Die Natur der Dinge

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Die Natur der Dinge
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Georg Thiel

DIE NATUR
DER DINGE

Roman


Gefördert von der Stadt Wien Kultur

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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1. Auflage 2020

© 2020 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Fotomontage Cover: Shutterstock © Ann Mori

ISBN 978-3-99200-283-2

eISBN 978-3-99200-284-9

Und so strickt jeder an seinem Lebenspullover, der eine macht mehr Herzerln hinein und der andere weniger, mit mehr Luftmaschen oder weniger, und am Ende ist das alles filzig und viel zu eng und hat Löcher, und bis man fertig ist, ist die Vorderseite schon von den Mäusen und Motten angefressen, das Prunkstück ist schon hin, bevor’s fertig ist, und der Herrgott sagt dann „paßt!“.

Thomas Bernhard

Inhalt

Erste Wahrnehmung

Zweite Wahrnehmung

Dritte Wahrnehmung

Vierte Wahrnehmung

Fünfte Wahrnehmung

Sechste Wahrnehmung

Siebente Wahrnehmung

Achte Wahrnehmung

Neunte Wahrnehmung

Zehnte Wahrnehmung

Elfte Wahrnehmung

Zwölfte Wahrnehmung

Dreizehnte Wahrnehmung

Vierzehnte Wahrnehmung

Fünfzehnte Wahrnehmung

Sechzehnte Wahrnehmung

Siebzehnte Wahrnehmung

Achtzehnte Wahrnehmung

Neunzehnte Wahrnehmung

Zwanzigste Wahrnehmung

Einundzwanzigste Wahrnehmung

Zweiundzwanzigste Wahrnehmung

Dreiundzwanzigste Wahrnehmung

Vierundzwanzigste Wahrnehmung

Fünfundzwanzigste Wahrnehmung

Sechsundzwanzigste Wahrnehmung

Siebenundzwanzigste Wahrnehmung

Achtundzwanzigste Wahrnehmung

Neunundzwanzigste Wahrnehmung

Dreißigste Wahrnehmung

Letzte Wahrnehmung

Erste Wahrnehmung

Werfen wir einen Blick auf den Mann, der sich unserer Wahrnehmung nun nicht mehr entzieht. Sein Name ist Heinrich, er steht stark in den Fünfzigern. Zumindest wirkt er so. Zumindest wird er so gerufen.

Der Mann hat sich nie unwohler gefühlt, niemals einer schrecklicheren Feier beigewohnt. Das Ambiente: trist, die Gäste: wie Schatten aus der Unterwelt. Wenn es nach ihm ginge, wäre er weit weg. Überall sonst, nur nicht hier. Was ein Wunsch bleiben muss, weil er Anlass und Mittelpunkt dieses freudlosen Festes ist.

Nicht weit entfernt hat die Schwiegermutter Position bezogen. Sie sitzt im Rollstuhl, was ihrer Gefährlichkeit keinen Abbruch tut. Der Rollstuhl, weiß Heinrich, ist lediglich ein Requisit, um Hilflosigkeit vorzutäuschen. In Wirklichkeit ist sie nicht darauf angewiesen. Würde man behaupten, dass sie den um ihren Hals hängenden einäugigen Fuchs eigenhändig erschlagen hat, würde es geglaubt werden. Aktuell unterhält sie sich mit Blochin, einer unangenehmen Person. Vielleicht liegt es an seinen vorstehenden, rot geränderten Krötenaugen? Ihrer angewiderten Miene nach zu urteilen, dreht sich das Gespräch um Heinrich. Blochin mustert ihn mit Hohn. Es liegt nicht nur an den Augen.

Heinrichs Frau gesellt sich dazu. Entsetzlich, wie Isolde heute wieder aussieht. Sack und Asche.

Das Krötenauge stellt Fragen, nickt, grinst. Dann geht ein Engel durch den Raum, das Hadesgemurmel erstirbt, und in die plötzliche Stille hinein hört man die Worte: „Er hat ja nicht einmal ein Stück Brot besessen, wie er zu uns gekommen ist! Wie ein Flüchtling!“

„Mehr noch hat sich Mama daran gestoßen, dass er anfangs nicht gesellschaftsfähig war“, sekundiert Isolde.

Heinrich verspürt einen Stich. Er muss hier raus. Gleich wird das Krötenauge mit der Ansprache beginnen. Sie wird, daran zweifelt er keinen Augenblick, von brillanter Niedertracht sein, und ihm und dem Abend den Rest geben.

Die Befürchtung ist kaum zu Ende gedacht, da klopft der Redner auch schon gegen sein Glas. Es sei ihm, erklärt er, die schöne Aufgabe zugefallen, ein paar Worte zu diesem erfreulichen Anlass zu sprechen. Wobei er das Wort erfreulich durchaus mit Bedacht gewählt habe. Denn wenn er sich so umhöre, komme er nicht umhin, die Biographie des Jubilars als eine Geschichte des Erfolgs zu werten. Eine Erfolgsgeschichte, die umso erstaunlicher sei, wenn man die desolaten Verhältnisse bedenkt, in denen unser lieber Heinrich groß geworden ist! Aber er habe alles tadellos richtig gemacht; sowohl privat als auch beruflich. In eine alteingesessene Familie eingeheiratet. In eine renommierte Firma eingetreten. Dass ihm dort niemals eine wichtige Aufgabe gestellt wurde, sei ihm nicht vorzuwerfen. Wie er eine solche gelöst haben würde, könne man nicht wissen.

Der Jubilar registriert, dass die Summe der Befindlichkeitsstörungen, die sich seiner bemächtigt haben, mittlerweile beträchtlich ist. Übelkeit, ein Zucken, das die linke Gesichtshälfte erfasst hat, Schweißausbruch.

Eben gesellt sich Harndrang hinzu. Es wird nicht mehr lange dauern, bis der Kontrollverlust ein totaler ist.

Das Beste, was ihm in seiner jetzigen Situation widerfahren könnte, wäre eine gnädige Ohnmacht. Es würde die Rede abkürzen.

Und wirklich, ein Gott hat Erbarmen. Heinrich sackt zusammen. In dem Moment, in dem er auf dem Boden aufschlägt, schreckt er aus dem Schlaf.

Zweite Wahrnehmung

Sechs Wochen sind seit dem Traum vergangen, der den Schlaf des Mannes so empfindlich gestört hat. Das war in der Nacht vor dem Vorruhestand. Man kennt hoffnungsvollere Passagen des Übergangs. Der – wie fast alle Übergänge – nicht reibungslos vonstattengegangen ist. Die innerfamiliären Spannungen sind gewachsen. Plötzlich sitzt der Mann die meiste Zeit in seinem Zimmer. Man bekommt ihn nur selten zu Gesicht, aber die bloße Anwesenheit irritiert. Man war gewohnt, dass er acht, neun Stunden des Tages außer Haus verbrachte. Man muss dem Mann Wege in die außerhäusliche Beschäftigung weisen. Es muss etwas geschehen. Dringend. Es fragt sich nur was.

Ansonsten vollzieht sich die Wandlung zum Ruheständler kaum merklich. Heinrich hat die Angewohnheit, die Tage in Anzug und Krawatte zu verbringen, noch nicht abgelegt. Abzüglich der Füße, die in löchrigen Hausschuhen stecken, ist der äußere Eindruck tadellos. Im Lehnstuhl des sogenannten Herrenzimmers, in dem er sich eben mit der Zeitung niedergelassen hat, hat er nicht immer gesessen. Hier war der Platz seines Schwiegervaters. Es hat lange gedauert, bis Herr Gründler den Stuhl geräumt hat. Der Schwiegervater war zäh. Das muss man in dieser Familie auch sein.

Das Möbel ist verschlissen und unbequem, doch geht es um … was genau, weiß er eigentlich selbst nicht. Um eine Botschaft vielleicht. Eine kaiserliche Botschaft. Zumindest ist es nicht wahrscheinlich, dass sie bei denen, an die sie gerichtet ist, ankommen wird.

 

Die Zeitungslektüre beginnt Heinrich bei den Konflikten. Mit Waffen ausgetragene, schwelende, drohende; die beigelegten werden nur mehr überflogen. Immer in dieser Reihenfolge, das hat er lange so gehalten. Es hat mit seinem ehemaligen Beruf zu tun. Es passt auch zu seinem Privatleben; abzüglich der mit Waffen ausgetragenen und der beigelegten.

Danach widmet sich Heinrich den Ressorts Innenpolitik und Wirtschaft. Zuletzt das Feuilleton, niemals Sport. Sport ist etwas für Plebejer, hatte der Alte gesagt. Den Alten wird er auch nicht mehr los. Die Seite mit dem Sudoku, das er gerne lösen würde, ist immer herausgerissen, wenn ihm die Zeitung ausgehändigt wird. Sie ist dann schon durch die Hände von Schwiegermutter und Frau gegangen und weist Frühstücksspuren auf. Quittengelee von der Schwiegermutter, grauer Hildegard-von-Bingen-Brei von der Frau. Früher gab es auch noch die Fettflecken vom Schwiegervater, doch wird seit seinem Tod kein Frühstücksspeck mehr zubereitet. Eine Verbesserung, wenn man so will.

An manchen Tagen wünscht sich Heinrich, dass als Nächstes das Quittengelee verschwindet, an anderen der Brei. Die Bilanz der Verwünschungen ist ziemlich ausgewogen. Im Innersten zweifelt er daran, es zu erleben. Nicht einmal die Quitten, denkt er, wenn er düster gestimmt ist. Über solchen Überlegungen sind die Blätter wieder in ihre richtige Reihenfolge gebracht, ein erster Überblick gewonnen. Die Morgenlektüre, und mit ihr der erfüllteste Teil des Tages, kann beginnen.

Leider sind Störungen häufig. Heute schon beim ersten Absatz des ersten Artikels. Es wäre um die Offensive der Mauretanier in Subsahara gegangen. Auch sie ist stecken geblieben.

Heinrich lässt die Zeitung sinken, als er seinen Namen hört. Es würde den Konflikt nur vertiefen, wenn er nicht reagierte. Das Aufstehen gerät zu keinem Akt der Levitation. Heinrich schlurft zwei Zimmer weiter. Das ist neu. In der Rolle als Pensionär macht er Fortschritte.

Die Störungsgründe sind immer lächerlicher Natur. Diesmal ist es ein Braunton, der dringend benötigt wird. Kein Haarfärbemittel, das hätte im Fall Isoldes die Tönung ranziger Butter. Es geht um Jod- oder Tundra- oder Sudanbraun. Er wird es, kaum, dass es ausgesprochen ist, schon wieder vergessen haben. Das Braun ist nur in einem sogenannten Künstlerbedarfsgeschäft erhältlich, das am anderen Ende der Stadt liegt. Er wird gebraucht, er ist der Einzige, der einen Führerschein hat. Einer der Gründe, warum ihn diese Familie noch nicht umgebracht hat. Vorläufig.

Dritte Wahrnehmung

Ehe sie aufgebrochen sind, hat sich Isolde mit einem Eau de Toilette eingesprüht. Es ist das ihrer Mutter. Ein seifiges Altweiberwasser, wie ausgerauchter Lavendel, Heinrich hasst den Geruch. Als ob man ihr die Jahre nicht deutlich genug ansehen würde. Es ist im Auto kaum auszuhalten, aber auf die „Luftzug!“-Tiraden, die er mit dem Öffnen des Fensters auslösen würde, kann er verzichten. Heinrich atmet flach durch den Mund. Isolde blickt starr geradeaus. Am Rückspiegel baumelt ein kleiner Fez.

Die Fahrt verläuft, abgesehen von einer zu seinen Ungunsten ausgegangen Diskussion, auf welchem Parkplatz das Auto abgestellt werden soll, schweigend. Es ist ja schon alles gesagt. Er wird die Wagentür heftiger zuschlagen, als eigentlich nötig.

Im Künstlerbedarfsmarkt entspannt sich Isolde sichtlich; ihre Bewegungen wirken nun weniger hölzern. Heinrich, der den Einkaufskorb hinter ihr herträgt, ergeht sich in düsteren Überlegungen. Zwei Stunden wird ihn der Erwerb dieser Farbtube kosten, zwei Stunden mindestens, und da sind An- und Abfahrt noch nicht einmal eingerechnet. Sie bleibt ja überall stehen. Auf der ganzen Welt gibt es niemanden, der so ausdauernd auf Spachteln, Pinsel und Leinwände starren kann wie sie. Und natürlich erblickt Isolde bei den Keilrahmen dann auch noch eine Bekannte. Augenscheinlich eine Frau, der vom Arzt künstlerische Betätigung als Mittel gegen ihre Depression verschrieben wurde. Vielleicht hätte man es erst einmal mit Psychopharmaka versuchen sollen …

Bei Isolde ist es ähnlich verlaufen. Nur, dass es bei ihr Eigentherapie war. Sie ist Anfang, Mitte vierzig gewesen, als sie sich in die Malerei gestürzt hat. Ein Versuch, dem Gefühl der Langeweile und der Lebensleere zu begegnen. Klassisch. Andere fangen an, zu reiten. Viele ihrer Bekannten haben es so gehalten. Sie musste dann natürlich auch. Einen verregneten Oktober und einen trüben November lang hat er sie jedes Wochenende zu diesem elenden Reiterhof chauffieren müssen. Während der Lektion ist er dann durch aufgeweichte Wiesen voller Pferdedung gewatet, damit ihm ihr Anblick hoch zu Ross erspart blieb. Ganz war es ohnehin nicht zu vermeiden. Es hat, groß und knochig, wie sie nun einmal ist, starke Anklänge an den Apokalyptischen Reiter gehabt.

Von den Pferden, sagte sie, fühle sie sich angenommen. Das seien Tiere, die etwas von Seele verstünden, viel mehr als jeder Mann. Er hat das Gerede nicht weiter beachtet. Sie war schon vor den Pferden immer wieder in Esoterik-Mumpitz abgedriftet, allerdings nie für lange. Und als bald darauf eine unter dem Einfluss von Pillen und Alkohol stehende Mitreiterin abgeworfen wurde und sich dabei krachend das Genick brach, hatte es mit diesem Seelentier-Unfug schnell ein Ende.

Nach den Pferden kam die Malerei. Die Anfänge waren unauffällig, ein Wochenendkurs für Hinterglasmalerei, wenn er sich recht erinnert. Zu Hause fabrizierte sie einige Heilige, die nicht klar zu identifizieren waren. Dann wurde es manisch. In immer kürzeren Abständen belegte sie Seminare für Bauern-, Porzellan-, Acrylmalerei. Stillleben, Alte Meister und von diesen ging es ziemlich unnachvollziehbar ins Abstrakte. Und wer hat sie immer hinbringen und wieder abholen müssen? Er natürlich. Ebenso natürlich waren diese Veranstaltungen immer an Orten mitten im Nirgendwo. Sie ist ja an sich geizig.

Soweit er es überblicken konnte, wurden die Kurse ausschließlich von Frauen gebucht. Die meisten reisten selbst an. Bei denen, die von ihren Männern gefahren wurden, hatte er immer den Eindruck, es seien genauso hoffnungslose Paare wie Isolde und er. Dem wohnte ein eigentümlich tröstliches Element inne. Einer dieser Männer hat ihm am Rückweg zum Parkplatz anvertraut, er bete, dass die Seine hier von den Wölfen gerissen werde. Aber das werde es nicht spielen, hat der Mann, schon halb im Auto noch gesagt, sie sei selbst dem Teufel zu schlecht. Das hat Heinrich beeindruckt. Dass jemand das ausspricht, was er selbst sich nur dachte.

Im Abstrakten blieb Isolde lange hängen. Ins Abstrakte hat sie sich regelrecht verbissen. Er selbst konnte in keiner Richtung, in der sie sich betätigte, auch nur einen Funken von Talent feststellen.

Vor einiger Zeit hat sie mit etwas begonnen, das sich Aurenmalerei nennt. Nun ist sie angekommen. Die Aurenbilder, sagt sie, spiegeln ihr Innerstes.

Das Œuvre ist inzwischen beträchtlich, es füllt das ganze Haus. Und das ist ziemlich groß. Unnötig zu erwähnen, dass die Bilder scheußlich sind. Sie wirken darüber hinaus wie negativ bestrahlt, ziehen das Leben aus einem hinaus. Kein Wunder, falls er eines Tages wahnsinnig wird.

Jetzt unterhalten sich die beiden Schnepfen immer noch. Und er steht da wie ein wartender Dienstbote mit seinem Korb. Hat ihn Isolde dieser Bekannten eigentlich vorgestellt? Er hat nicht aufgepasst. Vermutlich nicht, wozu denn auch einen Dienstboten vorstellen? Nicht, dass er auch nur die oberflächlichste Bekanntschaft mit dieser Person wünscht. Ein malender Unglücksmensch reicht. Doch es gibt Regeln des Anstands. Und wenn die gebrochen werden, muss man Zeichen setzen, Zeichen, die verstanden werden.

„Ich gehe ins Café“, sagt er und dreht sich um. Den Korb lässt er auf dem Boden stehen.

Es wäre normal gewesen, ins Café zu kommen, wenn man etwas gewollt hätte. Jede andere hätte es so gehalten. Nicht so Isolde. Die Melange ist kaum serviert, als sie etwas Neues aus dem Arsenal ihrer Bösartigkeit holt. Lautsprecher knacken, dann wird ein Herr Függe dringend gebeten, in die Rahmenabteilung zu kommen, wo seine Frau auf ihn warte. Natürlich verbrennt er sich zusammenzuckend die Lippen und benimmt sich entsprechend auffällig, zum Amusement der umliegenden Tische. Und ebenso natürlich springt er nicht sofort auf, weil sich die übrigen Gäste umsehen, ob Herr Függe nicht unter ihnen ist, und wenn ja, wie er wohl aussieht. Er trinkt den Kaffee so schnell wie möglich und also viel zu heiß und ruft „Zahlen!“

Der Kellner lässt sich ewig nicht blicken, und er ist währenddessen voll Sorge, dass es zu einer Folgeausrufung kommen könnte, diesmal mit Isolde am Mikrofon. Nimmt sie überhaupt noch ihre Medikamente? Oder hat sie sich wieder einmal für gesund erklärt? Er weiß es nicht. Er darf gar nicht daran denken.

Isolde wartet an genau der Stelle, wo er sie zuletzt gesehen hat. Im dramatischen Wurzeln ist sie Meisterin. Der auf Heinrich ruhende Blick ist die Gründler’sche Variante des Blicks der Medusa. Eigentlich rührt er mehr von der mütterlichen Linie her, deren Name ihm sicher gleich wieder einfallen wird. Und während er noch überlegt, führt Isolde mit tragender Stimme über sein Verhalten Klage. Zuerst nicht grüßen! Und dann einfach verschwinden! Ohne ein Wort zu sagen! Das sehe ihm ähnlich! Wie ihre Mutter immer sage …

„Manieren wie ein Bierkutscher“, ergänzt Heinrich resigniert. Sonst sagt er nichts. Es ist sinnlos mit Gorgonen zu streiten.

Vierte Wahrnehmung

Was ihre Mutter sagt, denkt und will, ist auf der Rückfahrt, die aufgrund von Verkehrsbehinderungen noch länger dauert als die Hinfahrt, das beherrschende Thema: Es gibt Neuigkeiten. Sie sind schlecht. Mama hat beim Frühstück gemeint, sie fühle sich so beweglich wie schon lange nicht. Der in Erwägung gezogene Kuraufenthalt werde Erwägung bleiben. Gleichwohl müsse man sich für alle Eventualitäten wappnen, weshalb sie sich zum Einbau eines Treppenliftes entschlossen habe.

Nicht zuletzt wegen der Hunde, die dann nicht mehr in den Garten getragen werden müssten. Auf Heinrich sei in dieser Hinsicht ja kein Verlass, er lasse Cupido und Psyche immer die Treppen laufen, wenn er sich unbeobachtet fühle. Obwohl er genau wisse, dass Dackel zu Lähmungserscheinungen neigen, wenn man sie Stufen steigen lasse.

Darauf gibt es nichts zu erwidern. Die Vorwürfe treffen zu. Er mag keine Hunde. Weder ihren Geruch noch ihr Bellen noch ihre Angewohnheit sich im Alter mit gelähmten Hinterläufen auf dem Teppich zu entleeren.

Ein Treppenlift also. Die Montage wird nicht ohne Schmutz und Lärmentwicklung vonstattengehen. Ganz zu schweigen von den Kosten.

Viel schwerer wiegt freilich der Mobilitätsgewinn der Schwiegermutter. Seit ihrem Sturz vor drei Jahren ist der zu ihrer Wohnung führende Aufgang eine Art natürliche Barrikade. Heinrich findet, dass in der Hüftfraktur eine göttliche Gnade lag, denn allein hat sie den Abstieg danach kaum noch gewagt. Wenn sie etwas will, pflegt sie seither mit dem Stock auf den Boden zu klopfen. Wird ihrer Ansicht nach nicht schnell genug reagiert, schlägt sie gegen die Heizungsrohre. Das ist zwar lästig, aber immer noch besser als ihr bis dahin praktiziertes, unangemeldetes Auftauchen. Es wird wieder in diese Richtung gehen. Es ist …

Hinter ihm hupen Autos. „Es ist grün! Wieso fährst du denn nicht?! Ja, so fahr doch schon! Also wirklich!“

Heinrich fährt.

Der Kübel an Verdrießlichkeiten ist noch nicht vollends ausgeleert. Um den Treppenlift montieren zu können, wird man nicht umhinkommen, den Wandschmuck zu entfernen. Neben Zeugnissen von Isoldes bildendem Unvermögen besteht dieser aus Jagdtrophäen des Schwiegervaters. Heinrichs Frage, wo all die Spießer, Gabler, Sechs-, Acht- und sonstige Ender hinkommen werden, bleibt unbeantwortet. Das verheißt nichts Gutes für sein Zimmer. Wiewohl er sich zwischen all den Krickln, Geweihen und Präparaten nicht einmal schlecht machen würde. Denn in gewisser Hinsicht ist auch er bereits tot.

Tags darauf ist er von Schwiegermutter und Frau zum Frühstück vorgeladen. Kurz überlegt er, sich mit Unwohlsein zu entschuldigen, lässt es aber bleiben. Vielleicht ist sein Refugium ja doch noch zu retten.

Als er die Etage der Schwiegermutter betritt, beginnen die Hunde zu knurren. Die Frühstückstafel ist frugal, es gibt nichts, was Heinrichs Gaumen locken würde. An seinem Platz steht eine Schale mit Hildegard-von-Bingen-Brei, in den er etwas Quittengelee rührt. Gegessen wird schweigend. Dann ergreift die Schwiegermutter das Wort. Heinrich wisse ja, dass Unannehmlichkeiten ins Haus stünden, bauliche Maßnahmen, an denen er nicht ganz unschuldig sei, nein, er solle nicht widersprechen. Die Handwerker seien bereits bestellt. Das Letzte, was man beim Umbau brauche, sei ein jammernder, im Weg herumstehender Mann. Das gehe nicht an, also werde Heinrich für ein paar Tage verreisen. Man wisse auch schon wohin. Es habe sich eine ausgezeichnete Möglichkeit aufgetan: Heinrich kenne doch die Akademie, in der Isolde all die wunderbaren Kurse belegt habe? Nun, mit der gestrigen Post sei ein Gutschein für einen Gratiskurs gekommen. Den sie, nach Rücksprache mit ihr, Heinrich zur Verfügung stelle. Was er dazu sage?

 

Er male nicht, sagt Heinrich.

Das sei bekannt. Doch gebe es eine Fülle von Angeboten, von Möbelrestaurierung über Herrgottschnitzen bis hin zur Portraitphotographie. Es werde sich etwas finden.

„Ich …“, sagt Heinrich.

„Du brauchst dich nicht zu bedanken.“ Die Schwiegermutter streckt ihm die knochige, immer etwas klebrige Hand zum Kuss entgegen. Es schmerzt; sie trägt den Ring mit dem schartigen Stein, den sie gegen die Lippen des Schwiegersohnes presst. Die Audienz ist beendet.

Zum Abschied wird ihm die Zeitung ausgehändigt. Sie ist dicker als sonst, da ihr der Veranstaltungskatalog beigelegt ist. Heinrich verbeugt sich, ehe er geht.

Sein Zimmer ist an diesem Morgen nicht zur Sprache gekommen.