Volk Gottes

Text
Aus der Reihe: Bonner dogmatische Studien #58
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Belegt man den doppelten Kirchenbegriff Augustins mit den entsprechenden biblischen Leitbegriffen, wird durch Ratzingers Darstellung schon an dieser Stelle deutlich, dass die Kirche als „Leib Christi“ bei Augustinus nur unter der Voraussetzung der äußerlich sichtbaren Kirche als „Volk Gottes“ ihren Ausdruck findet. Beiden Begriffen wendet sich Ratzinger auch mit Blick auf Augustins Spätwerk „De civitate Dei“, das zugleich als Auseinandersetzung mit dem Heidentum gelesen werden kann, vertiefend zu.

Ratzinger beginnt dazu mit einer Betrachtung zur Gemeinschaft des Gottesvolkes. Gegen die Donatisten gewendet wird deutlich, dass „Volk“ nicht einfachhin ein Sammelbegriff für die „Laien“ sein kann, auch wenn sich Augustinus dieser Zuschreibung zuweilen bedient (168). Das Volk steht vielmehr gemeinsam mit seinem Bischof vor Jesus Christus, der allein Mittler des Heiles ist und damit die Rolle des Hohenpriesters einnimmt (160–167).135 „Volk“ ist somit Ausdruck für die gesamte in weltweiter Eucharistiegemeinschaft verbundene Gemeinschaft der Gläubigen (160f). Augustinus verwendet den Ausdruck „Volk“ mit Bezug auf das Gottesvolk des Alten Testaments zunächst als profanen Sachbegriff. Allerdings weist das alttestamentliche Volk bereits bildhaft auf das Kommende hin. Erst die in Christus erlöste Gemeinschaft ist als das wahre „pneumatische“ Gottesvolk zu bestimmen (167f). Da dieses, wie gesehen, nur innerhalb der konkreten Kirchengemeinschaft der Sünder zu finden ist, verweist die Bezeichnung „Volk Gottes“ auf ihre noch ausstehende Vollendung. Erstere ist ein notwendig gegebener Status, unter dem das wahre Gottesvolk in dieser Welt besteht (169).

Der zweite Zentralbegriff, „Haus Gottes“, so ein Ergebnis von Ratzingers Studie, wird von Augustinus nicht als eigenständiger theologischer Topos verwendet (175, 323f). Augustinus deutet das „Haus“ entweder im Sinne der Einwohnung Gottes im Menschen, dessen Tempel der Leib ist, als den auf Christus gegründeten Bau der Kirche136 oder als die liebesgewirkte kirchliche Gemeinschaft (178–183). Es lassen sich sowohl die Gemeinschaft des „Volkes Gottes“, als auch die innerliche Vereinigung der Gläubigen mit Christus im „Leib Christi“ aus dem Bild des „Hauses“ ableiten.137 Ratzinger schreibt: „Haus Gottes meint dies innere Einssein im Christusgeiste, das freilich nicht wird ohne das Einssein im Christusleibe“ (184).

Das tiefere Verständnis von der Kirche als „Leib Christi“ äußert sich in besonderer Weise in der Auseinandersetzung Augustins mit den Heiden, besonders in „De civitate Dei“. Augustinus, so Ratzinger, setzt zunächst den heidnischen Staat und seine Götterwelt dem himmlischen, durch die wahre Liebe in Einheit mit Gott gebildeten Gottesstaat entgegen (191).138 Da die Menschen durch die Sünde den Zugang zu Gott verloren haben, bedarf es eines Mittlers, mit dem sie in einer Kultgemeinschaft verbunden sind, um wieder zu Gott zu gelangen (190–195). Auf dem Weg dorthin liegt der Zwischenraum der Engel und Dämonen. Weil letztere für den wahren Kult nicht in Frage kommen können, da sie den Weg zu Gott verschließen und die Menschen von ihm entfernen wollen, muss der wahre Mittler zwischen den Bereichen stehen und als Gottmensch den wahren Kult und mit ihm die wahre Gemeinschaft mit Gott ermöglichen. Christus, der sich so weit erniedrigt, dass er selbst zum Opfer wird, öffnet den Zugang zu Gott neu (195ff).139 Diese Bewegung Gottes auf die Menschheit zu ist notwendig. In ihr nimmt Gott die Menschheit wieder neu an. Christus trägt die zu ihm gehörende Menschheit in seinem Leib, der Kirche, bereits mit sich ans Kreuz (206, 232f, 244). Die notwendige Einigung mit Christus geschieht im Glauben und bewirkt die Mitteilung seines Geistes, der die „caritas“ hervorbringt (209f, 228f). Der Weg der Einigung mit Christus vollzieht sich nicht individuell, sondern durch das Eingehen in seinen Leib, die Kirche.140 Wo der Leib Christi ist, ist auch sein Geist. Dabei ist, so Ratzinger, der Begriff „Leib Christi“ für Augustinus nicht mystisch, sondern konkret gemeint (324f). Kennzeichen der Gemeinschaft der Kirche ist die eucharistische Gemeinschaft (211, 241ff). Die Teilhabe am Sakrament („sacramentum corporis Christi“) bewirkt die Teilhabe an der Kirche („corpus Christi“) und somit auch am Geist Christi („caritas“) (211). Der Leib Christi ist die sichtbare „ecclesia“, die die Eucharistie feiert. Hierin liegt laut Ratzinger „der eigentlich sachliche Kern von Augustins Kirchenbegriff“ (325). Die Gemeinschaft der Kirche weilt zur Zeit noch in der Fremde der Welt, besteht im „Zelt des Christusleibes“ (239), schreitet Gott aber durch die zunehmende Einheit in der Liebe entgegen (230f). Der vollendete „Leib Christi“ ist der Gottesstaat (215f).141

In einem weiteren Schritt untersucht Ratzinger den Zusammenhang von Volk und Staat im augustinischen Spätwerk. Zunächst stellt er fest, dass im antiken Kontext die „civitas“ immer auch als religiöser Begriff verstanden wird. Die Religion ist „Formalobjekt“ (256) der Gesellschaft. Das soziale Gebilde der Stadt ist Ausdruck der Religion der Gesellschaft (265f). Das Volk, „populus“, wird im römisch-juristischen Sinn als herausgehoben angesehen und kann, so Ratzinger, in Absetzung von den Heidenvölkern, den „populi“, als Heilsgemeinschaft verstanden werden (258, 260). Augustinus entleiht in seinem Spätwerk das Verständnis von „civitas“ neben der alttestamentlichen Tradition (Jerusalem-Babylon als Gegensätze im Grundaufbau von „De civitate Dei“) dem römischen Verständnis. Die „civitas“ ist die „res populi“ (263f, 325). Staat und Volk sind wesentlich identisch (294).142 Die Religion ist Angelegenheit des Staates. Die Spätantike unterscheidet, so Ratzinger, die mystische Religion der Poeten und des einfachen Volkes, die sich in den Göttererzählungen und im Theater niederschlägt, die staatliche Religion des öffentlichen Kultes und die natürliche Religion der Philosophen, die nach tieferer Erkenntnis strebt (269). Während erstgenannte Formen menschengemacht sind und sich auf den Kult beschränken, ohne nach dem höheren Wissen von Gott zu streben, hat die natürliche Religion zwar ein Wissen von der Gottheit, aber keinen Kult (271). Augustinus geht es um eine Verbindung der „Religionsmodi“. Die natürliche Religion muss mit der richtigen kultischen Verehrung Gottes verbunden werden (271ff).

In der Gegenüberstellung der beiden „civitates“ wird dies deutlich: Während die „civitas terrena“, die Augustinus in Ratzingers Lesart mit dem römischen Staat gleichsetzt (276), sich aus der in einer bestimmten Liebe („cupido“) zusammengehaltenen Gemeinschaft heraus ihren Glauben an die Götter schafft und diese kultisch verehrt (290), entsteht die „civitas Dei“ durch göttliche Initiative. Gott, der in die Geschichte eingeht, stiftet selbst den Glauben an ihn und bildet die Gemeinschaft der göttlichen Liebe („caritas“) (275, 288, 290). Im Kult bringt das Gottesvolk in der „civitas Dei“ nicht bestimmte Opfer dar, sondern versteht sich selbst als Opfer. Es wird so in Gott geeint und angenommen (294). Das Gottesvolk ist im Zustand der irdischen Unvollkommenheit und Pilgerschaft für Augustinus identisch mit der Kirche. In der Auseinandersetzung mit der römischen Stadt und der Staatsreligion bildet sich der Gedanke der Kirche als christliche „polis“ und damit als Volk aus (295, 324). Damit zeigt Ratzinger auch für den späten Augustinus das Vorhandensein des zentralen Begriffs des „Volkes Gottes“ als Grundbegriff für die Kirche auf.

Abschließend weist Ratzinger darauf hin, dass die von ihm dargestellten Leitbegriffe „Volk Gottes“ und „Leib Christi“ im Kirchenverständnis des Bischofs von Hippo als einander ergänzend gesehen werden müssen:

„Die Sonderart des Gottesvolkes, seine ‚differentia specifica‘ liegt im corpus-Christi-Begriff beschlossen. ‚Corpus Christi‘ drückt die Seinsweise, die innere Wirklichkeit dessen aus, was mit civitas und populus umgrenzt wird. Die Kirche ist eben das als Leib Christi bestehende Volk Gottes.“ (326f)

1.2.2 Auf dem Weg zum Zweiten Vatikanischen Konzil

Joseph Ratzingers Dissertation steht exemplarisch für eine Entwicklung, die durch ihre veränderte Fragestellung neue Ergebnisse für die systematische Erforschung des Wesens und Auftrags der Kirche hervorbringt. Gerade im Vergleich zur Untersuchung Fritz Hofmanns wird deutlich, wie sich der Horizont hinsichtlich der biblischen Leitbegriffe für die Ekklesiologie erweitert. Ratzinger, der in weiten Teilen zu ähnlichen Ergebnissen wie Hofmann gelangt, geht doch weit über ihn hinaus, indem er die Bedeutung des „Volkes Gottes“ als theologischen Leitgedanken im Werk Augustins herausarbeitet und diesen Gedanken als notwendige Ergänzung dem zentralen Bild vom „Leib Christi“ zur Seite stellt. Mit dem „Volk Gottes“-Begriff erhält die Wirklichkeit der heilsgeschichtlich verankerten, eschatologisch geöffneten und sakramental konstituierten Großgemeinschaft der Kirche ihren angemessenen Ausdruck. Erst innerhalb dieser Gemeinschaft kommt die durchaus ideal gedachte, eucharistisch gebildete innere Liebesgemeinschaft der Christen, die für Augustinus den Kerngedanken der Kirche bildet, zum Tragen.

Der Aufbruch zur vertieften ekklesiologischen Forschung betrifft, wie gesehen, unterschiedliche theologische Disziplinen. Die Impulse der exegetischen und patristischen Forschung, insbesondere hinsichtlich der verstärkten Zuwendung zum Begriff „Volk Gottes“ seit 1945 finden schnell Eingang in die systematische Theologie.143 Der Münchner Dogmatiker Michael Schmaus nimmt die „seit 1940 völlig verändert[e]“144 ekklesiologische Lage zum Anlass zur Neubearbeitung seiner „Katholischen Dogmatik“ und ordnet in deren zweitem Hauptabschnitt zum „gottmenschlichen Gepräge der Kirche“ ein erstes Kapitel zur „Kirche als Volk Gottes“ dem Kapitel zu „Leib Christi“ vor.145 Schmaus nimmt die Argumentation Kosters auf, wenn er den Vorzug des „Volk Gottes“-Begriffs mit dessen vorrangiger Verwendung in den liturgischen Texten als Teil der ordentlichen kirchlichen Lehrverkündigung begründet.146 Die exegetischen Forschungsergebnisse insbesondere von Dahl fließen in seine Darstellung ebenso ein147, wie eine ausführliche Würdigung Arbeit Ratzingers148 für den Bereich der Patristik.

 

Zum gleichen Zeitpunkt wird die Ekklesiologie zu einem Schwerpunktthema des ökumenischen Dialogs. Nachdem der Ökumenische Rat der Kirchen bereits in seiner ersten Vollversammlung in Amsterdam 1948 über die Natur der Kirche und ihren heilsgeschichtlichen Ort beraten hatte149, vertieft die Versammlung von Evanston 1954 den ekklesiologischen Diskurs unter dem Titel „Christus und sein Volk“. Dabei geht es um die heilsgeschichtliche Sicht des Christusereignisses und die Rolle der Gläubigen bei der Mitwirkung am Plan Gottes. Die Kirche wird als „Volk Gottes“ und zugleich Instrument Gottes in der Geschichte, sowie erste Verwirklichung des Reiches Gottes verstanden.150

Ohne den Überblick über die Rezeption des Begriffes „Volk Gottes“ in der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil an dieser Stelle ausführlicher fortsetzen zu können151, wird doch deutlich, dass sich dieses ekklesiologische Leitwort neben dem weiterhin beherrschenden Zentralbegriff „Leib Christi“152 zunehmend etabliert, so dass Valeske 1962 diesbezüglich von „einer neuen theologischen Mode“153 sprechen kann.154 Ob Kosters Beitrag zu dieser Entwicklung nun den alleinigen Anlass gegeben hat oder nicht, kann hier nicht abschließend bewertet werden.155 In jedem Fall findet sein energischer Zwischenruf zugunsten des „Volkes Gottes“ ein nachhaltiges Echo.156 Zusammen mit der ebenfalls weiter entwickelten Lehre von der Kirche als Sakrament157, deren Einfluss für die Kirchenkonstitution des Konzils maßgebend sein wird und vielleicht dem vom Koster erwarteten endgültigen „theologischen Begriff“ von der Kirche am nächsten kommt158, nimmt die „Ekklesiologie im Werden“ der Jahre 1940 bis 1964 zunehmend Gestalt an.

Die bisher dargestellte Entwicklung lässt sich kurzgefasst so zusammenfassen: Die in den Jugendbewegungen auf das innere Erleben des „Leibes Christi“ ausgelegte teilweise schwärmerische Begeisterung fordert die Theologie zu einer vertieften Reflexion über das Wesen der Kirche heraus. In dieser Auseinandersetzung, im Ringen um eine umfassende Beschreibung der Kirche, entstehen die zentralen ekklesiologischen Leitideen, die später auf dem Konzil ihre kirchenoffizielle Anerkennung finden werden. Joseph Ratzinger bietet dazu die folgende systematische Übersicht zum Aufbruch der vorkonziliaren Ekklesiologie an159:

Die Entdeckung des ekklesiologischen Paradigmas vom „mystischen Leib Christi“ bewirkt eine erneute christologische Fundierung der Kirche. Sie führt aus einer rein organisatorisch-hierarchischen Betrachtungsweise heraus. Mit der Betonung der Innerlichkeit, der gnadenhaftsakramentalen Dimension der Kirche, wird zugleich auch das Moment der christlichen Gemeinschaft als Konstitutivum des kirchlichen Lebens herausgestellt. Die Kirche ist immer ein „Wir“ (259ff).

Mit der „Leib Christi “-Ekklesiologie steigt die Aufmerksamkeit für die grundlegende Bedeutung der Eucharistiefeier als Herzstück des kirchlichen Handelns. Die Kirche ist dort, wo die Eucharistie gefeiert wird. Organisatorisch gewendet führt dies zu einem Nachdenken über das Ortsprinzip der Kirche. Die katholische Kirche ist dort in höchster Form verwirklicht, wo sie mit Christus im Sakrament verbunden ist (262–269).

Der „Leib Christi“-Gedanke birgt als alleiniger Kirchenbegriff gewisse Probleme, die theologisch bearbeitet werden müssen. Zum ersten klärt er das Innen/Außen-Verhältnis der Kirche nicht richtig. Bei aller Vertiefung des innerlich-gnadenhaften Aspekte der Kirche droht die äußerliche und gesellschaftliche Seite der Kirche vernachlässigt zu werden. Zum zweiten kann die Kirche als „Leib Christi“ zu stark mit Christus selbst identifiziert zu werden. Die Kirche wäre in einer übertriebenen Analogie gedacht so etwas wie der in der Geschichte fortlebende Christus. Es ist für die Ekklesiologie also notwendig, den Abstand zwischen Christus und der Kirche zu betonen, damit auch ihre geschichtliche, teilweise auch fehlbare Beschaffenheit und Wandelbarkeit. Zum dritten stellt sich das Problem der Gliedschaft. Wenn die katholische Kirche „Leib Christi“ ist und die Gliedschaft durch sakramentale und organisatorische Einbindung verwirklicht wird, gibt es für die Nicht-Katholiken keine Möglichkeit, an der Kirche zu partizipieren. Gerade unter dem ökumenischen Gesichtspunkt wird also eine ekklesiologische Grundlegung nötig, welche das Verhältnis zwischen Katholiken und Nicht-Katholiken angemessen zum Ausdruck bringen kann (269–272).

Gerade die zuletzt beschriebenen Defizite der „Leib Christi“-Ekklesiologie sind Anlass für die Suche nach alternativen Begriffen, um die kirchliche Realität zu beschreiben. Im Zuge der ab den 1940er Jahren einsetzenden theologischen Reflexion etablieren sich so die für das Konzil neben dem „Leib Christi“-Begriff prägenden kirchlichen Leitmetaphern, insbesondere „Sakrament“ und „Volk Gottes“. Zur Etablierung des „Volk Gottes“-Begriffs in der Diskussion des Konzils erweist sich neben den systematischen ekklesiologischen Neuansätzen eine zweite theologische Streitfrage der Nachkriegszeit als treibende Kraft. Hierzu ist ein Blick nach Frankreich und Belgien nötig, der zugleich einige der entscheidenden Protagonisten der Textgeschichte der Kirchenkonstitution vorstellt.

1.3 Ein Blick nach Frankreich und Belgien: Die Laienfrage

Jean Daniélou skizziert 1946 in einem Artikel die aus seiner Sicht maßgeblichen theologischen Herausforderungen seiner Zeit:160 Der Modernismus und die mit ihm einhergehende zunehmende atheistische Weltanschauung fordern die Kirche als ganze und die Theologie im Besonderen heraus (101, 103). Um die entstehende Kluft zwischen Glauben und Leben in der Welt zu überbrücken, muss sich die Theologie aus den festen Mauern des scholastischen Denkens herausbegeben und zugleich der Versuchung einer rationalistischen, seelenlosen Theologie widerstehen (101f). Eine Neubelebung erwächst, so Daniélou, aus der Rückkehr zu den biblischen, patristischen und liturgischen Quellen des Glaubens (105–111). Insbesondere die Patristik entdeckt dabei die Bedeutung der Geschichte als Heilsgeschichte der Verwirklichung des göttlichen Heilsplans zur Erlösung und Erneuerung der gesamten Welt neu. Damit wird sie für das zeitgemäße philosophische Denken und seine zentrale Kategorie „Geschichte“ anschlussfähig (108). Zudem dringt, etwa bei den Kirchenvätern des Ostens, die gemeinschaftliche, soziale Dimension des Glaubens wieder stärker in das Bewusstsein (109). Letztlich versuchen die Laienbewegungen der Katholischen Aktion, der liturgischen und biblischen Bewegung verstärkt, die Verbindung zwischen Glauben und Leben, Lehre und Praxis zu knüpfen (109ff). Eine weitere Herausforderung der Theologie besteht in der Auseinandersetzung mit der modernen Philosophie in ihrer wissenschaftlichen, u.a. auch marxistischen sowie existenzialistischen Ausrichtung (113f). Die Verknüpfungsleistungen großer christlicher Denker wie Kierkegaard, Marcel oder Teilhard de Chardin sind dabei von besonderer Bedeutung (114f). Die dritte Herausforderung besteht in der theologischen Beschreibung des Wirkens der Christen in der modernen Welt (122). Die Entwicklung einer zeitgemäßen Spiritualität, die modernes Lebensgefühl und Glauben miteinander verbindet, gehört genauso wie eine Neubewertung der Rolle der Laien zu den vordringlichen Fragen der Zeit (122f) Zudem stellt sich die Frage, wie sich das Christentum auch in andere Kulturen inkarnieren kann, eine Frage, die zeitgenössische missionarische Strömungen aufwerfen (123f).

Mit diesem Panorama der aktuellen Herausforderungen umreißt Daniélou die Methodik eines neuen Stils der Theologie, der sich ab den 1930er Jahren in Frankreich langsam und z.T. unter argwöhnischer Beobachtung durch das Lehramt etabliert. Diese „nouvelle théologie“ zeichnet aus: die kritische Auseinandersetzung mit dem Neuthomismus, mit der modernen Philosophie und den anderen christlichen Konfessionen, die Wiederbelebung des (heils-)geschichtlichen Denkens, die Erforschung der biblischen, patristischen und mittelalterlichen Quellen des Glaubens.161 Die „neue Theologie“ etabliert sich vor allem an zwei Orten: Im jesuitischen Scholastikat Fourvière bei Lyon lehren und lernen etwa Henri de Lubac, Jean Daniélou und Hans Urs von Balthasar, in der Dominikanerhochschule von Le Saulchoir (zunächst in Kain-lez-Tournai, Belgien, ab 1937 in der Nähe von Paris) u.a. Marie-Dominique Chenu, Henri-Marie Féret und Yves Congar.162 Zu einem weiteren Ort der theologischen Erneuerung entwickelt sich nach dem 2. Weltkrieg zudem die Katholische Universität Löwen in Belgien. Léon-Joseph Suenens, der spätere Erzbischof von Mechelen, übernimmt 1940 das Amt des Vize-Rektors der Universität.163 In seiner Amtszeit, die zur Besatzungszeit eher politisch orientiert ist, bildet er einen theologischen Zirkel, zu dem u.a. Lucien Cerfaux164, Gerard Philips und Gustave Thils gehören.165 Zusammen mit Suenens’ Studienfreunden André Charue und Emile De Smendt, den späteren Bischöfen von Namur und Brügge wird diese belgische Gruppe entscheidenden Einfluss auf die Entstehung der Kirchenkonstitution und die Verankerung des „Volk Gottes“-Begriffs in ihr nehmen.

Ohne an dieser Stelle näher auf die Leistungen der Hauptvertreter der „nouvelle théologie“ im ekklesiologischen Diskurs der Vorkonzilszeit einzugehen166, kann der Stand der Forschung Ende der 50er Jahre, Gustave Thils folgend, in dieser Weise zusammengefasst werden167: Die Ekklesiologie profitiert von der Erschließung der theologischen Grundlagen und vom ökumenischen Dialog (94). Sie überwindet so ihren seit der Reformation kultivierten apologetischen Grundton und konzentriert sich auf zwei Schwerpunkte: die innere, gnadenhafte Dimension der Kirche und ihre gemeinschaftliche, soziale Dimension. In diesem Zusammenhang stehen auch das hierarchische Amt und die sichtbare Struktur der Kirche in der Diskussion (95). „Leib Christi“ gilt als bevorzugte Lehrformel einer ganzen Generation, da sie etwa die Verbindung Christi und der Kirche beschreibt und zu einer Neubewertung des Beitrags aller Glieder des Leibes, also auch der Laien, anregt (96). Daneben hat sich in der systematischen Betrachtung der Kirche eine eher biblisch und geistlich inspirierte Ekklesiologie unter dem Leitmotiv des „Reiches Gottes“ etabliert (96f). Deutlich tritt jedoch auch die Lehre vom „Volk Gottes“ hervor, die „zur thematischen Synthese der zweiten Hälfte des Jahrhunderts werden könnte“ (96). Der Begriff ist, so Thils, deshalb geeignet, weil er biblisch begründet ist, die sichtbare Seite der Kirche betont und zudem den heilsgeschichtlichen Charakter der Kirche hervorhebt. Darüber hinaus lässt sich mit ihm auch die aktive Teilnahme aller Gläubigen gut bestimmen (96). Es dürfte allerdings, so die Einschätzung des belgischen Theologen, schwierig werden, die Ekklesiologie von einem biblischen Begriff alleine aus aufzubauen. Möglicherweise bietet sich seiner Ansicht nach das theologische Konzept der „Sakramentalität“ für eine theologische Synthese an (97), außerdem sind die Universalität, Katholizität und die missionarische Sendung der Kirche unter den Bedingungen der modernen Welt neu zu bedenken (97ff).

In dieser kurzen Zusammenfassung zeigt sich die Aufnahme und Weiterentwicklung der ekklesiologischen Diskussion seit den 40er Jahren, wie sie sich im französischen Sprachraum darstellt. Thils, der in der Lehre von der Kirche die zentrale theologische Frage des 20. Jahrhunderts sieht, verweist jedoch, ähnlich wie Daniélou, auf die Notwendigkeit einer Ergänzung der Ekklesiologie durch die christliche Anthropologie. So ist die Frage nach der Bedeutung des einzelnen Gläubigen für ihn von zentraler Bedeutung (113): Man könne in der Diskussion der sichtbaren Seite der Kirche nicht beim hierarchischen Amt stehenbleiben, sondern müsse den Ort und die Bedeutung aller Getauften bestimmen. So gehe es um die Neubewertung des Sakraments der Taufe, das Priestertum der Gläubigen, die tätige Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie und den Weltbezug des Menschen (113). Das Laientum und die Suche nach einer Theologie des Laientums spielt insbesondere im französischsprachigen Raum eine herausragende Rolle und wird für die spätere Erarbeitung von „Lumen gentium“ von entscheidender Bedeutung sein.

 

1.3.1 Theologie des Laientums

Ähnlich wie in Deutschland die Jugendbewegung und die liturgische Bewegung Ausgangspunkte einer erneuerten Ekklesiologie sind, ist dies für Frankreich und Belgien die Katholische Aktion. Diese maßgeblich durch Pius XI. geförderte Bewegung hatte das Ziel, die katholischen Laien zum aktiven Glaubenszeugnis in allen Bereichen der modernen Welt zu ermutigen.168 Unter dem Dachverband der „Französischen Katholischen Aktion“ finden sich in den 1950er Jahren ca. 80 verschiedene Verbände, unter denen vor allem die Jugendverbände an Mitgliederzahl und Bedeutung herausragen.169 Zu ihrem Programm gehören die geistliche Vertiefung durch das Evangelium, die Einladung zu einer innerlichen Spiritualität, die Liebe zur Kirche und das soziale Engagement.170 Im Bemühen, Glauben und Leben zusammenzusehen und aktiv an der modernen Welt teilzuhaben, entsteht zum einen das Bedürfnis nach einer angemessenen Laienspiritualität, zum anderen ein neues Selbstbewusstsein der Laien. Am Prinzip der Leitung der Katholischen Aktion durch den Klerus, die in den Mitgliedern eher Helferinnen und Helfer der Bischöfe und Priester sieht, entzündet sich zunehmend Kritik.171 Deutlich artikuliert diese etwa Hans Urs von Balthasar, wenn er die Grundidee der Katholischen Aktion als Verlängerung der Hierarchie in die Welt hinein bezeichnet.172 Eine äußerliche Delegation der Laien reiche nicht aus. Vielmehr müssten diese einen neuen mitverantwortlichen Ort in der Kirche finden, der sich etwa vom „allgemeinen Priestertum“ ableiten lässt.173 Gegen das Bild des Priesters als Fachmann in Glaubensfragen und des Laien als Fachmann in Fragen der Welt setzt Balthasar die Forderung nach einer Glaubensvertiefung und kontemplativen Befähigung der Laien, damit sie durch ihre persönliche Heiligkeit wirksam in der Welt tätig sein können.174 Es geht ihm um ein Aufbrechen einer klerikalen Verengung der Kirche, um ein „Anrücken gegen Westen, gegen Rom des Eisernen Vorhangs, hinter welchem die Kirche als klerikale Institution unerbittlich vernichtet wird.“175 1954 attestiert von Balthasar „die Stunde der Laien“, die sich im Aufbruch der katholischen Bewegungen und in der Entstehung der geistlichen Laiengemeinschaften zeige.176 Eine neue Form des christlichen Apostolats formiere sich, durch das sich die Kirche neu in der Welt inkarnieren könne. Dazu müsse sie bereit sein, ihren Standort zu ändern, die Bastionen zu schleifen und in die sich ständig wandelnde Welt hinauszutreten.177 Die Laien übernehmen dabei eine wichtige Rolle. Sie verkörpern, so Balthasar, in ihrem Glauben und Engagement gewissermaßen die marianische Dimension der Kirche (Gehorsam gegenüber Christus, Heiligung, innerliche Spiritualität) gegenüber der petrinischen (hierarchisch, gesellschaftlich strukturiert).178

Ein bedeutender Förderer einer in diesem Sinn erneuerten Laienspiritualität179 und Vertiefung der apostolischen Sendung der Laien ist Kardinal Suenens. Schon in seiner Zeit als Vizerektor in Löwen gründet er das „Institut supérior des sciences religieuses“ zur theologischen Ausbildung der Laien, dessen Leiter Lucien Cerfaux wird. Gustave Thils und Charles Moeller gehören zu den ersten Dozenten.180 Suenens nähert sich in seiner Zeit als Weihbischof von Mechelen der Laienbewegung „Legio Mariae“ an, die sich durch ihr Apostolat an den Rändern der Gesellschaft auszeichnet.181 Er bemüht sich um die Förderung der Legio in Belgien und verfasst auf Bitten führender Vertreter der Bewegung182 eine theologische Grundlegung ihrer Tätigkeit, in der er neu die Bedeutung des Heiligen Geistes für die Kirche und das lebendige Apostolat der Gläubigen hervorhebt.183 1956 erscheint „L’Eglise en état de mission“, eine Ermutigung zur Neuverkündigung des Evangeliums unter den Bedingungen der modernen Welt.184 In diesem Werk geht es u.a. um die Notwendigkeit des Apostolats von Priestern und Laien auf der Basis des gemeinsamen Priestertums und ihrer gemeinsamen Gliedschaft im „Leib Christi“.185 Als Getaufte, Gläubige und von Gott Berufene seien, so Suenens, alle Glieder der Kirche in das Verkündigungshandeln der Kirche gleichermaßen einzubeziehen.186 Ein Itinerar zeitgemäßer Laien-Spiritualität entwickelt Kardinal Suenens in einer Serie von Radioansprachen aus dem Jahr 1961. Ein gemeinschaftlich gelebtes Christentum von Priestern und Laien wird für die Zukunft der Kirche entscheidend sein:

„Das Neue auf dem Gebiet des Apostolates ist die Organisation der ganzen Laienwelt für den Dienst der sichtbaren Ausbreitung des Gottesreiches […] In jedem Christen schlummert die Fähigkeit, ein Vollchrist zu werden. Sie muss aufgeweckt, gestützt, eingereiht werden.“187

Das Priestertum aller Gläubigen und das der Priester müssen sich im apostolischen und missionarischen Wirken ergänzen.188

Die Laienfrage entwickelt sich in den 1950er Jahren zum beherrschenden theologischen Thema.189 Eine von der Universität Mailand zusammengestellte Bibliographie verzeichnet zur Laienfrage im Zeitraum zwischen 1929 und 1957 über 2000 Titel von Monographien und Aufsätzen.190 Von besonderem Studieninteresse sind dabei das „Priestertum der Gläubigen“, Spiritualität und Apostolat der Gläubigen, die Frage des Laientums in den Missionsgebieten und die Struktur und Ausrichtung der Katholischen Aktion.191 Die Wiederentdeckung der Laien als eigenständige Träger der apostolischen und missionarischen Bemühungen der Kirche schlägt sich in der Erarbeitung einer Theologie des Laientums nieder. Deren herausragende Beispiele sind Yves Congars „Der Laie (Jalons pour une théologie du laïcat)“ von 1952 und Gerard Philips „Der Laie in der Kirche (Le rôle du laïcat dans l’eglise)“ von 1954.192 Letzteres Werk soll an dieser Stelle zusammenfassend vorgestellt werden:

Philips’ Ziel ist die Überwindung von Klerikalismus und Laizisimus und die Etablierung eines neuen Kirchenverständnisses, das sich auch am ökumenischen Dialog ausrichtet.193 Hierzu skizziert er zunächst die aktuelle Situation als die einer weitgehenden Entchristlichung (9), wie sie die moderne Religionssoziologie beschreibt (10). Der Laie soll angesichts dessen nicht aus Verzweiflung die Aufgaben des Klerus übernehmen. Es geht um ein Wiedererwachen des Laientums als eigene Größe (10f). Laien sind keine passiven Objekte, sondern lebendige Glieder der Heilsgemeinschaft. In der Vertiefung ihrer Sendung liegt der Anfang für einen „Durchbruch zu einem ursprünglicheren Christentum, dem Christentum der Offenbarung im Gegensatz zur Pseudoreligion der Aufklärung und Romantik“ (11). Der Neuaufbruch nach dem 1. Weltkrieg in der Katholischen Aktion bringt auch einen Neuaufbruch des missionarischen Geistes, zu dem auch die liturgische Bewegung, sowie der ökumenische Dialog beitragen (12f). Allgemein attestiert Philips bei seinen Zeitgenossen ein Misstrauen gegen Rom: Versucht man nicht, die Herde möglichst in Abhängigkeit und Unterwürfigkeit der Hirten zu halten (13)? Dagegen wendet Philips ein, dass wichtige Impulse von der Hierarchie selbst ausgegangen sind. So bezeichnet etwa Pius XII. in einer Ansprache am 20. Februar 1946 die Laien als die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen (15). Der Klerus, so Philips weiter, ist herausgefordert, die Einheit in der Verschiedenheit gewährleisten und darf sich nicht als Zwischeninstanz verstehen (15). Die Laien (abgeleitet von „λαος“) sind alttestamentlich Mitglieder des Bundesvolkes, im neuen Bund Teile des erwählten Volkes aus Juden und Heiden. Den Ehrennamen Israels übernimmt die Kirche als „auserwählter Stamm, heilige Priesterschaft“ (1 Petr 2,9). Von Anfang an gliedert sich dieses Volk in verschiedene „Rangstufen“ (24). In der Unterscheidung von Priestern und Laien nimmt das Wort „Laie“ schon im späten Altertum die Bedeutung von „Regiertem, Untergebenen“ an (25). Philips räumt ein, dass die Theologie sich bislang nicht viel um die „Laien“ gekümmert habe (25). Die häufig antiprotestantisch ausgerichtete Lehrtradition der Kirche habe zu einer Verengung auf die Lehre von der Hierarchie geführt (30). Zudem sei es zu Konfusionen mit dem Ordensleben gekommen, das sich als eigener Stand etabliert hat. Um das Laientum besser abzugrenzen, schlägt Philips vor, die Laien von ihrer Hinordnung auf den Weltdienst zu verstehen (27): „Die Laien haben den Auftrag, sich durch ihre Arbeit in der Welt zu heiligen“ (28).