe.

»Einen Engel?«, wiederholte er gedehnt und sah ernsthaft weiter geradeaus. Ich wusste nichts zu antworten und da meinte er: »Vielleicht sollten wir meine Frau fragen. Sie hat Ahnung von solchen Dingen.«

Ohne eine weitere Erklärung drehte er sich um. Ich ging neben ihm her, ohne Laut wie ein gescholtener Hund und schien das Denken aufgegeben zu haben.

Wir überquerten einige Straßen und Höfe und gelangten über einen bekiesten Platz durch ein hohes Tor in einen ummauerten, weitläufigen Garten. Vor uns, etwa in der Mitte des Gartens, stand ein ausladender Kirschbaum.

Der Mann bog mit beiden Armen die Äste auseinander, die wie ein Vorhang bis zum Boden reichten. Durch die gegenüber hängenden Äste kamen wir in ein offenes, ebenerdiges Zimmer, in das der Garten geradezu hineingewachsen war.

Der Orgelspieler deutete mit der Hand auf einen Stuhl.

Erschöpft setzte ich mich auf den geflochtenen Sitz. Es war absolut still. Eine Bachstelze landete im Gras und trippelte in eiligen Schritten über den Steinweg. In dem grünen Zimmer vernahm ich eine Bewegung.

»Miriam«, hörte ich den Orgelspieler sagen, »ich habe einen Gast mitgebracht.«

Ich sah hoch und erblickte eine Frau mit einem umwerfenden Lächeln. Unter dem linken Auge auf der Wange sah ich zwei winzige Muttermale. Ihr Gesicht war von Locken eingerahmt. Doch sie waren nicht dunkel, sondern grau, von einer unnachahmlichen Salz-Pfeffer-Mischung.

Ich starrte sie an.

»Ich … wir«, begann ich und verstummte vor den beiden Fünkchen in ihren Augen, die gleich Sturmlaternen warnend hin und her schwangen, als ob sie mir Einhalt gebieten wollten.

Mit einer kleinen Anstrengung schluckte ich hinunter, was ich hatte sagen wollen und wurde höflich.

»Ich heiße Gregor, Gregor Laif. Ihr Mann hat mich mitgenommen. Aus der Kirche.«

»Mein Mann heißt Stephan«, erklärte sie und sah zu ihm hinüber.

Die schwingenden Pünktchen in ihren Augen beruhigten sich. Ihr Lächeln war nicht verändert.

»Seien Sie willkommen, Gregor.«

Mein Herz machte einen Satz. Ich war mir sicher, es war die Stimme, die ich in meiner Erinnerung gespeichert hatte.

»Gregor traf heute einen Engel, der ihm den Rat gab, hier zu bleiben.«

Stephan bediente sich meiner Geste und deutete heftig auf den Boden vor sich.

»Ja«, sagte sie gedehnt und wandte ihm das Gesicht zu, »dann wirst du ihm dein blaues Sofa zeigen wollen. Ich werde das Abendbrot vorbereiten. Wenn Sie möchten, Gregor, können Sie mit uns essen.«

Ihre Einladung klang so selbstverständlich und herzlich, dass ich sie kaum abschlagen konnte.

»Danke, gerne«, sagte ich noch immer überrascht und wandte mich Stephan zu, dessen Hand ich auf meiner Schulter spürte.

Das blaue Sofa befand sich hinter dem grünen Vorraum in einem Zimmer, in dem auch alles andere blau war. Blau wie der Himmel des Universums, wie das Meer, Enziane, Glockenblumen, Blausterne.

Doch ich verschwendete nur einen kurzen Blick darauf, denn aus dem Blau hob sich etwas hervor, was mich die Augen aufreißen ließ: Trompeten, Klarinetten, Saxophone, ein Klavier, Notenstapel und kleinere und große Notenständer. Welch ein Anblick!

»Oh«, entfuhr es mir, »sammeln Sie die Instrumente oder spielen Sie sie auch?«

»Beides«, antwortete Stephan knapp und ich fand, dass er einen Moment lang meine Bewunderung genoss.

»Es ist schon lange her«, bekannte ich, »dass ich Saxophon spielte.«

Warum hatte ich das gesagt? Augenblicklich, fast mit einem schmerzhaften Ruck, tauchte ich erneut in die Welt der Ängste durch meine körperliche Schwäche ein. Aus dieser Zeit der schlaflosen Leere, der Schmerzen und Dispute mit meiner Mutter hatte sich auch mein Saxophon geflüchtet.

Stephan schien nichts zu bemerken. Er schürzte die Lippen zu einem kleinen Pfiff und drückte mir das nächststehende Tenorsaxophon in die Hand: »Dann probieren wir doch mal, ob es noch klappt.«

»Ich …«, begann ich und wollte trotzig sagen, dass ich auf keinen Fall spielen könne, doch Stephan meinte leichthin:

»Spiel’ irgendetwas.« Sein Übergang zu dem burschikosen Du sollte mich wohl ermutigen.

Gehorsam nahm ich das Saxophon und drehte mich wie ein Kind um, damit mich niemand sähe. Durch das grüne Zimmer ging ich langsam auf den Kirschbaum zu.

Dort, unter den Ästen, produzierte ich die ersten Töne. Sie kamen wie aus einer anderen Welt.

Ich umkreiste das Innere des Baumes, stieß mich an den Ästen, begann meine Schultern, meine Beine zu bewegen und entlockte meinem Instrument die offenbar in meinen Lungen gespeicherte Musik.

Sie verdoppelte sich mit einem Mal. Ich bemerkte, dass Stephan mit einer Trompete hinter mir her ging. Er parodierte mich mit unbeweglichem Gesicht und wippte die Ellbogen im Takt. Wenn ich schräg spielte oder nach Luft rang, spielte er unbeirrt weiter.

Mit Stephan im Schlepptau umkreiste ich in einer lustvollen Erschöpfung den Baum, unentwegt, fast wie in Trance und einem ungebärdigen Kind gleich, das seinem Tun keinen Einhalt mehr gebieten konnte.