FRANZ

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Georg von Hammelstein

Franz

Roman

Die in diesem Roman auftretenden Figuren sind, auch wenn ihre Namen möglicherweise mit denen von „real existierenden“ Personen übereinstimmen sollten, frei erfunden.

Behauptungen über diese Personen, deren Handlungen, den Geschehnissen und Örtlichkeiten, sind nicht mehr als die Behauptungen und Schablonen eines literarischen Erzählers.

(Georg von Hammelstein)

„Wer ein WARUM zu leben hat,

Erträgt fast jedes WIE.“

Nietzsche

Ein Raunen

zwischen Ekel und Empörung ging durch den bis auf den letzten Platz belegten Sitzungsaal des Landgerichts für Strafsachen in Wien, im Volksmund auch „Das Landerl“ genannt. Eine amorphe Klangwolke schwebte über allem, aus der sich das Schluchzen der Mutter des Opfers abhob. In der folgenden Stille schien selbst die Luft den Atem anzuhalten. Auffällig, dass die Staatsanwältin bei dem Begriff „Coitus a tergo“ das „a tergo“ in einer Art und Weise betonte, als wäre die Missionarsstellung weniger verwerflich gewesen. Erneut räusperte sie sich und korrigierte den Sitz ihrer runden, randlosen Brille. Ob dem Angeklagten aufgefallen war, dass die Staatsanwältin eine Ähnlichkeit mit dem Opfer besaß? Vornehmlich der Kopf, mit den kurzen, schwarzen, nach hinten gegelten Haaren. Auch die Augenbrauen ungebärdig, aber mit Verve. Diese ausschnitthafte Wiederauferstehung des Opfers von den Toten musste für den Beschuldigten doch unerträglich sein! Ob das der Staatsanwältin bewusst war? Zufall oder prozessualer Schachzug? Als habe eine vorüberziehende Wolke einen Schatten in das Gesicht des Beklagten gemeißelt, saß er auf der hölzernen Anklagebank. Nur mit halbem Ohr vernahm Werner Noske, Prozessbeobachter aus Deutschland und bester Freund des Beschuldigten, die weiteren Ausführungen der Staatsanwältin. Dabei ging es um die Zentimeterlänge und Krümmung einer Salatgurke, die im oberen Drittel abgebrochen war, weiterhin um eine Karotte und ein halbes Pfund Schärdinger Teebutter.

Noske war fassungslos. Sein Freund, Franz Klefisch, ein dem Leben gegenüber aufgeschlossener Fünfundsiebzigjähriger mit rheinischem Charme – ein Leichenschänder? Ein Mann, der vom Fahrrad steigt, um einen verletzten Schmetterling von der Fahrbahn zu klauben, damit er nicht überfahren wird? Der ganze Prozess erschien ihm wie eine Groteske. Die Staatsanwältin in ihrer nasalen Süffisanz, der Vorsitzende Richter, der Verteidiger, die Geschworenen – Schießbudenfiguren – alle auf der höheren Leitersprosse des wienerischen Singsangs, eine Melange aus Bildungs- und Autoritätsnasal, oft froschblütig hingenuschelt, teilnahmslos kühl. Alles hatte etwas Unwirkliches, Operettenhaftes. Eine österreichische Schmonzette. Fehlten nur noch die Philharmoniker mit ihrem Hauswein – dem roten Veltliner.

Während die Staatsanwältin immer noch vortrug, hatte der Angeklagte die Hände vors Gesicht geschlagen. Ein Anblick, der Werner Noske erschütterte und in seinem Magen ein in letzter Zeit immer häufiger auftretendes Sodbrennen auslöste, das er mit der Einnahme einer Talcid-Tablette, die er in seiner Jackettasche vorsichtig aus dem Aluminiumstreifen drückte, zu lindern suchte. Nie und nimmer hätte er sich träumen lassen, seinen Freund Franz Klefisch mit Handfesseln in einem Wiener Gerichtssaal vorzufinden. Zwischenzeitlich dachte er – nicht ohne Grimm –, dass nicht Franz, sondern die Tote auf die Anklagebank gehörte; gleichfalls dachte er aber auch, dass er diesen Gedanken in diesem Saal alleine denke. Die Forderung der Staatsanwältin nach lebenslanger Haft, die vom Publikum mit beifälligem Gemurmel aufgenommen wurde, riss Werner aus seinen Gedanken und ihm fiel der Satz ein, den Franz ihm gegenüber beim ersten Besuch in der Strafanstalt geäußert hatte: „Alles was geschehen ist, ist aus Liebe geschehen!“ Nach diesem Satz war er verstummt.

Fast auf den Tag elf Jahre zuvor,

es war ein Tag wie jeder andere, klingelte im Musikerviertel einer kleinen Stadt am Rhein der Wecker. Es war wie immer 8.08 Uhr, als Franz Klefisch die Weckfunktion abschaltete, aufstand, seine Morgentoilette erledigte, sich ankleidete, während der 8.30-Nachrichten das Frühstück zubereitete, anschließend die Zeitung der nur noch an zwei rostigen Drähten baumelnden Zeitungsbox entnahm, kopfschüttelnd über die zunehmende Verwahrlosung des Hauses wieder seine Wohnung betrat, um sich, wie jeden Morgen, kurz vor Neun, an den Frühstückstisch zu setzen und als erstes die kleine Tablette gegen den Bluthochdruck zu schlucken, die seit dem Abend zuvor wie ein porzellanener Pickel auf dem Untersetzer der Teetasse thronte. Der Himmel war grau wie seit Tagen und laut Wetterbericht eine Veränderung der Großwetterlage nicht in Sicht. Eine mehrere tausend Kilometer breite Kaltfront lag über Westeuropa und den britischen Inseln, und die polaren Luftmassen griffen langsam auf die rheinische Bucht über und sorgten zu dieser Jahreszeit für außerordentlich niedrige Temperaturen. In Remagen hatte es in der vergangenen Nacht nur vier Grad – und das Anfang Mai. Franz dachte an sein Libretto, an dem er seit Wochen schrieb, und las, dass bei einem Anschlag auf eine Moschee in Bagdad siebzig Menschen ums Leben gekommen waren. Da schüttelte er das zweite Mal an diesem Morgen den Kopf. Ob über den Zeitungsbericht oder seine seit Tagen anhaltende Schreibblockade wusste er selbst nicht. In letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass er häufiger als sonst den Kopf schüttelte oder unartikulierte Laute des Missfallens ausstieß, was er zunächst als Indiz einer eventuellen Krankheit wahrnahm, die ihm nicht bekannt und deswegen unheimlich war. Eine bislang unbekannte Krebsart zog er ebenso in Betracht wie einen unerforschten, langsam aber stetig fortschreitenden Verlust von Nervenzellen. Auf jeden Fall aber hatte er sich vorgenommen, diese Umstände genauer zu untersuchen. Dazu hatte er sich ein kleines Oktavheft angeschafft, in dem er festhielt in welcher Umgebung, zu welchem Zeitpunkt, bei welchem Geschehnis diese gravierenden Auffälligkeiten auftraten.

Als er mit dem Stuhl näher an die Schreibtischplatte ruckelte, war es wie jeden Morgen 9.30 Uhr. Wie jeden Morgen wickelte er einen sauren Drops aus dem durchsichtigen Papier und steckte ihn in den Mund. Es war ein roter. Himbeere. Als er am gestrigen Abend vor dem Laptop gesessen hatte und kein Buchstabe, kein Wort, kein Satz dass Weiß des Bildschirms zu beleben vermochte, hatte er die von ihm bevorzugten zitronenfarbenen alle weggelutscht. Heute, am Morgen (der Morgen war seine beste Schreibzeit), versuchte er sich erneut zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Kopfschüttelnd (das dritte Mal an diesem Morgen), holte er aus der Küchenschublade einen Pinsel, mit dem er sonst die Schokoladenglasur auf den Marmorkuchen auftrug, und befreite die Tastatur des Laptops von einigen Stäubchen, als seien sie die Ursache seiner Schreibhemmung. Der Vormittag zog sich. Franzens Knie schmerzten vom langen Sitzen. Er vermutete Kalkablagerungen, möglicherweise auch Blei. Dass er am Abend dieses Tages eine Entscheidung treffen würde, die sein Leben auf längere Sicht einschneidend verändern sollte, konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen. Monate später beschäftigte ihn jedoch der Gedanke, dass es im Dasein eines Menschen Tage gibt, an diesen Tagen wiederum Stunden, in diesen Stunden wiederum Minuten und darin Sekunden, in denen dieser Mensch eine Entscheidung trifft, die sein weiteres Leben schicksalhaft bestimmen wird. Ein leichthin gesagtes Ja, ein nicht gemeintes Nein, ein Zufrüh oder Zuspät machen diesen Zeitpunkt unwiderruflich, setzen etwas in Gang, das zu ungeahntem Glück oder in die absolute Katastrophe führen kann. Hätte ich damals nur Nein gesagt, ein einfaches, klares Nein – dachte Franz später – dann wäre mein Leben sicherlich anders verlaufen. Aber was heißt schon anders? Anders besser oder anders schlechter? Dabei war die Sache, um die es ging, eigentlich belanglos. Es ging um einen Urlaub. An jenem erwähnten Tag vor fast acht Jahren, der am Morgen vermeintlich noch ein Tag wie jeder andere zu werden schien und durch eine am Abend getroffene Entscheidung Franzens jedoch zu keinem Tag wie jeder andere wurde, sondern zu einem besonderen Tag, einem Dreh- und Angeltag, an dessen Ende innerhalb weniger Sekunden ein Schicksalsfaden gesponnen wurde, der dem Leben des Franz Klefisch eine entscheidende Wende geben sollte.

„… Chong!“

Franz fixierte Werners Faust, die beim Ching, Chang zweimal hastig durch die Luft gestrichen war, ehe er sie beim Chong ungeöffnet stehen ließ. Stein! „Stein machen Schäre kapuut! Fraanzchään, du kommst mit nach Griecheland!“ Natia, die Armenierin, seit einem Jahr Lebensgefährtin Werners, plärrte vor Vergnügen. Franz schaute auf seine rechte Hand. Zeige- und Mittelfinger leicht gespreizt noch in der Luft, der Daumen auf den Knöchel des Ringfinger gepresst, der kleine Finger krampfhaft anliegend. Zögerlich entspannte sich seine Hand. Obwohl er nicht mehr so häufig spielte wie früher, vor allem nicht um Geld, konnte er sich nicht erinnern, in den letzten Jahren je im Ching, Chang, Chong verloren zu haben. Was heißt erinnern!? Da in diesem Moment sein Erinnerungsvermögen durch den Alkohol erheblich eingeschränkt war, konnte er sowieso wenig erinnern. Er starrte auf Werner, der in Siegerlaune genüsslich eine zweite Magnumflasche Spätburgunder Oppenheimer Kreuz, Großes Gewächs öffnete. Die Nase! Schon tausende Male hatte er sie wahrgenommen, Werners Nase. Und immer wieder war ihm aufgefallen, dass Werner eine sehr, sehr kleine Nase hatte. Irgendwann hatte er aber nicht mehr darauf geachtet, übersah sie, wie man Kleinigkeiten oft übersieht, aber am heutigen Tag wollte er sie nicht übersehen. In seiner Wut verloren zu haben, schien sie ihm noch kleiner, also noch kleiner als klein. Im Rausch des Sieges zur kleinsten Nase der Welt geschrumpft, streckte sie sich der Welt triumphierend entgegen. Werner schenkte nach und stieß mit Franz und seiner Freundin auf die gemeinsame Reise nach Griechenland an. Seit Wochen hatte er ihm damit in den Ohren gelegen ohne zu wissen, dass Franz Gründe hatte, alles was mit Griechenland zusammenhing zu meiden, obwohl die Ursache dafür schon vierzig Jahre zurück lag. Aber auch wenn Franz es ihm erklärt hätte, hätte Werner Franzens Argumente als eine Quantité négligeable eingestuft und einfach vom Tisch gewischt. Bestimmten Dingen gegenüber war er genauso blind wie hartnäckig. So auch an diesem Abend, was sicherlich damit zusammenhing, dass er ob Franzens erheblicher Alkoholisierung Morgenluft in Form einer Zusage witterte. Dazu kam sein Sieg im Ching, Chang, Chong, der das Ganze noch einmal besiegelte, was im Grunde genommen eine Lächerlichkeit war, wusste Werner ohnehin, dass man den Franz, auch ohne gegen ihn im Ching-Chang-Chong zu gewinnen, breitschlagen konnte. „Der Franz ist ein schwacher Mensch und das Nein-Sagen war nie seine Stärke!“ schrieb Franz später über sich in seinem Roman und ergänzte, „Franzens Nein fehlt die Härte; wie es dem Franz insgesamt an Härte fehlt!“ Sein letztes Argument, eher gelallt als vorgetragen, dass er klamm sei, er sich einen Urlaub nicht leisten könne und so weiter und so weiter … begegnete Werner mit der Bemerkung, dass er Franz auf den Urlaub einladen wolle und so weiter und so weiter … Auch er lallte schon, und, um seinem Satz zusätzlichen Nachdruck zu verleihen, unterstrich er ihn mit einer abschließenden Handbewegung, wobei er sein Weinglas vom Tisch fegte. Natia, die Armenierin, krähte vor Vergnügen.

 

Griechenland

Anfang der siebziger Jahre war die damalige Bundesrepublik von griechischen Gastwirten oder solchen, die sich dafür hielten, überschwemmt worden. Die Pizza war auf dem Rückzug, das Moussaka auf dem Vormarsch. Vor allem in einer rheinischen Stadt, die sich mit einem Dom schmückt und an dessen Theater Franz als „jugendlicher Liebhaber“ sein erstes Engagement fand, schossen an allen Ecken und Enden Tavernen aus dem Boden. In der Taverne Apollo kochte Dimitris, zwei Straßen weiter grillte Evángelos, Retsina trank man an der Ecke bei Stávros, Backgammon spielte man bei Mikis und politisch hoch her ging es bei Vassilios, der als griechischer Kommunist Gleichgesinnte suchte, um irgendwelche Operationen gegen die Junta in seinem Heimatland zu starten. Vassilios residierte im „Z“, einer windschiefen Bretterbude Ecke Ehrenstraße/Alte Wallgasse, die auf einem Trümmergrundstück an einer Ruine aus dem zweiten Weltkrieg klebte und dem Schuppen ein Stück steinernes Rückgrat verlieh. Vassilios war ein um die einmetersechzig kleiner Mann, der noch kleiner wirkte, wenn dessen einmeterdreiundneunzig große Ehefrau Ewa neben ihm stand. Ewa, ein Trumm von einem deutschen Weibsbild, hatte Brüste, mit denen sie – wie man hinter vorgehaltener Hand erzählte – durch eine kurze, aber schnelle Drehung ihres Oberkörpers Ohrfeigen austeilen konnte. Aber vielleicht stimmte das auch nicht. Jedenfalls hatte von denen, die Franz davon erzählten, niemand dem Vorgang beigewohnt, geschweige dass jemand der auserwählten Klientel der Geohrfeigten hätte zugerechnet werden können. Aber immer, wenn diese Züchtigung vor Franzens innerem Auge entstand, machte sich ein ziehender Schmerz unterhalb der Gürtellinie bemerkbar. Ewa beherrschte nicht nur die Technik der Brustohrfeige, sondern auch ihren Mann, ihre Gäste, den Ablauf in der Taverne und bald auch Franz.

Obwohl ihm griechisches Essen nicht besonders zusagte, ging Franz häufig zu Vassilios, lag die Bretterbude doch auf der gegenüberliegenden Straßenseite, nur einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernt. Das war ihm einerseits bequem, andererseits gehörte er schon in jungen Jahren zu der Spezies Mensch, die in allem eine gewisse Verlässlichkeit suchte. Zudem konnte er auch nicht abstreiten, dass ihm Ewa und insbesondere die Kunst der Brustohrfeige nicht aus dem Kopf ging. Jedes Mal, wenn er die Taverne betrat, streifte sein Blick erst ihre Brüste, ehe er nach einem freien Platz Ausschau hielt. Manchmal war ihm, als bemerke sie seine Blicke und lese aus ihnen „diesen besonderen Hunger“ – wie er es in seinem Tagebuch notierte – einen Hunger, der mit der Gratisbeigabe eines zusätzlichen Lammkoteletts nicht zu stillen war. Als Ewa mitbekam, dass der junge Mann mit den melancholischen Augen und den gelockten langen Haaren, den die Kollegen Fiete riefen, der neu engagierte Jugendliche Liebhaber am Stadttheater war, nahmen die Portionen auf dessen Teller zu. Auch den ein oder anderen Retsina und Ouzo gab es umsonst, bis Franz in Ewas Augen jenen Hunger feststellte der dem seinigen glich, und er schlagartig begriff, dass es auf dieser Welt nichts umsonst gab. Als Gegenleistung fürs Gratisessen, Retsina und Ouzo wollte Ewa Liebe, damals, in den Siebzigern, ein anderes Wort für Geschlechtsverkehr. Nun hatte Franz der körperlichen Liebe (und der Liebe überhaupt) nie ablehnend gegenübergestanden, aber mit einer Frau, die fast zwei Köpfe größer war, vom Umfang her bestimmt das Doppelte maß und das Dreifache wog? Auf die Brüste war er insofern gespannt (Franz liebte Brüste), interessierte ihn doch die Ohrfeigentechnik ungemein, und er hatte versucht sich vorzustellen, was für ein Gefühl sich nach einer solchen „Watschen“ einstellen würde. Überdies war die geschlechtliche Not groß. Seine gutaussehende Schauspielschulen-Liebe, die gleichzeitig mit ihm engagiert worden war, hatte sich dem älteren Bonvivant des Theaters hingegeben, somit war er allein. Allein, dunkeläugig, 22-jährig, strahlte Franz etwas aus, das insbesondere von Frauen, aber auch von einigen Männern, als schutzbedürftig angesehen wurde. Er ging auf den Deal ein: Griechisches Essen gegen schnöden Geschlechtsverkehr.

Es war ein trüber Spätmittag, als Franz die Probebühne verließ. Zuvor hatte er seinen Freund, den Schauspieler Mogendorf, gebeten, ihn bei der nachmittäglichen Versammlung der Kollegen, die über die Erstellung einer erneuten Resolution zum Vietnamkrieg beraten wollten, zu entschuldigen, müsse er doch zum Arzt und habe am Abend Vorstellung. Den Romeo zu geben, war ihm immer ein großer Kraftakt und deshalb war ihm auch das Treffen mit Ewa am Nachmittag nicht ganz so willkommen, jedoch hatte er sich nicht getraut nein zu sagen, befürchtete, seine Absage könnte sie verprellen, gab sie doch vor, nur an diesem Nachmittag Zeit zu haben. Wegen ihres Mannes und des Restaurants, sagte sie, und hing ein „und so“ dran, dass alles und nichts bedeuten konnte. Sie sagte „Restaurant“ zu diesem abgeranzten Schuppen, was in Franzens empfindlichen Ohren genauso anmaßend klang wie das „und so“ mädchenhaft, obwohl sie kein Mädchen mehr war. Die Tür klemmte wie immer und er musste – wie immer – mit dem Fuß nachhelfen. Dabei murmelte er etwas von einer verfickten Scheiße, was sie wohl verstanden haben musste „… denn sie lachte rau und herzlich …“, wie Franz tags darauf in sein Tagebuch schrieb und vierzig Jahre später, als er meinte, ein Buch schreiben zu müssen, formulierte er: „… Kalter Zigarettenrauch mischte sich mit ihrem billigen Parfüm, als ich ihr mit einem bemüht heiteren „Voilà“ den Vortritt in meine Wohnung überließ …“

In Ermangelung ausreichender Schrankkapazität hatte Franz einen großen Teil seiner Klamotten an die Flurgarderobe gehängt, somit war es in dem sowieso schon engen, dunklen Flur noch enger und irgendwie auch noch dunkler geworden. Er knipste das Licht an, weil Ewa, für einen Augenblick wohl orientierungslos, stehen geblieben war. Dann quetschte er sich an ihr vorbei, streifte mit seinem Ellbogen ihre Brüste – versehentlich oder absichtlich wusste er nach vierzig Jahren nicht mehr zu erinnern – brummelte eine Entschuldigung, meinte dabei zu erröten – was sicherlich nur Einbildung war – betrat das Zimmer, nahm den halbvollen Aschenbecher vom Fußboden und entsorgte ihn mit einem „Pardon“ im überquellenden Mülleimer hinter der Küchentheke. Wieso mache ich hier eigentlich einen auf Französisch, dachte er, als er sie schweifenden Blicks vor dem braunen Billy-Regal stehen sah. Sie überragte das Regal auf Grund ihrer Hochsteckfrisur um einige Zentimeter!

Dann standen sie sich schweigend gegenüber. Bestellt und nicht abgeholt – wie man auch sagt. Zwei Königskinder ohne Reich, zwischen ihnen die beiden aufeinander gestapelten Holzpaletten, die Franz großspurig als konstruktivistisches Raumelement bezeichnete, die aber im Grunde genommen nur erbärmlicher Tischersatz waren. Von ihr aus gesehen links das Matratzenlager, eine Wohn- und Schlafinsel. Da Franz viele Tätigkeiten im Liegen erledigte, hatte er in seinen Wohnungen immer darauf geachtet, dass die Bettstatt einen gebührenden Raum erhielt. Eine Spielwiese für das Liebesleben; genügend Platz fürs Frühstück (auch zu dritt oder viert); Abenteuerspielplatz fürs Textlernen und Assoziieren; genügend Fläche, um sich einsam zu fühlen, zu lesen oder einfach nur Gelände, um zwischen den Kissenbergen zu träumen. Da der Tischersatz sehr niedrig war und die gesamte Einzimmerwohnung nur knapp dreißig Quadratmeter maß, schien ihm Ewa noch größer, als er sie aus der Taverne in Erinnerung hatte. Die orangefarbenen Plateauschuhe, ihr hochgestecktes Haar über dem breitflächigen Gesicht, einem blonden Adlerhorst gleich, taten ein Übriges. Eine Walküre mit blutrot geschminktem Mund, bereit zum Ehebruch. Franz war flau. Sein rechtes Knie zitterte, wie damals bei der Zwischenprüfung an der Schauspielschule. Vor ihm tauchte das Gesicht von Vassilios auf und in ihm die immer und immer wieder gestellte Frage, warum der liebe Gott auf seine Einmetersiebzig nicht gut und gerne fünfzehn Zentimeter draufgesattelt habe. Als hätte Ewa diesen Gedanken erraten, lächelte sie. Ein Lächeln, als sei es nur für zwei Köpfe kleinere Männer vorgesehen; ein Speziallächeln, von oben herab, wie ihm schien, und da er diesem Von-Oben-Herab-Blick nichts entgegenzusetzen hatte, wich er ihm aus, heftete seine Augen auf ihre Brüste unter dem wollenen Holzfällerhemd, das sie über dem Bauchnabel zu einem Stoffknoten gebunden hatte und dessen drei oberste Knöpfe offen standen, sodass der durchbrochene Spitzenrand des schwarzen BHs zu sehen war. Verwirrt rutschte sein Blick noch tiefer, an jene Stelle, wo Ewa durch eine scharfe Jeansnaht in zwei deutlich sichtbare Hälften geteilt wurde.

„Und jetzt?“ fragte sie, als wolle sie seinen Blick verscheuchen. Die beiden Worte klangen wie ihr „Darf es sonst noch etwas sein?“ in der Taverne. In der folgenden Stille meinte Franz sein Herz im Kopf schlagen zu hören, was in ihm – wie in letzter Zeit häufiger – die Angst vor einem Gehirnschlag aufkommen ließ und er wünschte sich jetzt, sofort, augenblicklich auf die Bühne, zu der es ihn immer dann hinzog, wenn er sich der Welt, wie sie war, nicht gewachsen fühlte. Ewa löste die Verknotung ihres Hemdes und ihm fiel auf, dass am Nagel ihres Daumes ein Stückchen roter Nagellack abgesprungen war. Das hatte ihn schon vor zwei Tagen in der Taverne gestört, als sie ihm den Teller mit dem Gyros servierte.

Franz heftete seinen Blick auf den vom Hemd befreiten, transparenten schwarzen Balkonett-BH mit den Blumenstickereien, unter denen zwei Brustspitzen aus außerordentlich großen, dunkelbraunen Warzenvorhöfen hervorstachen. „Bei diesen Brustwarzen an Traktorventile zu denken, ist erlaubt“, schrieb er in sein Tagebuch. Als Ewa die Haken ihres BH-Verschlusses löste, brachen die Brüste aus der Spitze hervor wie zwei Wasserfälle aus einer Felswand. Oder zwei Teigbatzen, Quarktaschen oder Germknödel – die aber nicht aus einer Felswand. Da Franz sich auf keins der Bilder festlegen konnte, notierte er später in sein Tagebuch: „Ewas Brüste sind der Hammer, und bei den Ohrfeigen hatte ich das Gefühl wie bei einer Petersburger Schlittenfahrt während einer Sonnenfinsternis.“ Und: „Als es nach diesem Vorspiel zum Eigentlichen kam, konnte ich es kaum glauben. So etwas hatte ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren noch nie gesehen, geschweige denn für möglich gehalten: Ein Scheunentor war ein Mauseloch gegen dass, in was ich eindrang. Wiewohl, was schreib ich, von Eindringen konnte nun wahrlich nicht die Rede sein. Ich hätte mein Ding genauso gut aus dem Fenster hängen können – aber wer hängt sein Ding schon aus dem Fenster?“ – dachte und schrieb Franz. Dabei war Franz bestens ausgestattet. Französische Länge, munkelte man hinter seinem Rücken. Eine Maßeinheit aus der Mode: also bis zum Knie. – Der Rock. Obwohl die Länge für Frauen nicht unbedingt entscheidend ist, scheint sie Männern wichtig zu sein. Franz hielt sich bei solchen Gesprächen zurück, wusste er doch um das, was er hatte. Nach der Begegnung mit Ewa kam ihm die Idee, Mösen zu fotografieren. Er hatte schon immer gern fotografiert und rechnete er sich eine kontinuierlich wachsende Sammlung aus, mit der man sicherlich eine Ausstellung in der Galerie seines Freundes würde bestücken können. Mit Ewas Möse wollte er beginnen. Um die ins rechte Licht zu rücken, hatte er sich aus dem Theater einen kleinen Niedervoltscheinwerfer, einen sogenannten „Babyspot“ entliehen, der dimmbar und mit seinem 50-Watt-Brenner sowie dem hinten angebrachten Rändelrad leichtgängig und fokussierbar war. Seine Kamera, eine Contax FB hatte er mit einem 25mm Topogon bestückt, um dieses Monstrum von Ewas Möse wie einen riesigen Riss in der Welt erscheinen zu lassen. „Fissure“ wollte er das Foto nennen, hatte aber auch „Marianengraben II“ in Erwägung gezogen.

 

Ewa war von Franzens Vorhaben zunächst nicht begeistert und obwohl sie beim Vögeln und dem Vor und Danach keinerlei Hemmungen zeigte, schämte sie sich beim Fotografieren. Sie bestand darauf, sich das samtene, schwarz gepunktete Maikäferkissen aufs Gesicht zu legen, wenn sie mit gespreizten oder angewinkelten Beinen auf dem Matratzenlager posierte. Das ergab einen gewissen surrealen Effekt, wenn im Vordergrund der Marianengraben II zu sehen war, dann der Blick des Betrachters über den Venushügel in den schon unscharfen Bereich der auseinandergefallenen Brüste glitt und schließlich auf einem Maikäfer landete, der aber als solcher kaum noch zu erkennen war, den Schauenden jedoch zu einem in solchen Fällen oft gedachten „Was soll das?“ zwang oder zu der Frage „Sollen das Maikäfer sein?“ Kurzfristig hatte Franz erwogen, dieses Foto „Maikäfer flieg“ zu nennen – aber aus Gründen, die ihm dann entfallen waren, hatte er darauf verzichtet.

War Ewa anfänglich noch misstrauisch und gehemmt, fing sie doch beim Betrachten der fertigen Fotos Feuer. Als Franz ihr erklärte, dass er vorhabe, einen künstlerischen Coup zu landen und als Ziel die Documenta in Kassel vorgab, mit ihrer Möse als Nummer Eins in der Sammlung, war sie stolz und gab ihm einen Kuss. Da aber eine Sammlung aus mehreren Exponaten besteht, kam Franz nicht umhin nach weiteren Objekten Ausschau zu halten. Da gab es dann schon die ein oder andere Verstimmung, wenn er vor oder nach einer Fotosession mit einer neuen Möse in der Taverne saß und Ewa ihm den Teller Gyros mit unverhohlener Wut hinknallte, sodass der Krautsalat in erdbebenhafte Bewegung geriet und die ein oder andere Fritte über den Tellerrand hinausschoss. Nebenbei stellte er fest, dass die Portionen sichtbar an Umfang abgenommen hatten.