Armas vom See

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Kurz darauf hörte er das Geräusch näherkommender nackter Füße auf dem Holz. Ehe Armas etwas sagen konnte, sprach Achternberg ihn an, ohne sich umzuwenden.

„Hast Du gut geschlafen?”

Die Trittgeräusche wurden einen Moment unterbrochen, ehe sie weiter näher kamen und dann ganz anhielten. Armas stand unmittelbar hinter Achternberg.

„Jou, schon.” Nach kurzer Pause. „Was macht der Hecht?”

„Eine gute Figur, mich zum Narren zu halten.”

„Ein Räuber mit Humor.”

„Kann man sagen.”

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?”

„Such’ Dir ein freies Plätzchen.”

Armas setzte sich diesmal nicht hinter Achternberg auf den Steg, sondern rechts von ihm nieder. Und er ließ seine langen Beine nicht im Wasser baumeln, sondern nahm die Schneidersitzposition ein.

Achternberg bemerkte diese Rücksichtnahme mit Wohlgefallen und einem leisen Schmunzeln. Armas stützte sich nach hinten mit den Händen ab. Er legte seinen Kopf in den Nacken und schloß die Augen.

Achternberg ließ einen Moment die Eintauchstelle seines Angelhakens aus den Augen und sah Armas an. Er fand, er sei schon ein besonders wohlgestaltetes Exemplar männlicher Mensch. Im Stillen hoffte er, der Junge sei nicht eingebildet darauf. Achternberg selbst war einst ein hübscher Bursche gewesen, was er nun unter einem grauen „Gesichtspullover” mit Schnurrbart verbarg. Er sah wieder auf den See hinaus. Die Sonne brannte herunter. Der See lag still. Schweigen.

Armas rieb mit seinem rechten Zeigefinger über seine Nase. Danach stützte er sich wieder nach hinten ab. Er wirkte total entspannt, atmete ruhig.

„Verabschiedest Du Dich eigentlich immer französisch und wie ein U-Boot?” fragte Achternberg mit ruhiger Stimme, als fürchtete er, der Hecht könnte mithören.

„Nö, nicht immer. Und warum wie ein U-Boot?” Armas öffnete die Augen und sah Achternberg in einer Mischung aus Verwunderung und Amüsiertsein an.

„Weil Du so leise weggetaucht und abgelaufen bist, wie eines unseres neuesten Unterseeboote.”

„Sie haben so in Gedanken versunken auf den See hinausgeschaut, da wollte ich Sie nicht stören.”

Die beiden sahen sich an. Achternberg nickte wortlos anerkennend.

„Danke schön übrigens für das Badetuch, den Strohhut, die Sonnencreme und die kalte Putenbrust. Hat gut geschmeckt.”

„Da nich’ für.”

Nach einer kurzen Pause.

„Finden Sie, daß ich einen schönen Körper habe?” Armas sah ihn mit seinen leuchtenden braunen Augen intensiv an. Achternberg gab den Blick zurück. Eine ebenso seltsame wie verständliche Frage.

„Wäre ich Bildhauer oder Maler, ich wäre total begeistert.”

„Und als Maler mit Worten sind Sie es nicht?”

Achternberg zog seine rechte Augenbraue hoch. Worauf wollte der Junge hinaus?

„Ich denke, ich müßte erst eine Weile nachdenken, ehe ich Dich mit den richtigen Worten beschreiben könnte. Beantwortet das Deine Frage?”

„Jou. − Und wie finden Sie meinen Schwanz?”

Achternberg wandte seinen Kopf in Zeitlupe dem aparten Fragesteller zu und sah ihn über den Rand seiner Brille endlos scheinende Momente an. Er dachte, er habe sich verhört. Achternberg mußte sich tatsächlich einen Moment sammeln und erwischte sich dabei, daß er die Männlichkeit des Jungen genau musterte.

„Meinst Du entspannt oder als Ständer?” Jetzt war die Verblüffung bei Armas angekommen. Er wurde rot. Er schluckte.

„Sie haben …?”

„Ich habe …”

„Oh.”

„Nichts, was Dich beunruhigen müßte.”

„Nicht?”

„Nein. Ich habe nichts gesehen, was nicht vollkommen natürlich gewesen wäre.”

Armas’ Gesichtsausdruck zeigte Erleichterung.

„Aber sage mal, auch wenn der Ort scheinbar passend ist − warum betreibst Du fishing for compliments? Hast Du das nötig?” Achternberg sah ihn mit erneut erhobener rechter Augenbraue an.

Armas räusperte sich zum ersten Mal etwas verlegen.

„Na ja, er ist nun einmal auch hängend sehr lang und seit zwei Jahren werde ich auf dem Gymnasium nur noch gehänselt. Ob ich auf dem Landesgestüt geboren worden wäre, ob mein Vater ein Pferd sei, manchmal eseln sie mir nur hinterher ,Iaah, iaah!’. Und einer flüsterte mir ins Ohr, wie denn der Zuchthengst hieße, mit dem sich meine Mutter gepaart hätte …”

„Und?”

Armas war knallrot geworden, aber er blickte doch triumphierend auf.

„Der ist danach mit solch einem blauen Auge herumgelaufen!” Armas deutete mit beiden Händen die Größe des Veilchens an.

Achternberg lachte.

„Nur mit einem? Dem hätte ich zwei verpaßt!”

„Ging nicht mehr, da war er schon auf der Flucht!”

Armas lachte von einem Ohr bis zum anderen.

„Bravo, mein Junge!” spendete Achternberg Beifall. „Warum läßt Du Dich denn überhaupt von solchen Neidhammeln beeindrucken?”

„Ich weiß nicht. Mir fehlten stets die passenden Gegenargumente. Es ist zu blöd, daß einem immer erst Stunden später gute Repliken einfallen. Aber dann ist keiner mehr da, dem ich sie zum Nachdenken entgegenschleudern kann. Zu dumm das!” Armas kniff seine Lippen zusammen und warf zur Bekräftigung „etwas” in Luft − ohne „etwas” in der Hand gehabt zu haben.

„Geht mir ganz genauso. Ich bin über Unverschämtheiten meist so verblüfft, daß es mir zunächst die Sprache verschlägt − und abends fallen mir dann die besten Antworten ein. Verflixte Kiste!”

Achternberg und Armas lachten beide über das ganze Gesicht − gleichzeitig.

„So etwas passiert jemandem, der so mit Worten spielen kann wie Sie?” wunderte sich der junge Bursche und runzelte leicht seine Stirn.

„Oh ja, warum denn nicht”, schmunzelte Achternberg mit einem kurzen Seitenblick auf Armas. „Du büst doch ok ‘n plietschen Burs un hest nich alltiet dat richtige Woort op dien Tung, nich? [Du bist doch auch ein pfiffiger Bursche und hast nicht immer das richtige Wort auf Deiner Zunge, nicht?]”

„Jou.” Armas grinste.

„Siehst Du. Ich kannte einen General, dem ging es ebenso. Zackig im Dienst, nicht auf den Mund gefallen, aber Frechheiten verblüfften ihn dennoch. Das ist auch eine Form von Zerstreutheit, und die ist ein Zeichen von Klugheit und Güte. Nur dumme und boshafte Menschen sind immer geistesgegenwärtig, wie es schon François Gaston de Lévis im 18. Jahrhundert formulierte”, dozierte Achternberg. Armas sah ihn fragend an.

„Oh! Wer Lévis war? Hm, er steht seltsamerweise nicht im Brockhaus oder im Meyers verzeichnet, dabei war er ein Marschall von Frankreich und sehr erfolgreicher Feldherr während des Franzosen- und Indianerkrieges in Kanada. Aber er steht im Dictionary of Canadian Biography. Kannst Du bei mir nachlesen, wenn Du magst.”

„Oh ja, gern. Darf ich Sie mal besuchen kommen? “

„Machst Du das nicht gerade schon?” Achternberg sah ihn schmunzelnd an.

„Hm, ich glaub’ schon, irgendwie.” Ein spitzbübisches Lächeln huschte über Armas’ Gesicht, und er strich sich mit dem rechten Zeigefinger über den Nasenrücken, der sich gleich darauf kräuselte.

„Übrigens, diese Nullen, die Dich gehänselt haben − mache nie den Fehler, sie zu übersehen, denn so lange sie hinter dem Komma stehen, sind sie mächtig und gefährlich, denn sie blähen alles auf, was vor ihnen steht, auch dumme Sprüche. Stelle sie mit Geist und Wortwitz vor das Komma, und schon wird alles, was hinter ihnen steht, fast bedeutungslos, was ihnen dennoch immer noch eine erhebliche Macht gibt. Aber betrachtest Du sie genau, die Nullen, so bestehen sie nur aus einer dünnen Hülle und sind innen hohl. Das gilt für die törichten Typen, die Dir Dein Aussehen und Deine körperlichen Qualitäten neiden, wie für aufgeplusterte Leute in Bildung, Wirtschaft und Politik, die sich für die Größten halten und nur dummes Zeug absondern. Dummheit ist schon immer nach oben weggelobt worden. Das war so, das ist so, und das wird immer so bleiben, bis die große rote Sonne diesen Planeten verschlingen wird, aber ich bin zuversichtlich, daß die Menschheit, in ihrer unendlichen Schwarmdummheit, sich bis dahin zum Vorteil der Erde selbst ausgelöscht haben wird.”

Achternberg war dabei, sich in Zorn zu reden, seine Stirnfalte hatte eine bedenkliche Tiefe gewonnen, doch er bremste sich rechtzeitig ab.

„Aber wir müssen bei aller liebenswürdigen Zerstreutheit aufpassen, daß wir uns rechtzeitig wehren, denn die Null regiert die Welt, das ist nun einmal so − und die Mikrobe der menschlichen Dummheit ist leider noch nicht gefunden worden.”

Armas hatte fasziniert zugehört. Er war bei Achternberg in ein Sommerseminar geraten, aber es störte ihn nicht nur nicht, es machte ihn enorm neugierig. Doch erst sah er sich selbst einer Neugier Achternbergs gegen über.

„Darf ich Dir eine intime Frage stellen?”

Armas nickte wortlos − er war gespannt, was folgen würde.

„Wir wissen nun bereits, daß Du eine Männlichkeit besitzt, um die Dich viele beneiden, was sie in ihrer Dummheit nur mit Häme beantworten können, aber warum bist Du beschnitten? Du bist kein Araber und jüdische Züge hast Du auch nicht.”

„Haben Sie etwas gegen Juden?” fragte Armas stirnrunzelnd.

„Nein, obwohl ich Beschneidung aus sogenannten religiösen Gründen ablehne, die durch nichts zu begründen ist. Aber das ist meine private Meinung. Ich hatte, gemessen an Nürnberg, eine halbjüdische Tante, die meine Familie durch die braunen Jahre heil und lebend durchgebracht hat. − Warum bei Dir?”

Beide sahen sich fest in die Augen. Armas zögerte noch einen Moment, ehe er …

„Meine Eichel ist zu groß, schön geformt, denke ich, aber zu groß. Als ich drei Jahre alt war, mußte die Vorhaut wegen der schmerzhaften Verengung entfernt werden. Die Schmerzen gehören zu meinen ersten echten Erinnerungen. Es war ein rein medizinischer Eingriff. Aber ich bin auch deswegen in der Schule arg gehänselt worden, ‚Bei dir fehlt ja ‘was, bei dir fehlt ja ‘was!’, bis ein verständnisvoller Lehrer die Klasse über den Grund informiert hat. Es gab noch ein bißchen Gekichere und Getuschel, aber danach war Ruhe. Nur unter der Dusche wollten sich das einige einmal genau ansehen. Das habe ich zugelassen, und damit war das Thema durch. Es ging erst wieder los, als sie merkten, daß ich alle in der Länge überholte. Richtig lästig.” Armas verzog sein Gesicht.

 

Achternberg freute sich über das intime Geständnis. Der Junge faßte bereits Vertrauen zu ihm. Oder war er nur froh, endlich einmal darüber reden zu können? Achternberg vermutete, daß Armas keine wirklichen Freunde hatte. Er hatte bislang auch keine Geschwister erwähnt. Vielleicht war er ganz allein.

„Hast Du keinen Freund?” Achternberg entschloß sich, die soziale Situation des Jungen zu erkunden.

„Wie meinen Sie das?” fragte Armas, und er wirkte plötzlich scheu dabei.

„Na ja, einen guten oder gar besten Freund, mit dem man alles besprechen kann, mit dem man schwimmen und in die Sauna geht, über die Mädchen lästert, Hausaufgaben macht, ins Kino geht, in der Disco abhängt, vergleicht, wie die Schamhaare wachsen, wie lang der Schwanz ist, Wettwichsen veranstaltet und die ersten Pornos im Internet anschaut, was man in dem Alter eben so macht.”

Armas sah Achternberg mit großen Augen an. Der hielt das aus, vergaß im Moment seine Angel. So hatte offensichtlich noch niemand mit dem Jungen gesprochen. In Armas „arbeitete” es sichtlich.

„Nein. Aber muß ich heute darüber sprechen?”

„Wann immer Du möchtest, wenn Du möchtest”, antwortete Achternberg voller Verständnis. Armas war für den Moment überwältigt. Er wollte ihn nicht überfordern, sonst würde er sehr wahrscheinlich „zumachen“.

„Was hast Du gestern abend gemacht?”, versuchte Achternberg durch Themawechsel die Stimmung wieder zu lockern.

„Ich habe etwas von Ihnen gelesen.”

„Und? Hat es Dir gefallen?” Ganz uneitel als Autor war auch Achternberg nicht.

„Es war lustig und anregend zugleich. Jedenfalls hatte ich hinterher vor dem Lichtaus ein schönes erotisches Selbstgespräch mit meinem verlängerten Ich.”

Achternberg bemerkte, daß Armas unter seiner braunen Haut errötete. Ihm gefiel die direkte Art des Jungen immer besser, und das er kein abgebrühter Bursche war. Und er verblüffte ihn weiter.

„Ich mache es mir gerne. Es fühlt sich so großartig an, den eigenen Körper zu spüren. Ich kann mir schon gar nicht mehr vorstellen, wie es ohne war.” Armas schmunzelte. Er schien schon wieder daran zu denken.

Achternberg bemerkte, daß ihn etwas beschäftigte.

„Spuck’s aus!”

„Was soll ich ausspucken?”

„Was Du mich fragen möchtest.”

„Werden Sie mir auch nicht böse sein, wenn ich etwas intimes wissen möchte?” Armas sah besorgt aus.

„Warum sollte ich? Wir sind doch unter uns. Laß es ‘raus.”

Armas sah ihn fest an.

„Haben Sie früher viel onaniert, ich meine, vor ihrer ersten Freundin?”

„Früher?” Achternberg grinste schelmisch. „Und was verstehst Du unter ‚viel’?”

Armas war baff.

„Äh, dreimal am Tag?” Er hob beide Augenbrauen an.

„Hm-hm, guter Durchschnitt. Herr Testosteron läßt schön grüßen.”

Damit hatte Armas offensichtlich nicht gerechnet.

„Wirklich?”

„Ich war auch mal siebzehn, genau wie Du.”

„Woher wissen Sie, wie alt ich bin?

„Jetzt weiß ich‘s.” Achternberg lächelte. „Und damals waren meine Haare dunkelbraun.”

„Und mit fünfzig haben Sie immer noch Lust darauf, ich meine …” Er machte eine eindeutige Handbewegung.

Achternberg mußte derart lachen, daß er gleich darauf die Angel einholte. Jetzt war der Hecht sicher für den Tag weg.

Armas wußte sichtlich nicht, was er von dem Lachanfall halten sollte. Ein so „alter Mann“ konnte doch unmöglich noch Sex haben.

„Das ist aber nett von Dir, daß Du mich für fünfzig hältst. Na ja, volle Haare, keine kahlen Stellen. Da lege mal noch ein bißchen ‘was drauf. Es hat sich offenbar ausgezahlt, daß ich in Interviews nie mein Alter preisgegeben habe, also auch das Internet nichts darüber weiß.”

„Tatsächlich? Und Sie haben noch Lust auf Sex?”

„So wahr ich hier sitze.” Achternberg schmunzelte breit.

Armas schaute ungläubig drein. Sein Vater war 45, seine Mutter 40, und das war ihm bisher schon verdächtig vorgekommen. Er war irgendwie fassungslos, daß der Schoß des Graukopfes noch nicht „tot” war und er sich so offen über intime Dinge mit einem Mann unterhalten konnte, der älter als sein Vater war − mit dem zusätzlichen Unterschied, daß er mit seinem Vater überhaupt nicht darüber reden konnte, er wollte es auch nicht. Dafür war sein „alter Herr” einfach zu wenig präsent. Und seine Mutter war eine Frau! Eine wunderbare, schöne Frau, aber eine Frau! Was gingen eine Frau Männergeheimnisse an − was? Und die Mädchen in seinem Gymnasium? Die kicherten nur, tuschelten hinter vorgehaltener Hand oder hatten es mit ihrem penetranten „Guck mal, ist der nicht süß?” Meinten die ihn? Er war doch nicht süß! Er war ein Mann! Na ja, fast, irgendwie. Ja, zum Donnerwetter, er hatte noch keine süße Furche gepflügt, aber was die auch alle wollten: Er hatte kein geiles Motorrad, sein iPhone war nicht das allerneueste Modell, er pfiff auf teure Markenklamotten, er wollte keine lauten Parties feiern, wo man sich nur anschreiend „unterhalten“ konnte und einem hinterher stundenlang der Kopf dröhnte, er mochte keinen Alkohol, er rauchte nicht. Er wollte Volleyball spielen oder schwimmen, etwas Krafttraining machen, um seine Muskeln zu definieren, er las gern und viel. Ein Mädchen hatte er mal gebeten, ob sie sich nicht gegenseitig vorlesen könnten. Da könne sie sich ja gleich ein Hörbuch kaufen, war ihre törichte Antwort und ließ ihn stehen. Was er sich wünschte, da konnten die Mädchen nicht mithalten. Und wie die auch über Sex redeten! Er hatte Gespräche mitbekommen, da war er vom bloßen Zuhören knallrot geworden. Was die alle von einem Jungen und seinem Penis erwarteten! Höchstleistungen am laufenden Band, das gesamte Kamasutra ‘rauf und ‘runter. Er hatte sich das mal angesehen. Das war ein Studium für sich. Wie sollte man das in so kurzer Zeit alles im Repertoire haben? Nein, das war ihm zuviel, zu anstrengend. Er sehnte sich nach Zärtlichkeit, nicht nach übertriebenen Turnübungen neben dem Schulsport.

Armas hatte zudem das Problem, daß ihm sein Samen immer wieder unfreiwillig abging. Durch die Beschneidung rieb sich seine Eichel so intensiv am Stoff, daß er mindestens einmal die Woche seine Sahne an seine Hose verlor. Mit fünfzehn war ihm das nicht nur einmal im Freibad und beim Schulschwimmen in seiner engen, knappen Badehose passiert. Die blöden Bemerkungen und das höhnische Grinsen hatten ihn lange verfolgt. Er befürchtete insgeheim, daß ihm das auch beim Sex mit einem Mädchen passieren könnte. Er hatte Angst, ausgelacht zu werden.

Und die Jungs? Das war noch ein ganz anderes Thema. Von denen hatte er aus ganz bestimmten Gründen wirklich die Nase voll.

Armas fühlte, daß er diesem Schriftsteller vertrauen könnte, aber alles wollte er ihm nach zwei Tagen doch noch nicht offenbaren. Dennoch freute er sich darauf, manches endlich einmal jemandem erzählen zu können, von dem er das Gefühl hatte, verstanden und nicht ausgelacht zu werden. Achternberg hatte Interesse an ihm, und er hatte Interesse an Achternberg. Das war eine gute Basis.

Er hatte keinen vertrauten Freund, mit dem er im Sommer nackt unter einem Baum liegen und mit ihm die innersten Gedanken austauschen konnte, Fortsetzung im Winter Rücken an Rücken auf der großen Fensterbank in seinem Zimmer, eingehüllt in warme Pullover, über Gott und die Welt redend. Wenn er allein in der großen Badewanne saß, wünschte er sich einen Kumpel herbei, mit dem er sich darin herumlümmeln könnte, coole Musik hören, sich gegenseitig die Haare waschen, quatschen, bis daß das Wasser kalt wäre und die Finger schrumpelig. In der Sauna saß er immer allein auf der Bank, obwohl stets viele Leute um ihn herum waren. Niemand hatte Interesse an ihm, wenn er von dem Anstarren seines Schwanzes einmal absah. Er hatte mehr als einmal das Weite gesucht, wenn Typen unterschiedlichen Alters ihm zu nah auf die Pelle gerückt waren. Beim letzten Mal hatte er einem etwa Zwanzigjährigen allerdings Schläge angedroht, wenn er noch einmal so ganz aus „Versehen” an seinem Penis entlangwischte. Inzwischen war seine Körpergröße eine beachtliche Unterstützung. „Bleib’ cool, Baby”, hatte der aufdringliche Kerl noch gesagt, ehe er sich mit einem letzten unverschämten Blick und erhobenen Händen zurückgezogen hatte.

Armas räusperte sich.

„Sie haben noch Spaß an Sex, wirklich?”

„Ja natürlich, was dachtest Du denn?” Achternberg lachte. „Das hört doch nicht auf, nur weil einem Mann die Haare ausfallen oder er grau wird. Ich könnte Dir eine ganze Reihe Prominente nennen, die mit über sechzig und siebzig mit allerdings deutlich jüngeren Frauen Kinder in die Welt gesetzt haben. Kennst Du Anthony Quinn?”

Armas zuckte mit verzogenem Kinn mit den Achseln.

„Na ja, er lebt schon einige Jahre nicht mehr. Das war ein weltberühmter mexikanisch-amerikanischer Schauspieler. Er wäre letztes Jahr 100 Jahre alt geworden. Der alte Knabe hat mit 81 Jahren sein 13. Kind gemacht und ist mit 86 Jahren gestorben. Stramme Leistung, nicht?”

Es war Armas anzusehen, daß ihm innerlich die Klappe herunterfiel. Sein Gesicht war die reine Ungläubigkeit. Lebte man in diesem Alter nicht im Pflegeheim? Könnte man in dem Alter noch so vital sein? Wow, da hätte er ja tatsächlich eine Menge Spaß vor sich.

„Sieh Dir mal ,Sturmfahrt nach Alaska’ an, darin spielt er den Gegenpart zu Gregory Peck, in ‚Lawrence von Arabien’ spielt er einen Stammesfürsten, der Akaba erobert, und sein berühmtester Film ist ‚Alexis Sorbas’. Darin tanzt er einen Sirtaki, wie es ein geborener Grieche nicht besser könnte.”

Armas überlegte.

„,Lawrence von Arabien’ habe ich Anfang des Jahres gesehen. Ist das der, der mit seinem Säbel einen türkischen Offizier erschlägt? Coole Szene.”

Achternberg staunte über die Detailerinnerung des Jungen. Das sprach für seine Beobachtungsgabe. Der Film war immerhin drei Stunden lang.

„Ja, genau der. Allerdings in Wirklichkeit ohne die Adlernase.”

„Dann habe ich ihn vor Augen. Der konnte noch mit 81? Cool!”

Achternberg kam aus dem Schmunzeln über die Verwunderung Armas’ gar nicht mehr heraus.

„Entschuldigst Du mich einen Moment? Mein geliebter Grüner Tee will an die frische Luft.”

„Klar.”

Achterberg stand auf und verschwand einige Meter entfernt hinter dem hohen Schilf. Als er zurückkam, war er wieder allein.

*

3. Tag

Am Abend hatte Achternberg fleißig geschrieben, wie üblich bei ihm, wenn es lief, bis spät in die Nacht. Armas hatte sich zu einer wahren Inspiration entwickelt.

Nach dem Frühstück hatte er für den Jungen wieder alles am Holzsteg vorbereitet. Dieses Mal legte er noch ein Handtuch zum Abtrocknen dazu. Der Tag versprach, schön zu werden. Die Wettervorhersagen waren gut.

Es waren einige Leser-Elektrogramme aufgelaufen, die Achternberg der Reihe nach beantwortete − das gehörte sich so. Es war auch Post von seiner amerikanischen Autorenfreundin Shawna Tylerson dabei. Sie hatte wieder einige hübsche Erotikkurzgeschichten im Internet veröffentlicht. Er mochte ihren Stil. Sie schrieb ganz anders als er, aber das machte den Reiz aus. Er entschloß sich, ihr abends zu schreiben, dann würde sie es mitten am Tag, gemäß ihrer Ortszeit, empfangen können.

Der Computer fuhr herunter und Achternberg machte sich fertig, das Haus für einige Stunden zu verlassen.

Als er am Seeufer ankam, entstieg Armas den Moment schwer atmend dem Wasser. Sein nasser Körper blinkte und glänzte im prallen Sonnenlicht. Er schüttelte seine Haare aus, daß die Tropfen nur so spritzten, und strich sie zurück, dann entdeckte er den nahenden Achternberg. Armas winkte ihm mit einem strahlenden Lächeln zu, der zurücklächelte, und erwartete ihn.

„Moin, Herr von Achternberg.”

Der Schriftsteller blieb vor Armas stehen, der immer noch „pumpte”, stellte seinen Klappstuhl und den Picknickkorb ab − und beide reichten sich zum ersten Mal die Hand.

„Moin, moin, mein Junge.” Es wurde ein fester Händedruck, über den sich jeder der beiden auf seine Weise freute.

 

„Schön, daß er keine Schlabberhand hat. Nichts schlimmer, als einem ,toten Fisch’ die Hand zu geben.”

„Geil, daß ein Tintenkleckser so kräftig zufassen kann.”

„Ich habe Dir heute auch ein Handtuch zum Abtrocknen hingelegt.”

Armas drehte sich um, wobei er Achternbergs Hand losließ.

„Oh, danke!” Der Junge tat ein paar Schritte zu seinem vorbereiteten Lagerplatz, nahm das Handtuch auf und begann, sich abzutrocknen. Derweil begab sich Achternberg auf den Holzsteg und baute seinen Platz auf. Ehe er sich setzen und die Angel auswerfen konnte, erreichte ihn erstmals die Bitte des Jungen:

„Reiben Sie mir den Rücken ein? Dann muß ich mich nicht so verrenken.”

Achternberg drehte sich um. Armas stand schon hinter ihm und hielt ihm die Plastikflasche hin. Achternberg nahm sie, Armas drehte sich um, stützte sich mit beiden Händen auf seinen Oberschenkeln ab und neigte den Kopf nach vorn.

Als Achternberg ihm einen dicken Klecks zwischen die Schulterblätter drückte, zuckte der Junge leicht zusammen. Die Sonnenmilch war kühl und Armas offensichtlich empfindsam.

Achternberg stellte die Plastikflasche auf seinen Klappstuhl und begann, die Creme auf Armas’ Rücken zu verteilen und einzureiben.

„Deinen Hintern auch? Es würde ausreichen.”

„Ja sicher, keine Hemmungen. Stellen Sie sich einfach vor, ich wäre Ihr Sohn.”

Achternberg hob die Augenbrauen an, was der Junge freilich nicht sehen konnte. Was war da über Nacht passiert? Solch ein Sprung nach vorn in der Vertrautheit? Achternberg konnte es sich nicht erklären, aber viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht, den soviel „Hintern” war es nicht.

„Fertig!” Er klopfte dem Jungen auf die Schulter. Armas erhob sich und bat um die Plastikflasche. Achternberg reichte sie ihm. Der Junge drückte sich gehörig Sonnenmilch in die rechte Hand und begann, sich gründlich einzucremen.

Achternberg wollte sich nun endlich dem Angeln zuwenden ...

„Würden Sie mich waschen, wenn ich krank wäre, und es nicht selbst tun könnte, ich meine, wenn ich Ihr Sohn wäre?”

Armas cremte wie gedankenverloren seinen flachen Bauch ein.

„Selbstverständlich.”

„Auch intim?” Armas fuhr mit dem Eincremen seines Penis’ fort. Ich meine, Arsch und Schwanz und so?”

Er sah Achternberg prüfend an. Der hielt dem Blick stand.

„Wenn Du meiner Fürsorge anvertraut wärst, selbstverständlich. Und als Baby-Sohn würde ich Dir die Windeln gewechselt haben, mit allem was dazugehört, einschließlich Bauchpruster. Du könntest ja auch mein Patenkind sein oder der Waisenjunge ums Leben gekommener Freunde. Warum fragst Du?”

„Und Sie würden das nicht für schwul halten?”

„Natürlich nicht! Nur verdorbene Gehirne könnten das, kranke Spießer unserer sozial kalten Gesellschaft. Honi soi qui mal y pense!”

„Dann weiß ich nicht, warum Sie gefragt haben, ob Sie auch meinen Hintern einreiben sollen. Sind doch bloß meine Arschbacken, oder?”

„Macht man aber normalerweise nicht, wenn man sich kaum kennt.”

„Sind wir beide denn normal?” Armas sah ihn mit lachenden Augen fragend an.

Achternberg räusperte sich und blieb die Antwort schuldig − erst einmal.

Als Armas sich abwenden wollte …

„Würdest Du mich waschen, wenn ich Dein kranker Vater, Onkel oder ein enger Freund wäre?”

Beide sahen sich fest an.

„Selbstverständlich. Überall. Jederzeit.”

Damit war die Arschfrage geklärt. Ein neues, enges Freundschaftsband wurde geknüpft.

„Wenn Du ‘was trinken willst, Mineralwasser ist hier im Picknickkorb. Bedien Dich.”

Zwei Stunden später.

Armas war fest eingeschlafen, aber dank seiner vorgebräunten Haut und des hohen Lichtschutzfaktors hatte er keine Hautreizung als er aufwachte und sich rekelte. Er streckte sich wie am frühen Morgen nach einem guten Nachtschlaf. Der Junge stand auf, sah, daß Achternberg immer noch in seinem Klappstuhl saß und auf den See starrte. Ihn drückte die Blase. Er trat nach rechts hinter das Schilf und pinkelte. Armas fühlte sich sauwohl. Als er sich verplätschert hatte ging er zum Holzsteg und staunte nicht schlecht über Achternbergs exzellentes Gehör. Noch ehe er im Picknickkorb nach der Mineralflasche greifen konnte, wurde er gefragt ...

„Hast Du gut geschlafen?”

„Oh ja, danke. Hab’ sogar gut geträumt.”

„Erzählst Du es mir?”

„Vielleicht. − Neues vom Hecht?”

„Nö. Er dreht mir eine lange Nase.”

Armas grinste und setzte sich im Schneidersitz neben Achternberg nieder.

„Haben Sie vielleicht den falschen Köder?”

„Mit dem Wobbler habe ich schon mal einen Hecht von über einem Meter herausgeholt, gut fünfzehn Kilogramm.”

„Hier am See?”

„Nee, in Finnland, letztes Jahr.”

„Scheint ein schlauer Bursche zu sein, denn sonst schnappt der Hecht doch selbst nach einer durchs Wasser gezogenen Bananenschale.” Armas gab sich erfahren.

„Ach ja? Kannst ja mal mit einer Bananenschale durch den See schwimmen, hm?”

„Und dann verwechselt der Schlingel meinen Schwanz mit Beute. Nein danke!” Armas schüttelte sich und bedeckte schützend seine Männlichkeit einen Moment mit seiner Rechten. „Wenn der Hecht einmal zugebissen hat, läßt er nicht mehr los. Ich will noch Spaß mit Monsieur Bouchon haben!” Sein Gesicht war ein einziger Widerwillen.

Achternberg lächelte. Armas hatte seine Erotika tatsächlich gelesen.

Eine ziemliche Weile lang trat wohltuende Stille ein. Armas schloß die Augen und legte seinen Kopf in den Nacken. Er wirkte völlig entspannt, dabei nahm er innerlich Anlauf zu einer weiteren Frage.

„Bin ich eine Lachnummer, wenn ich mit siebzehn noch keinen Sex mit einem Mädchen hatte?”

„Nein, natürlich nicht. Warum solltest Du das sein?“ Achternberg sah ihn an, Armas öffnete gerade die Augen, ihre Blicke trafen sich. „Wie kommst Du darauf?”

„Weil ich in meiner Klasse deswegen ausgelacht werde.”

„Wer lacht Dich aus? Mädchen oder Jungs?”

„Jungs, drei vor allem, und die anderen grinsen auch nicht viel blöder.”

„Und das läßt Du Dir gefallen?”

„Was soll ich denn machen? Ich kann doch kein Schauficken veranstalten!” Der Einwand hatte etwas für sich.

Achternberg überlegte kurz.

„Bleiben wir mal bei den drei besonders netten Typen. Weißt Du, ob sie selber schon mal …?”

„Jedenfalls geben sie an wie eine Tüte Mücken. Aber ich habe einen nur einmal mit einem besonders hübschen Mädchen im Freibad gesehen.”

„Das muß nicht notwendigerweise seine Freundin gewesen sein. Man kann auch mit einer eigenen Schwester oder Cousine baden gehen.” Daran hatte Armas noch gar nicht gedacht. Er hatte Martin tatsächlich nicht beim Knutschen beobachtet. Noch nie. Edgar und Holger auch nicht. Jetzt konnte er sich denken, warum.

„Weißt Du, die am lautesten und gehässigsten über andere lästern, wollen meist nur von sich selbst ablenken und ihre eigenen Defizite vertuschen. Kennt man zur Genüge, glaube es mir.”

„Meinen Sie wirklich?” Armas sah noch zweifelnd drein.

„Oh ja. Das ist ein Prinzip bis hinauf in die sogenannte hohe Politik. Besonders in schwachen politischen Systemen lenken die Staatschefs gern von ihren innenpolitischen Problemen ab, indem sie Feindbilder gegen Minderheiten im eigenen Land oder gegen benachbarte Staaten aufbauen, Chauvinismus schüren oder gar Kriege anfangen. Dann werden kriegerische Handlungen gegen Nachbarn betrieben, weil dort als Minderheit lebende eigene Landsleute angeblich geschützt werden müssen oder gar deren Wohngebiete durch Landraub dem eigenen Staat angegliedert. Das steigert den oftmals fast religiös überhöhten Nationalismus und so kann ein halbdiktatorischer Präsident, erst recht ein Diktator, von seinen hausgemachten Problemen ganz vorzüglich ablenken. Dann werden jährlich Siegesparaden zu Ewigkeiten zurückliegenden sogenannten Siegen abgehalten und das Chauvinistenherz hüpft höher, während der Rest des Körpers vergißt, daß er Hunger hat. Ganz einfach. Funktioniert beim tumben Volk, aber auch bei Intellektuellen, die es eigentlich besser wissen müßten, sich durch ihre charakterlose Beihilfe aber persönliche Vorteile versprechen. Simple Psychologie. Anders machen es diese drei Schelme mit Dir auch nicht, wie mir scheint. Wie drückt sich das denn bei denen Dir gegenüber aus?”