Lebenskrisen und ihre Botschaften

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Aus der Reihe: Franziskanische Akzente #28
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Lebenskrisen und ihre Botschaften
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Georg Lauscher

Lebenskrisen und ihre Botschaften

Franziskanische Akzente

herausgegeben von Mirjam Schambeck sf

und Helmut Schlegel ofm

Band 28

GEORG LAUSCHER

Lebenskrisen und ihre Botschaften

Von Anfängen und Übergängen

echter

Herzlicher Dank geht an Eva Kasper für die sorgfältige Zuarbeit bei den Korrekturen und den Sponsorinnen dieses Bandes, die nicht genannt werden wollen. Mirjam Schambeck sf und Helmut Schlegel OFM danke ich für die Einladung und Aufnahme in die Reihe „Franziskanische Akzente“.

Ich gebe nur weiter, was ich empfangen und auf meine Weise verarbeitet habe. Was das Umgehen mit Lebenskrisen betrifft, habe ich viel gelernt von meinen Nachbarn in sozialen Brennpunkten und von Arbeitskolleg*innen in der Fabrik, von Menschen, mit denen ich mich verstehe – über die Grenzen von Nation, Kultur und Religion hinaus. Und ich lerne weiter von den Menschen, die ich geistlich begleite.

Wilhelm Bruners bin ich dankbar für sein aufrichtiges Zutrauen und die kräftige Ermutigung zu diesem Buch.

Den Aachener Franziskanerinnen bin ich dankbar für ihre Gastfreundschaft. Sie haben, ohne es zu wissen, mir die Arbeit an diesem Buch ermöglicht.

Inhalt

Vorwort

1. Brüche

Geboren

Aufgebrochen

Einbruch

Lebensmitte

Bruch und Berufung

Seelische und spirituelle Ermüdungsbrüche

2. Anfänge

„Das Licht leuchtet in der Finsternis"

Resonanzraum und Korridor in dunkler Nacht

Neu und nackt

Anfängergeist

Neu sehen lernen

Das Nichts des Lichts

Ein Riss – da kommt Licht herein!

Anfänger*innen beten gründlich

3. Übergänge

„Werdet Vorübergehende!“

Keine Entwicklung ohne Scheitern

Vom Erscheitern der neuen Lebensgestalt

Doch durch Trauer hindurch

Im Vorübergehen mit Gott

Ein gründender und bewegender Bruch

4. Die Botschaft(en)?

„Der Dornbusch ist der alte Weg-Versperrer. Er muss Feuer fangen, wenn Du weiterwillst“

Zum Weiterlesen

Abkürzungen

Anmerkungen

Vorwort

„Jimmy“ riefen ihn alle, diesen jungen Mann, wenn er zwischen den Hochhäusern des sozialen Brennpunktes freundlich winkte. Oft wurde er ausgenutzt. Auch von seinen Landsleuten, die wie er aus Albanien hier Zuflucht und Zukunft suchten. Eines Tages nun klopft er verzweifelt an meine Wohnungstür im 13. Stock: „Ich war telefonieren, in der Telefonzelle an der Hauptstraße. Es war ein so schlimmes Gespräch, dass ich danach schnell raus bin. Ich habe alles liegen lassen … all meine Papiere, mein ganzes Geld … Als ich es merkte und zurückliefin die Telefonzelle, war alles weg … Ich stehe vor dem Nichts…“ Lange sitzen wir uns gegenüber, bedrückt und schweigend. Nur einzelne Worte gehen hin und her. Doch plötzlich – nach einem besonders langen Schweigen – richtet Jimmy sich auf: „… und ich liebe mich mit meinen Problemen!“

Er war in einer verzweifelten Lage – äußerlich hatte sie sich nicht im Geringsten verändert –, und doch war plötzlich alles anders. Was war mit ihm geschehen? Ich weiß es nicht. Eine Wandlung. Ja. Aber ich konnte weder einen bestimmten neuen Gedanken seinerseits erkennen noch eine besonders gelungene Antwort meinerseits. Inmitten dieser verfahrenen Situation brach aus dem Nichts heraus etwas Neues auf. Oder genauer: Es kam aus der Resonanz zwischen uns. Alles lag nun da in einem neuen Licht, das sich plötzlich Bahn gebrochen hatte. In diesem Licht konnte sich Jimmy mit seinen Problemen lieben. Doch wie kam er – der staatlich indoktrinierte Atheist – dazu, sich an diesem Nullpunkt liebenswert zu finden? Ich weiß es nicht. Er wusste es vermutlich selbst nicht. Aber es war wahr. Der radikale Neuansatz am Tiefpunkt der Verzweiflung war wahr. Eindeutig und unumkehrbar. Doch welche Botschaft erfuhr Jimmy hier für seinen Lebensweg?

Die Krise ist der Ursprungsort jüdischen und christlichen Glaubens. In und durch Krisen hindurch kam und kommt der Glaube zur Welt. Konventionen und religiöse Konstruktionen mögen vorübergehend helfen. Früher oder später werden sie zerbrechen. Die Ursprungsorte des Glaubens sind oft markiert durch ein Überwältigtsein von etwas außergewöhnlich Schönem oder etwas außergewöhnlich Schlimmem, in dessen Folge sich Verwunderung oder Desorientierung einstellen, selige oder leidvolle Fassungslosigkeit. Zumindest bewährt und klärt, läutert und häutet sich hier Glaube in einer Entwicklung, die erst mit dem letzten Atemzug endet.

Von „Lebenskrisen und ihren Botschaften“ handelt dieses Buch. Es widerspricht der persönlich und politisch tiefsitzenden Illusion eines Lebens ohne Krisen und Konflikte, ohne Leiden und Anstrengung. Dieser moderne Mythos entspricht nicht der Realität. Er begegnet uns in den verschwiegenen Wahrheiten politischer Verhältnisse und auch im seichten Gottesbild innerhalb wie außerhalb der Kirchen, die ein gelingendes Leben ohne Reibungsflächen vorgaukeln. Ich misstraue solchen Ver-Sprechen aufgrund eigener und fremder Lebenserfahrungen. Mag sein, dass in einem oberflächlichen und entfremdeten Leben Krisen, schmerzliche Entscheidungen und riskante Anfänge weitgehend vermeidbar sind. Doch um welchen Preis? Um den Preis der Wahrheit und des Weiterwachsens? Lebensfremde Illusionen und Konstruktionen sind ohne schmerzhafte Brüche, Anfänge und Übergänge nicht zu entlarven. „Du wirst heute zum Christen getauft“, schreibt Dietrich Bonhoeffer zum Tauftag eines Neugeborenen aus dem Gefängnis. „… auch wir selbst sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen.“1

Ich lade ein, dem brüchigen Menschenleben treu zu bleiben und genau hinzuschauen, was durch seine Bruchstellen hindurch aufleuchten könnte. Es geht hier weniger um Information und Analyse. Es geht vielmehr um ein Verstehen von innen und von einer bejahenden Beziehung her. Die seelische Bewegung, in der die Seele Lebenskrisen durchleidet und überwindet, gleicht der Struktur einer Spirale. Die Seele umkreist den schwer verständlichen Kern einer Krise, indem sie ihn aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nimmt. Auch wenn wir oft meinen, im Kreisen auf der Stelle zu treten und wieder am alten Punkt angelangt zu sein, findet die Seele intuitiv auf diese Weise ihren Weg zur Heilung. Dabei muss unser Geist die Seele oft schützen vor übernommenen und tief eingeprägten kontrollierenden und bewertenden Denkmustern. Eine sanfte geistige Selbstdisziplin ist hier zu üben, die den augenblicklichen Zustand verständnisvoll annimmt. „Was nicht angenommen ist, kann nicht verwandelt, nicht erlöst werden“, lautet eine Grunderfahrung der spirituellen Theolog*innen der frühen Kirche. Dieser Satz wurde zur Kurzformel für das Geheimnis der göttlichen Menschwerdung.

Im verstehenden Umkreisen und Annehmen werden zurückliegende schmerzliche Erfahrungen auf eine neue Ebene gehoben, in einem doppelten Sinn aufgehoben. Sie werden nicht achtlos übergangen, sondern in die Hand genommen, emporgehoben und aufmerksam angesehen. Und sie werden in den Zusammenhang der eigenen Lebensgeschichte geborgen, eingefügt und integriert. So werden auch wir uns im Folgenden dem unverfügbaren Geheimnis bzw. dem unlösbaren Rätsel unserer Lebenskrisen in einer Spiralbewegung kreisend annähern.

Weil dieser Weg hier sehr persönlich beleuchtet wird, wähle ich häufig die Ich-Form. In diese Ich-Form können Sie – falls es Ihnen hilfreich erscheint – hineinschlüpfen wie in einen angebotenen Mantel. Dann wären Sie selbst beteiligt und das Lesen könnte Ihnen noch spürbarer Früchte bringen. Den persönlichen Prozess sollen auch die häufig verwendeten Bilder erleichtern. Sie geben – anders als Begriffe – der Seele und ihren Erfahrungen Raum, sich in Freiheit wahrzunehmen und zu wachsen. Wohl nicht zuletzt aus diesem Grund sprach Jesus oft in Bildern und Gleichnissen. Um den Erfahrungen von Transzendenz, also vom Überschreiten der sichtbaren zur unsichtbaren Wirklichkeit hin, Ausdruck zu geben, bedürfen wir der Bildersprache.

Ich schreibe in der Hoffnung, dass Sie, liebe Leserin und lieber Leser, beim Lesen ihrem eigenen Leben oder dem verwundeten Leben vertrauter Menschen auf die Spur kommen. Es wird kein unterhaltsamer Weg sein, doch einer in wachsendem Vertrauen. Denn Brüche können Anfänge und Übergänge zu einem lebendigeren Leben werden. Wenn auch wider den eigenen Willen und anders als gedacht. An Bruchstellen können wir Durchbrüche erfahren zu bislang unbekannter Lebenstiefe und Lebensweite. Eine krisengeschüttelte Teilnehmerin an einem Einführungskurs zum Schweigegebet (dem kontemplativen Beten) brachte ihre innere Erfahrung im Gespräch so auf den Punkt: „Jetzt verstehe ich, wie der Weg geht: Je tiefer – desto weiter!“

 

Solch leise und zugleich lebenskräftige Spiritualität hört mit dem Wachsen nie auf: in seelische Tiefen hinein wie in soziale, ja universale Weite hinaus. Ein krisengereifter Glaube ist zutiefst persönlich und politisch. Er birgt ungeahnte kreative Kräfte zur Lebensgestaltung im Persönlichen wie im Politischen. Wie ich in Lebenskrisen mit den eigenen Schwächen umgehen lerne, trägt Früchte im Kontakt mit den Schwächen anderer und mit den Schwachen in der Gesellschaft.

1. Brüche

„Ein zerbrochenes

und zerschlagenes Herz –

wirst du, Gott,

nicht verschmähen

(nicht verachten).“

(Ps 51,19)

Woche für Woche, jeden Freitag betete ich in den Laudes diesen Vers aus Psalm 51. Ich betete ihn widerspenstig, mit innerer Ablehnung: Nein, ein Sadist kann Gott nicht sein, und zum Masochisten will ich nicht werden!

Bis mir eines Tages aufging: Ein lebendiges, weiches, pulsierendes Herz kann nicht brechen. Brechen kann nur ein kalt gewordenes, verhärtetes Herz. Wenn aber ein verhärtetes Herz aufbricht, ja zerbricht, könnte dies ungeahnte Lebenskräfte und Lebensmöglichkeiten freilegen.

Geboren

Menschen sind Überlebende. Alle. Der erste Aufbruch, den wir überlebten, war unsere Geburt. Nicht ohne unseren Einsatz riss die bis dahin schützende, aber auf Dauer tödliche Hülle. Irgendwie wurden wir gedrängt und zugleich drängte es uns durch eine dunkle Enge voran. Warum? Wozu das? Wir wussten nichts. Es geschah, ohne dass wir es bewusst steuern oder verhindern konnten. Und doch „wussten“ wir. Wir ließen geschehen und wirkten zu einem bescheidenen Teil mit bei diesem Geschehen. Und dann der Schock. Und dann der Schrei. Mitten in der überwältigenden Atemnot der erste Atemzug. In der Bildsprache der Bibel ist unser erstes Einatmen das Ausatmen Gottes: „Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem“ (Gen 2,7). Diesem Bild folgend wäre jedes Einatmen unsererseits ein Ausatmen Gottes – bis schließlich unser letztes Ausatmen im Sterben uns ins Einatmen Gottes zurücksinken lässt. „Nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub“ (Ps 104,29). Und zwischen unserem ersten Einatmen und unserem letzten Ausatmen ein ganzes Leben in dieser Atemwiege, in dieser „Atemschaukel“ (Herta Müller). Ein Leben in sehr unterschiedlich bekömmlichem Atemgemisch: unser Einatem geprägt von der Qualität des Ausatems anderer – und ihr Einatem geprägt von der Qualität auch unseres Ausatems! Was für eine große wechselseitige Verantwortung!

Wir kamen also durch eine große Bedrängnis hindurch zur Welt. Das Erste, womit wir fertig werden mussten, war offensichtlich ein Schock, ein Trauma. Es war wie der Hinauswurf aus dem Paradies, mit dem wir fertig werden mussten. Das plötzliche, schmerzliche Ende einer Symbiose. Die bislang passende und förderliche Form des Mit-Lebens war an ein Ende gekommen. Wir wurden nicht gefragt. Es geschah an uns gegen unser Beharren und gegen unseren „Willen“ – und dennoch unserer menschlichen Natur gemäß! Die räumliche und gefühlsmäßige Trennung wurde noch besiegelt durch den scharfen Schnitt der Abnabelung. Auch gegen unseren „Willen“ – doch unserer menschlichen Natur gemäß. So sind wir von Geburt an traumatisierte und verletzte Menschen. All dies, was uns hier überwältigte, war offensichtlich eine notwendige Voraussetzung. Doch wofür? Für einen Entwicklungssprung, für eine erschreckende, doch später beglückende Überwältigung mit Lebendigkeit.

Aufgebrochen

Und nach unserer Geburt – wie viele Gefährdungen haben wir bis heute überlebt? Sonst schrieb ich diese Zeilen nicht und Sie würden sie nicht lesen! Wir sind Überlebende. Alle. Ein gläubiger Mensch würde sagen: Wir sind mit göttlichem und menschlichem Lebensatem Begabte, Begnadete. So oder so sind wir Aufgebrochene in einem doppelten Sinn: Wir sind bei unserer Geburt aufgebrochen worden in unserer wohligen Blase und sind aufgebrochen in ein fremdes, farbiges, furchterregendes und faszinierendes Leben. Und dies endet nicht, solange wir wach und lebendig bleiben: Wir leben von Geburt zu Geburt. Wir erleben immer wieder neu, aufgebrochen zu werden und aufbrechen zu müssen aus der Blase unseres Egos, unseres Milieus, unserer alten Lebensmuster. Der Echoraum, der uns mit der Zeit vertraut wurde, wird wieder neu aufgeknackt. Zu unserem Glück. Die Botschaft des Bruchs: Es gibt mehr! Du kannst weiter gehen! Schließ dich nicht selber ein in dem dir Vertrauten. Die Welt ist größer. Dein Leben auch!

Darin sind wir einander verwandt. Unsere erste und entscheidende Geburt scheint sich mitten im Leben auf eine andere Weise wiederholen zu müssen. Die Höhle unseres liebgewonnenen, kleinen Universums wird wieder aufgebrochen, die erweiterte Blase des erwachsenen Lebens bekommt einen Riss. Einmal. Viele Male. Wir kennen die beseligende Überwältigung in der Liebe und Selbsttranszendenz. Auch hier entgleitet uns die Regie in unserer Lebensführung. Solch beseligender Autonomie- und Machtverlust kann uns auch in der Natur, in der Musik oder im Gebet ereilen. Im Folgenden beschränken wir uns auf die traumatische Verlusterfahrung in Lebenskrisen.

Auch diese negativen Überwältigungen sind äußerst unterschiedlich, und sie werden von uns unterschiedlichen Menschen unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Ein Trauma ist ein Ereignis, das unsere momentane nervliche und seelische Belastbarkeit übersteigt. Je früher in der Biographie sich ein Trauma ereignet, desto stärker die Wirkung, aber desto stärker sind (nach Erich Fromm) auch noch die Kräfte, mit denen sich jemand davon erholt. Ob Krankheit, Unfall, Krankenhaus, Prügel, Eingesperrtsein, sexuelle Überwältigung, Flucht, Vertreibung, Krieg – aus dieser Nacht der Nächte ist jede und jeder verändert aufgewacht. Fürs Leben verändert. Eingebrannt bleibt oft: Menschen, denen ich vertraute, haben mich zum Opfer gemacht oder teilnahmslos zum Opfer werden lassen.

Das griechische Wort Trauma bedeutet Wunde, Leck. In jedem Menschenleben gibt es offenbar dunkelste Stunden, in denen niemand da ist, der mitfühlt und versteht. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen und müssen sie alleine bestehen. Selbst der allernächste Mensch, der mitfühlt und versteht, muss auf der Schwelle stehen bleiben. Wie in der Passion Jesu tut sich ein einsamer, nicht einsehbarer Abgrund auf. „Ein Abgrund ruft den anderen hervor“, übersetzten frühe Christ*innen den Psalmvers „Flut ruft der Flut zu beim Tosen deiner stürzenden Wasser“ (Ps 42,8). Sie versuchten in diesem Bild auszudrücken, dass sie mitunter den eigenen, einsamen Abgrund als zutiefst verbunden mit dem göttlichen Abgrund erfuhren – gerade auch in den für sie bedrängenden sozialen und politischen Verhältnissen.

Es ist, wie wir bei der Geburt gesehen haben: Etwas, was ich nicht wollte, hat mich überwältigt. Es kam plötzlich, massiv. Ich war kaum darauf vorbereitet, war schwach in diesem Augenblick. Durch diese überwältigende Erfahrung wurde etwas aufgebrochen in mir, in meinem Lebensgefühl. Ich wurde aufgebrochen. Ich bin anders danach. Wie gestorben? Wie neu geboren?

Die Erfahrung der einsamen Todesnähe wurde wie eine Wunde in den Leib, wie ein Leck in das eigene Lebensboot eingeritzt. Sie bleibt präsent. Die alte spirituelle Übung des memento mori, dieses „Gedenke, Mensch, dass du sterben wirst!“ ist seit dieser Erfahrung in die Seele, oft auch in den Leib eingezeichnet. Diese spirituelle Übung liegt diesen Überlebenden jetzt sozusagen im Blut. Anfangs vielleicht wie eine Panikattacke. Mit zunehmender Verarbeitung und Einfügung dieser Erfahrung ins eigene Wachstum kann sie leichter werden. Als verarbeitete und angenommene Erfahrung eröffnet sie die Möglichkeit, von innen her solidarisch und mitfühlend zu werden: „Anderen geht es ja ähnlich!“ Und der Tod, der von Dichter* innen des Schlafes Bruder genannt wird – er wurde auch des Tages Bruder, des Alltags Bruder. Ein Weggefährte, der dazugehört, der mitgeht. Leise. Es ist wie nach einem gelungenen Friedensschluss. Und durch all dies hindurch die Ahnung: Da ist eine oder einer, eine innere Vertraute oder ein innerer Unbekannter, die oder der verschafft deinen Grenzen Frieden (vgl. Ps 147). Sanft. Wenn auch du selbst sanft mit dir bist!

Allen Opfern aber bleibt etwas eingebrannt wie ein Tattoo, ein Wundmal. Für die Kirche ist ein Sakrament eine Art Tattoo. Einen character indelebilis, ein unauslöschliches Prägemal nennt sie es. Alles ist wie zuvor, und alles ist anders. Es gibt ein Tattoo „Opfer“, eine furchtbare, eines Tages womöglich dennoch fruchtbare Einführung ins abgründige Geheimnis des Lebens.

Einbruch

Dies also ist die erste Erfahrung: Ich bin an einer Stelle meines Lebens aufgebrochen worden. Fremdes, Unheimliches, Unfassbares ist durch diese Bruchstelle in mein Leben eingebrochen. Für Überlebende eines solchen Einbruchs wohnt das Abgründige nicht mehr bloß außen. Das wäre einfacher. Es wohnt innen. Mit seinen lebenslangen Folgen und Echoeffekten in Leib, Geist und Seele wohnt es innen. Die Konfrontation mit dieser inneren Schwester oder diesem dunklen Bruder und deren wieder und wieder zu erringende Adoption werden zur Lebensaufgabe. Es kann sich zu einer Lebenskunst entwickeln und zu einer wunderbaren Lebensgestalt werden. Sigmund Freud, dem Erich Fromm nach über 50 Jahren psychoanalytischer Praxis zustimmt, vertritt sogar die erstaunliche These, dass die Chancen für die Heilung umso günstiger sind, je größer das Trauma ist. Fromm ist überzeugt: Wenn ein*e Patient*in ein schweres Trauma überlebt, ohne in massiver Weise psychisch krank zu werden, dann zeigt dies, dass sein Kern gesund geblieben und er konstitutionell mit einer großen Stärke ausgestattet ist.

Psycholog*innen und Seelsorger*innen wissen, wie verbreitet und prägend traumatische Erfahrungen sind. Sie wissen, wie unverzichtbar es gerade hier ist, „die Geister zu unterscheiden“, also genau hinzuschauen und hinzuspüren, ob es um eine aktuelle oder eine alte, jetzt unangemessene Angst geht. Gilt es, eine alte Erfahrung langsam doch ins Haus der eigenen Lebensgeschichte aufzunehmen? Wenn ja, wie könnte ich mich unterstützen (lassen), dies zu wagen? Oder aber gilt es, einer aktuellen, realen Gefährdung zu widerstehen?

Eine eigene Überlebenserfahrung will ich hier andeuten: Als Fünfjähriger komme ich ins Krankenhaus. Eine Operation steht an. Weiß nicht, was das ist. Bin Kind. Plötzlich wie in einem Tsunami bin ich hilflos den Mächten und Gewalten anderer Menschen ausgesetzt. Weil das Kind nichts begreift und sich darum wehrt, werden ihm von zwei Personen die Kleider vom Leib gerissen. Zum Röntgen zwingt man es mit Gewalt in eine Dunkelkammer zwischen zwei langsam sich aufeinander zubewegende Wände. Bei der Narkose wird ihm nach verlorenem Kampf die Äther-Maske über Nase und Mund gepresst. In der Erfahrung des Kindes ein Kampf mit tödlichem Ausgang. Als ich wieder wach werde, wundere ich mich, dass ich lebe.

Jahre danach, im Alter von etwa acht Jahren, höre ich am Karfreitag die Leidensgeschichte Jesu. Muss pausenlos weinen. Komm nicht dagegen an. „Jesus, was machen die da mit dir?! Wie grausam können Menschen sein! Und du kannst dich nicht wehren!“ Ich habe Not, meinen Gefühlsausbruch, meinen Tränenstrom zu verbergen. Niemand soll es sehen. Es ist zu intim. Eine subversive Leidensgenossenschaft. Ich bin doch nicht allen fremd und von allen verlassen! Da ist einer, der kennt das…

So geschieht Jahre nach dem überwältigenden Trauma ein erstes Auftauen des eingefrorenen Leides, der verkapselten Lebenswahrheit. Erst als junger Erwachsener verstehe ich dann rückblickend die kindliche Christuserfahrung des Karfreitags: Sie ereignete sich aufgrund der Gewalterfahrungen im Krankenhaus. Diesen biographischen Hintergrund deute ich an, um die Leserin und den Leser zu ermutigen, beim Weiterlesen die eigenen Erfahrungen mitzulesen.

Jede Brucherfahrung ist eine einzige in ihrer Art. Ist sie tief, wird sie bei einschneidenden Veränderungen wieder wach. Bei neuen Brüchen, Anfängen und Übergängen mischt sich die alte Erfahrung wieder ein. Oft sind es diffuse Ängste, übermäßige Sorge, negative Fantasien, die einen Menschen dann überkommen. Diese diffuse Angst, Unruhe und Anspannung, die da auftauchen, waren nach dem oft viele Jahre zurückliegenden Trauma ins Unbewusste abgetaucht. Jetzt, da das Leben aufgewühlt wird wie ein klarer See im Sturm, tauchen die am Grund abgelagerten, schweren, dunklen Lebenspartikel wieder an die Oberfläche und trüben alles ein. Sie sind von gestern, doch jetzt besetzen und trüben sie die Gegenwart. Dies zu erkennen und zu benennen ist schon ein erster Schritt Richtung Befreiung: „Ach, dich kenn ich doch! Du bist die Angst von damals. Aber die habe ich doch längst überwunden.“ Energisch entscheide ich mich, jetzt mein Kopfkino zu verlassen und nicht zum x-ten Mal diesen Horrorfilm zu durchleben. Hier und heute, wo ich älter und weiter bin, macht mir etwas anderes Sorge. Darum geht’s! Dem will ich mich stellen. Ich bin im Jetzt. Ich fühle im Jetzt. Ich denke im Jetzt. In demselben Maße, in dem ich in meinem Geist und allen Sinnen präsent bin, genau in diesem Maße erfahre ich mein Leben als Präsent, als Geschenk!

 

Je größer das erfahrene Trauma, desto größer war auch vermutlich die Not, es verdrängen zu müssen. Das Erlittene erschien unerträglich und wollte nicht noch einmal erlebt werden. Ohne sich dessen bewusst zu sein, entwickelten wir als Kind, als Jugendliche eine enorme seelische Überlebenskunst. Hier wirkt, so habe ich bei mir und bei anderen erfahren, eine verborgene, wunderbare „Weisheit, die beweglicher ist als alle Bewegung. Sie ist ein Hauch der Kraft Gottes“ (Weish 7,24f).

Lebensmitte

Jüdinnen und Juden feiern Jahr für Jahr das sogenannte Laubhüttenfest. Jede jüdische Familie lebt während einer ganzen Woche in einer kleinen Laubhütte, um sich an den Weg des Volkes Israel durch die Wüste zu erinnern. In den Baubestimmungen für diese Hütten heißt es: „Baue die Wände so dünn, dass du die Nachbarn sehen kannst. Und baue das Dach so dünn, dass du die Sterne sehen kannst.“ Wenn wir so fest und undurchlässig bauen, wie wir dies gewohnt sind, dann scheinen früher oder später – wie im Gedicht von Joseph von Eichendorff – die Wände und das Dach über uns zerbrechen zu müssen, damit wir den Himmel und die Nachbarn wieder sehen können:

„Du bist’s, der, was wir bauen,

Mild über uns zerbricht,

Dass wir den Himmel schauen –

Darum so klag’ ich nicht.“2

Oft erst um die Zeit der Lebensmitte, wenn ein Mensch sich in sich selbst und in verlässlichen, persönlichen Beziehungen gefestigt fühlt, drängt das Verdrängte ans Licht des Bewusstseins. Zuerst noch ungeklärt – wann und wie hätte es sich auch klären können? So kommt das Verdrängte verworren und verwirrend ans Licht: diese Krankenhauserfahrung, diese zerbrochene Beziehung, diese falsche oder versäumte Lebensentscheidung. Dies will jetzt (endlich) beachtet und geachtet werden. Die Störmanöver aus dem Unbewussten gehen so lange, bis es vom rational und analytisch agierenden Ich – und meist gegen seinen anfänglichen Widerstand – in die Ganzheit der eigenen Lebensgestalt aufgenommen ist. Zuerst hilft womöglich ein Ritus, ein Bild, eine Geste, eine Gewohnheit, die das Gefühl wecken, doch tiefer als am Trauma wirklich am Leben dran zu sein. Vielleicht kann nun diese innere Berührung geschehen, verstanden zu sein – zuerst einmal von mir selbst, von einer Freundin, einem Freund und womöglich von Gott, dem Freund des Lebens.

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