Volk Gottes

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Aus der Reihe: Bonner dogmatische Studien #58
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Nach diesen grundsätzlichen Erwägungen zu den Voraussetzungen einer neuen Ekklesiologie beobachtet Koster im dritten Teil seiner Schrift Bewegungen, die zu einer in seinem Sinne theologischen Neubestimmung der Kirche führen können. Dabei erkennt er in der zeitgenössischen Forschung drei wesentliche „Erscheinungen“.

Die erste Erscheinung ist das Vorhandensein verschiedener Ansätze zur theologischen Wesensbestimmung der Kirche (100), die sich in der theologischen Debatte der Zeit in vier Grundformen finden: Eine erste, radikale Position besteht dabei in der Ablehnung eines solchen Unterfangens aufgrund der prinzipiellen Unmöglichkeit, ein Mysterium in einem formalen Begriff zu fassen (101). Koster weist eine solche Position unter Eingeständnis der analogen Sprechweise für alle theologischen Aussagen zurück. Die hier geäußerte Sichtweise der Kirche als reinem Mysterium entspricht nicht ihrem Wesen. Nach Kosters Meinung wird an dieser Stelle die eben auch konkrete Kirche in ihrer Geheimnishaftigkeit mit Christus bzw. dem göttlichen Geheimnis gleichgesetzt (103ff). Eine zweite Position wird von Koster als „theologischer Agnostizismus“ bezeichnet. Hier wird die Kirche ebenfalls als so geheimnishaft angesehen, dass die biblische, bildliche Sprache nicht an das eigentliche Mysterium heranreicht (105). Die Bestimmung der Kirche bleibt somit bei Bildern oder „Analogaten“ und damit in einem vortheologischen Stadium stehen (106). Höchster Ausdruck der Analogie ist dann der „Leib Christi“-Begriff, der als Ersatz für eine fehlende Wesensdefinition genommen wird (107). Koster wendet sich gegen die Beschränkung auf eine reine Begriffssammlung, die sich aus der Bibel und der Vätertheologie speist (107). Abgesehen davon, dass Kirchenväterzitate nicht wie in einem Parlament versammelt werden können, um in ihren Aussagen mehr Gewicht zu geben, gilt auch für diese frühen Theologen der Maßstab der lehramtlichen Verkündigung (108f). Auch die Väter müssen nach ihrer theologischen Argumentation beurteilt werden, nicht nach ihrer persönlichen Autorität oder Heiligkeit (109ff). Ebenso wendet sich Koster gegen eine Lesart, die verschiedene Begriffe dialektisch miteinander in Beziehung setzt, ohne jedoch eine Entscheidung zur Auffindung eines umfassenden Verständnisses der Kirche zu treffen (112). Eine weitere Fehlform besteht in der schnellen Synthetisierung der verschiedenen Metaphern zur Beschreibung der Kirche unter den Begriff „Leib Christi“ (113).

Der dritte Ansatz besteht in einer Festlegung auf den Begriff des „Leibes Christi“ als umfassende Wesensbestimmung der Kirche (114). Gegen diese Sichtweise hatte Koster im ersten Teil seiner Streitschrift bereits zahlreiche Gründe angeführt. Er betont noch einmal die Einseitigkeit und die schwierige Geschichte des Begriffs (117) und verweist auf die Häufigkeit des „Volk Gottes“- Begriffs im biblischen, lehramtlichen und liturgischen Zeugnis der Kirche (115). Gegen das Theologenschema zur Kirchenkonstitution des I. Vatikanischen Konzils weist Koster darauf hin, dass es sich bei „Leib Christi“ keineswegs um die häufigste und genaueste Bezeichnung für die Kirche handelt (114f). Aus einer ursprünglichen Beschreibung der Kirche sei, so Koster, mittlerweile ihre Wesensbestimmung geworden (116, 122). Zahlreiche Bischöfe hätten daher noch auf dem Konzil gegen eine solche Verwendung des Begriffes eingewandt, dass in ihm die sichtbare Seite der Kirche zugunsten der mystischen Seite nahezu verschwinden würde (116). Koster weist zudem auf die Wandlungen hin, die der Begriff im Laufe der Kirchengschichte genommen hat, und dessen genaue Bedeutung wieder in die Diskussion geraten ist (117f). „Leib Christi“ nimmt in der aktuelle Verwendung eher ein emotionales Verständnis der Kirche auf. Koster beobachtet zudem, dass der Begriff in seiner Unschärfe zu allen möglichen Zwecken für oder gegen die Kirche verwendet wird. Er verkommt zu einem Schlagwort, das sowohl den Verteidigern der Kirche als auch ihren Kritikern dient (118f).81 Auch aus diesem Grund erweist sich „Leib Christi“ zur Wesensbestimmung der Kirche als untauglich (119) und erscheint weniger als Frucht nüchterner theologischer Überlegung denn als reine „Festsetzung“ (121f).

Die vierte von Koster angeführte Position hält eine theologische Wesensbestimmung der Kirche für möglich. Mit Berufung auf einen Artikel von Johannes Brinktrine82 nennt Koster die dort vorgelegten Ansatzpunkte, die Kirche von der Taufe, von den „notae ecclesiae“ und den kirchlichen Funktionen und Tätigkeiten her zu verstehen. Zugleich sieht er dieses Vorgehen noch als defizitär an. Am Beginn jeder Ekklesiologie muss die Bestimmung des Wesens der Kirche stehen (123f).

Die zweite der von Koster ausgemachten Erscheinungen der zeitgenössischen Ekklesiologie ist die „Stoffverkürzung“. Er diagnostiziert eine Verengung der Ekklesiologie auf bestimmte Spezialfragen und Einzelbetrachtungen, die häufig mit der Rede vom „Leib Christi“ zusammenhängen (129f). Allzu sehr fehlt Koster die Berücksichtigung der gemeinschaftlichen, sowie der ordnungsmäßigen, äußeren Seite der Kirche (126f). Hier geht es dem Autor weniger um die Beschreibung einzelner Bestandteile kirchlichen Handelns, als um eine Gesamtsicht der Kirche, die sich aus der Begnadung und Befähigung der handelnden Personen in ihren „Charakteren und Charismen“(127)83 heraus konstituiert. Die defizitäre Behandlung dieser Grundlage für das Leben der Kirche ist ein Versäumnis der von Koster angeprangerten „Ideologie des begnadeten Einzelmenschen“ in der zeitgenössischen Ekklesiologie (132). Es wird nicht gesehen, „wie die Kirche zuallererst die Gemeinschaft für den sozialen unveränderlichen Kult des Priestertums Christi ist, der erst in Hinsicht auf den Einzelnen und unter der Voraussetzung der rechten sittlichen Disposition beim ihm heilsvermittelnd sein kann, aber nicht muss“ (132). Dabei ist mit Blick auf die lehramtlichen Verlautbarungen der Gemeinschafts- und Volkscharakter der Kirche in besonderer Weise betont (128f).

Die dritte Erscheinung sind für Koster die methodischen Mängel. Seiner Ansicht nach wird die Ekklesiologie seiner Tage hauptsächlich von seelsorglich aktiven Priestern getragen, die von einem hohen kirchlichen, aber eher anti-institutionellen und anti-scholastischen Standpunkt aus ihre Gedanken zur Kirche entwickeln (135). Weniger die Theologie, als vielmehr die Liturgie als aktives Tun der Kirche steht dabei im Vordergrund, so dass das vertiefte Nahdenken über Wesen und Grundlagen der Kirche in den Hintergrund tritt (136ff). Koster sieht hier einen eher seelsorglich-aktivistischen Zug der Ekklesiologie, gegenüber dem eine „kontemplative“ Betrachtung zurücksteht (141). Er schreibt: „Hier an diesem Punkte stoßen zwei Grundanschauungen und zwei Grundaffekte aufeinander: der neuplatonisch-augustinisch-personalistische und der biblisch-kollektiv-sozial-kritische […]“ (140).

Im Ergebnis konstatiert Koster, dass eine eigentliche Ekklesiologie im Rückgriff auf die kirchliche Tradition noch aussteht (142). Hierzu gehört methodisch ein Ausgehen von der zeitgemäßen „ordentlichen“ Verkündigung, d.h. für Koster von den offiziellen Texten der Liturgie, in denen der Begriff des „Volkes Gottes“ die häufigste Bezeichnung für die Kirche ist (143). Dieser Begriff zeigt das Geheimnis der Kirche „in der deutlichsten und bildlosesten Fassung“ (143). Koster erkennt in ihm einen Sachbegriff und mehr als ein bloßes Bild, wie er es in der meist einseitig augustinisch gelesenen „Leib Christi“-Theologie seiner Zeit findet (145). Daher ist bei einer Neubeschreibung der Ekklesiologie unbedingt vom Begriff „Volk Gottes“ auszugehen (145, 148). „‚Volk Gottes‘ bringt aus sich und sofort die Kirche als Gemeinschaft zum Bewusstsein“ (146) und damit die menschliche Dimension. Zudem orientiert sich die Bezeichnung heilsgeschichtlich am „Volk Gottes“ des Alten Testamentes und ist von dort her schon legitimiert (146f). Diese heilsgeschichtliche Analogie wird Kosters Ansicht nach in der zeitgenössischen Theologie zu häufig übersehen (151). Koster hat somit den theologischen Grundbegriff gefunden, von dem her alle anderen analogen, bildhaften Aussagen über die Kirche ihren Ausgangspunkt nehmen müssen (147f). Es gibt nichts, was diesem Begriff vorausliegt (152). Die anderen biblischen Bezeichnungen wie „Familie Gottes“, „Leib Christi“ oder „Braut Christi“ müssen von diesem Leitbegriff, und damit vom Einbezug der gemeinschaftlichen Dimension der Kirche her bestimmt werden (141). Die Kirche ist keine übernatürliche Person, kein Christuskörper, sondern eine übernatürlich bewirkte Körperschaft (150). Im Begriff der „Braut Christi“ kommt die personal Verschiedenheit Christi und seiner Kirche in besonderer Weise zum Ausdruck (151). Die Kirche ist „freierwähltes, personenhaftes, messianisch-priesterlich beschenktes Werkzeug in Dienst des Heilswirkens Christi“ (151) und zudem erstes Ergebnis seines Heilswirkens (151).

Ist „Volk Gottes“ der Ausgangspunkt einer neuen Ekklesiologie, so ist das Ziel der „theologische Begriff“ der Kirche. „Volk Gottes“ und theologischer Begriff sind nicht notwendigerweise identisch (156).

Fasst man die Argumentation Kosters kurz zusammen, sprechen bei ihm folgende Argumente für den „Volk Gottes“-Begriff als ekklesiologische Leitmetapher: 1. „Volk Gottes“ bringt die gemeinschaftliche und die gesellschaftliche Seite der Kirche zum Ausdruck. 2. Damit regt der Begriff dazu an, die Binnendifferenzierung hinsichtlich des Auftrags und Apostolats der Kirchenmitglieder in Bezug auf ihren „sakramentalen Charakter“ besser zu definieren (der hiermit verbundene Begriff des „gemeinsamen Priestertums“ wird von Koster nicht ausdrücklich reflektiert). 3. Der „Volk Gottes“-Begriff ermöglicht eine differenzierte Bestimmung der gestuften Zugehörigkeit zur Kirche. 4. Der Begriff betont den Abstand zwischen Gott und der Kirche.

 

1.1.3 Zur Diskussion um Kosters ekklesiologischen Ansatz

Die ausführliche Darstellung von „Ekklesiologie im Werden“ zeigt das Anliegen und die vielschichtige Argumentation Kosters deutlich auf. Der Vorwurf, Koster würde in der Konzentration auf das Kirchenrecht und den Aufbau der kirchlichen „Gesellschaft“ eine juridische Sicht des Volkes Gottes entwerfen und die heilsgeschichtliche Dynamik des Begriffes vernachlässigen84, trifft nicht zu. Ebenso wenig darf man vermuten, Koster sei in Wirklichkeit ein verkappter Vertreter einer überkommenen apologetischen Ekklesiologie, da er die Kirche als „Volk Gottes“ nicht von ihrem inneren Geheimnis, sondern von ihrem durch Amt und sakramentale Charaktere aufgebauten Gesellschaftswesen betrachte.85 Beide Vorwürfe zeigen Schwächen der Argumentation Kosters auf, würdigen aber nicht die Intention seiner Schrift. Koster beansprucht, wie gesehen, nicht, eine vollständige und geschlossene Ekklesiologie vorzulegen. Es geht ihm darum, die Einseitigkeiten bestehender ekklesiologischer Ansätze aufzuzeigen: sowohl des apologetischen, des liturgisch motivierten, wie auch des systematischen einer „Leib Christi“-Theologie. Er öffnet durch den Verweis auf die Gesamttradition der Kirche, die sich in ihren biblischen, liturgischen, rechtlichen Quellen, wie auch bei den Kirchenvätern findet, das Panorama für einen umfassenden ekklesiologischen Neuansatz und kritisiert die teilweise erdrückende zeitgenössische Vorrangstellung der Augustinusrezeption als Grundlage der Lehre von der Kirche. Gegen eine Fixierung auf den geheimnishaften Charakter der Kirche dringt er auf die Einbeziehung ihrer gesellschaftlichen, sozialen und konkreten Wirklichkeit. Der Begriff „Volk Gottes“ stellt ein Gegengewicht zu einem zum Teil kritiklos und assoziativ verwendeten Begriff des „mystischen Leibes Christi“ dar, und bildet somit eine solide Ausgangsbasis für eine noch zu entwickelnde Gesamtsicht auf die Kirche.86 Kosters Schrift hat ohne Zweifel Schwächen. Sie ist polemisch, teilweise pauschalierend, wirft Themen auf, die argumentativ nicht bis zum Ende entwickelt werden und wirkt zuweilen ungeordnet. Sie ist kein abgeschlossener akademischer Traktat, sondern ein engagierter Zwischenruf, eine Streitschrift. Als solche allerdings wirkt sie mit Blick auf die ekklesiologische Standortbestimmung des II. Vatikanischen Konzils erstaunlich hellsichtig und richtungsweisend.

1.1.4 Auf dem Weg zu einer Neubestimmung der Ekklesiologie

Kosters „Ekklesiologie im Werden“ erntet bei seinen Zeitgenossen insgesamt Beachtung. Sein zentrales Anliegen findet jedoch wenig Anerkennung.87 Erich Przywara etwa nimmt zwar Kosters Gedanken der „sakramentalen Charaktere“ als Hinweis auf eine zu entwickelnde Ekklesiologie unter dem Leitbegriff des Sakramentes auf, würdigt die Neuentdeckung des „Volk Gottes“-Begriffs jedoch nicht.88 Ähnlich betont auch Joseph Loosen lediglich einen Teilaspekt, Kosters „wissenschaftlich überlegene“ Kritik an der theologisch oft mangelhaften Darstellung der Kirche als „Leib Christi“.89

Mit der Enzyklika „Mystici Corporis“ erreicht die Diskussion um das Wesen der Kirche 1943 ihren vorläufigen Abschluss und Höhepunkt.90 Pius XII. richtet sich in ihr zum einen gegen einen „falschen Rationalismus“ und „Naturalismus“, der die Kirche als rein soziologische und rechtliche Größe sieht91, sowie gegen einen Mystizismus, „der die unverrückbaren Grenzen zwischen Geschöpf und Schöpfer zu beseitigen sucht und gegen die Heilige Schrift missdeutet“92. Der Papst hebt den Begriff des „mystischen Leibes Jesu Christi“ als zu bevorzugenden Ausdruck zur Erklärung des Wesens der Kirche hervor93, da in ihm sowohl die übernatürliche, als auch die gesellschaftlich-hierarchische Dimension der Kirche zum Ausdruck gebracht werden.94 Der „corpus Christi mysticum“ und die katholische Kirche sind miteinander identisch.95 Den Kritikern des Begriffs bescheinigt der Papst eine „unbegründete Furcht“ vor einer „tieferen Lehre“ von der Kirche.96 Damit vereinigt „Mystici Corporis“ die hierarchiologische Kirchenverfassung von 1870 mit dem romantisch beeinflussten Kirchenbild der Zwischenkriegszeit97 und bringt die katholische Diskussion zunächst zu einem Stillstand.98

Dies bedeutet jedoch nicht, dass der von Koster gegebene Anstoß zu einer Weiterentwicklung der Ekklesiologie anhand des „Volk Gottes“-Begriffs ungehört verhallt. So hält etwa der Kirchenrechtler Klaus Mörsdorf in dem von ihm herausgegeben „Lehrbuch des Kirchenrechtes“ mit Verweis auf Kosters Werk fest, der Begriff „ecclesia“, sowie der liturgisch verwendete Ausdruck „Volk Gottes“ haben den Vorzug, „die einzigen Sachbezeichnungen“, und damit Grundbegriffe zur Kennzeichnung der Kirche zu sein.99 „Die Kirche ist das in hierarchischer Ordnung lebende neue Gottesvolk zur Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden.“100 Ebenso knüpfen der Patristiker Josef Eger101 und der Liturgiewissenschaftler Ambrosius Schaut102 in ihrer Forschung direkt an Koster an.103 Für Ulrich Valeske wird daher 1962 im Rückblick deutlich, wie die katholische Ekklesiologie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Entwicklung nimmt, die „im Wesentlichen nicht in den von der Enzyklika ‚Mystici Corporis‘ vorgezeichneten Linien verlief, sondern die von Pater Koster und L. Cerfaux angegebene Richtung einschlug und sich dann um eine Synthese beider Betrachtungsweisen bemühte.“104

Der belgische Bibelwissenschaftler Lucien Cerfaux legt 1942 eine umfangreiche Studie zur Theologie der Kirche bei Paulus vor, in der er nachweist, dass die jüdische Idee des „Volkes Gottes“ auch für Paulus’ Verständnis der Kirche, mindestens für seine frühe Phase, prägend war.105 Israel, das nicht mehr als nationales, sondern als geistiges messianisches Volk verstanden wird, bleibt Träger der göttlichen Verheißungen.106 Aus dem heiligen Rest der Juden, sowie den hinzukommenden Heiden bildet sich das neue „Volk Gottes“.107 Der „Leib Christi“, von Paulus auf die Eucharistiegemeinschaft hin gedeutet, erhält seine symbolische Bedeutung für die Kirche als Ausdruck der geistgewirkten Gemeinschaft108 und wird in den Deuteropaulinen zunehmend hellenistisch im Sinne eines „corpus magnum“, der die Welt mit Christus als Haupt überformt, verstanden.109 „Volk Gottes“ ist für Paulus die ursprüngliche, heilsgeschichtlich konnotierte Bezeichnung, aus der sich der Begriff der „Kirche“ erst entwickelt.110 Ähnlich wie Koster im Bereich der systematischen Theologie geht es Cerfaux, gegen die Engführung auf den „Leib Christi“-Begriff, um die Gewinnung eines weiteren exegetischen Horizonts, von dem er sich einen Beitrag für die ekklesiologische Forschung seiner Zeit verspricht.111

Von den umfassenden exegetischen und systematischen Forschungen im protestantischen Bereich, die ebenfalls zu einer Neubelebung des „Volk Gottes“ als Grundkategorie biblischer Theologie beitragen112, sei hier exemplarisch nur auf die Studie von Nils Alstrup Dahl, „Das Volk Gottes“, von 1941 hingewiesen.113 In einem großen geschichtlichen Bogen stellt Dahl die Entwicklung des Begriffs bis in die Spätschriften des Neuen Testaments dar und sieht im „Volk Gottes“ bei Paulus die konsequenteste Weiterführung des Erwählungsgedankens Israels in der jungen Kirche, die nicht im Gegensatz, sondern als Grundlage für die spätere Bestimmung der Kirche als „Leib Christi“ zu sehen ist.114 Jesus erscheint bei Dahl als personale Verkörperung des Gottesvolkes, seine Jünger als die Vertreter des wahren Israel.115

Insgesamt deutet sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein langsamer Wandel in der katholischen Theologie an, an dessen Ausgangspunkt das Werk Kosters steht.116 Einen Meilenstein auf diesem Weg zu einem neuen ekklesiologischen Grundverständnis stellt die Dissertation Joseph Ratzingers zum Kirchenverständnis bei Augustinus dar. An ihr lässt sich der eingetretene Wandel in besonderer Weise illustrieren. Ihr Entstehen kann direkt auf den Einfluss der koster’schen Streitschrift zurückgeführt werden.

1.2 Joseph Ratzinger: „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“

Als der Münchener Fundamentaltheologe Gottlieb Söhngen seinen Schüler Joseph Ratzinger im Sommer 1950 zur Beteiligung an der von ihm gestellten Preisaufgabe der Theologischen Fakultät auffordert117, schickt er ihn „an die vorderste Front der theologischen Diskussion, wie ein angemessener Kirchenbegriff formuliert werden könne“118. Die von Söhngen gestellte Aufgabe „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“ ist bewusst gewählt. Ratzinger berichtet, Söhngen, der wie Koster in den dreißiger Jahren Schüler von Arnold Rademacher war119, sei ein aufmerksamer Leser von Kosters „Ekklesiologie im Werden“ gewesen: „Dieses Buch hat meinem Lehrer Gottlieb Söhngen großen Eindruck gemacht. Er erinnerte sich dabei daran, dass der Katechismus des Trienter Konzils einen Satz des Hl. Augustinus zitiert: ‚Die Kirche ist das über den ganzen Erdkreis verbreitete gläubige Volk‘“.120 Hiervon ausgehend habe Söhngen laut Ratzinger die Frage beschäftigt, ob der Begriff „Leib Christi“ bei Augustinus wirklich so zentral sei, wie es die zeitgenössische Augustinusforschung behauptete, oder ob die Kirchenauffassung des Bischofs von Hippo nicht vielmehr auf dem Begriff „Volk Gottes“ gründe.121 Auch wenn Ratzingers Dissertation diese Annahme so später nicht bestätigen wird122, zeigen sich in der Doktorarbeit deutlich der veränderte Horizont ekklesiologischer Forschung und das Interesse an einem neu zu gewinnenden Zentralbegriff für die Lehre von der Kirche.123

Hierzu genügt ein kurzer Blick auf die von Fritz Hofmann, einem Schüler Karl Adams, 1933 veröffentlichte Studie „Der Kirchenbegriff des Hl. Augustinus“, die dieser im Geist seiner Zeit als Beitrag auf der Suche nach dem „eigentlichen Wesen der Kirche“ verfasst hatte.124 Hofmann nähert sich der Lehre Augustins, indem er dessen biografische Entwicklung nachzeichnet: Auf seinem Bekehrungsweg ist der junge Augustinus mit dem neuplatonischen Denken und seinem schrittweisen Aufsteigen zur Weisheit der individuellen Wahrheitssuche verpflichtet (23–35).125 Durch die in Folge der Sündenverfallenheit getrübte Fähigkeit zur wahren Erkenntnis ist der Mensch für diesen Aufstieg auf die Autorität Christi und der kirchlichen Lehre angewiesen (34, 58), so dass ihm die Kirche zunächst als „autoritative Lehrkirche“ (VIII) erscheint. Nach seiner Priesterweihe und in der zunehmenden Auseinandersetzung mit den Donatisten entwickelt Augustinus seine Lehre von der Kirche entscheidend weiter. Sie wird von ihm zunehmend als Gnadengemeinschaft verstanden, die aus der Sündengemeinschaft der Menschheit durch das Erlösungswerk Christi herausgehoben ist (121ff, 422f). Gegen den Donatismus unterscheidet Augustinus zwischen der durch die Sakramente gebildeten Kirchengemeinschaft der Vielen und der in ihr bestehenden unsichtbaren Gnadengemeinschaft oder Geistkirche der Wenigen (131, 237, 243f). Aufgrund des Wirkens des Heiligen Geistes ist die Kirche in ihrem Innersten „communio sanctorum“, Heilsgemeinschaft, aufgebaut auf den Glauben, die Hoffnung und die Nächstenliebe (136, 168f, 180, 188, 421). Christus als Mittler zwischen Gott und Menschen ermöglicht als Haupt der Kirche die Teilhabe am „göttlichen Liebesstrom“(142), so dass ein „organisches Ganzes“ (158) der Gläubigen mit Christus und der Gläubigen untereinander entstehen kann. Somit ist das Bild des Leibes Christi für Augustinus das zentrale Bild für die Kirche (148).126 Augustinus übernimmt dabei die Lehre vom Leib Christi nicht einfach aus der Hl. Schrift,

„sondern durchformte und durchblutete sie mit seiner eigenen Geistigkeit: er lebte sich in sie hinein und gestaltete sie mit dem Geist des Mystikers; er analysierte ihre bildliche Einkleidung mit dem Tiefblick des Psychologen […] er unterbaute sie mit einer Metaphysik, die in der Einheit und zwar viel mehr in der geistigen als in der körperlich-sinnlichen Einheit das Wesen des Seins selbst erblickte und von der aus die Termini des Völkerapostels für ihn erst ihre eigenartige Farbe und Fülle erhielten.“(149)

Hofmann verweist auf die besondere Rolle der Eucharistie bei Augustinus: Sie bringt die Gemeinschaft der Gläubigen mit Christus und der Gläubigen untereinander in besonderer Weise zum Ausdruck (390f) und stellt sowohl die Menschheit als auch den mystischen Leib sakramental dar (397). Im Bild des so in der Liebe geeinten „Leibes Christi“ wird die Kirche bei Augustinus in Hofmanns Lesart „nichts anderes als die erweiterte Menschheit Christi“ (396).

 

Als dritte biografische Etappe Augustins schildert Hofmann den Kampf gegen den Pelagianismus, der sich u.a. im Kirchenbild von „De civitate Dei“ zeigt. Hier beschreibt Augustinus die Kirche als Werkzeug der göttlichen Gnade und Vorherbestimmung (459, 481, 485ff.). Sie wird, so Hofmann, für Augustinus zur „heilsanstaltlichen Gnadenkirche“ (VIII).

Joseph Ratzinger steht vor der Aufgabe, die Forschungsarbeit Hofmanns auf der einen Seite fortzusetzen, sie auf der anderen Seite aus ihrer Engführung auf den Begriff „Leib Christi“ herauszuführen. Ratzinger bescheinigt, „dass jene Fragestellung, unter der das Kirchenproblem bei Augustinus durch Hermann Reuters Augustinische Studien behandelt wurde, durch Hofmanns grundlegendes Werk im Wesentlichen ausgeschöpft ist. Aber das heißt nach dem Gesagten nicht, dass damit auch Augustins Kirchengedanke ausgeschöpft ist.“127 Im Folgenden sollen die wichtigsten Ergebnisse von Ratzingers Formulierung der Ekklesiologie Augustins dargestellt werden.128

1.2.1 Die Lehre von der Kirche bei Augustinus

Ähnlich wie Hofmann vor ihm wählt Joseph Ratzinger für seine Augustinusstudie einen biographischen Ansatz. Ausgehend vom jungen Augustinus stellt Ratzinger zunächst das philosophische Weltbild des Kirchenvaters in den Vordergrund: Dem Neuplatonismus verpflichtet, strebt Augustinus nach höherer Erkenntnis und Weisheit, um sich aus der Sinnenwelt in die intelligible Geistes- und Ideenwelt und damit immer näher auf Gott hin zu bewegen.129 Als biblische Parallele für diese beiden Welten dient Augustinus die paulinische Gegenüberstellung von „sarx“ und „pneuma“(19). Während die wahrhaft geistliche Erkenntnis nur einem kleinen Kreis vorbehalten ist, verharrt die große Masse der Gläubigen auf der Seite der Sinnenwelt.130 Ein Ausweg aus diesem Dilemma kann nur durch Gott selbst geschaffen werden, indem er in seiner Erniedrigung („humilitas“) in den „mundus sensibilis“ eingeht. So lässt er den Menschen aus seiner erbarmenswürdigen Situation langsam zum Sehen emporsteigen (21ff, 25f). Augustinus rechnet in der Kirche zunächst mit einer kleinen Zahl von „Gereinigten“ innerhalb einer großen Menge von „Nicht-Sehenden“ (8). Im Glauben und in der Unterwerfung unter die Autorität der Kirche steht dem Gläubigen somit der Weg zur wahren Erkenntnis Gottes offen (33f).131 Je weiter die innere Gotteserkenntnis fortschreitet, desto weniger kirchliche Autorität ist notwendig (33f). Das Wunder, dass sich in der sündigen Menge das Wissen von Gott verbreiten kann, macht die weltweite Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden zum Zeichen, zur sinnenhaften Gestalt der Gegenwart Gottes (33, 35). Mit der Kennzeichnung der großen Menge als „Volk“ und ihrer zeichenhaften Bestimmung, erreicht Augustinus eine erste Annäherung an den Begriff des „Volk Gottes“ (26f, 35).132

Nach seiner Priesterweihe im Jahr 391 beginnt für Augustinus, angeregt durch seine eigene seelsorgliche Tätigkeit und in Auseinandersetzung mit den theologischen Strömungen seiner Zeit (Pelagianismus, Donatismus), eine neue Phase intensiven Nachdenkens über die Kirche (46). Ratzinger verweist auf die solide theologische Grundlage und die ekklesiologische Argumentation anderer nordafrikanischer Kirchenväter, die den geistlichen Boden für Augustins eigene Synthese bereiten.133 Zu deren Darstellung konzentriert sich Ratzinger auf zwei Kontroversen, denen sich Augustinus stellen muss: die Auseinandersetzungen mit dem Donatismus und mit dem griechisch-römischen Heidentum.134

In der Auseinandersetzung mit den Donatisten steht Augustinus vor dem besonderen Problem, dass sich zwei Kirchen gegenüberstehen. Hatte Augustinus zuvor die Interpretation der Schrift eng an den Glauben der Kirche gebunden, löst er nun diese Verbindung, um aus der Interpretation der Schrift den Erweis für den wahren kirchlichen Glauben zu finden (127–131). Das zentrale Schriftargument des Kirchenvaters ist die real bestehende Katholizität, die weltweite Verbreitung der Kirche aus den Völkern. Die donatistische Kirche ist dagegen nur auf den nordafrikanischen Raum beschränkt (131). Augustinus stützt sich hier u.a. auf die Sendung der Jünger (Lk 24,47) und die Abrahamsverheißung (Gen 22, 18, Gal 3,16). Die Vielzahl der Völker der Erde werden durch Christus zu dem einen Volk in der Nachkommenschaft Abrahams vereinigt (133ff). Auch wenn Augustinus hier noch nicht vom „Volk Gottes“ spricht, ist, so Ratzinger, dieser Begriff inhaltlich bereits durch den alttestamentlichen Bezug zu Abraham vorbereitet (134f). Ein weiteres Argument gegen die Donatisten sieht Augustinus im Fehlen der „caritas“. Diese wird von ihm weniger als subjektive ethische Praxis, sondern vielmehr von ihrer ekklesiologischen Dimension her verstanden (138). In der „caritas“ zeigt sich die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Kirche, die sich in der weltweiten „eucharistischen Liebesbeziehung“ (138) ausdrückt. In der innigen Verbundenheit brüderlicher Liebe entsteht die Kirche. Augustinus verbindet „caritas“ und „ecclesia“ so eng miteinander, dass sie für ihn „fast synonym zu gebrauchen sind“ (138). Da die „caritas“ allerdings als Ausweis der inneren geistlichen Zugehörigkeit zur Kirche verstanden wird, ist sie nur dem „wahren Volk Gottes“, einer kleineren Gruppe, den Heiligen, innerhalb der Kirche zuzuschreiben (138, 143). Augustinus unterscheidet also zwischen der äußerlichen „ecclesia catholica“, der Kirche der Menge, die in ihrer Zeichenhaftigkeit wahre Kirche ist und ihrem unsichtbaren kleinen Kern, der „ecclesia sancta“, die als pneumatische Liebesgemeinschaft, als eucharistisch gebildeter Leib Christi wahre Kirche ist (144f, 150, 156, 168). Das „signum“ Kirche erhält somit seine Eigenständigkeit gegenüber der „res significata“, der „unsichtbaren Christusgemeinde“(157f). Im biblischen Bild der Mutterschaft verdeutlicht Augustinus seinen Gedanken: So wie es in der Familie, etwa bei den biblischen Patriarchen, auch rechtmäßige Kinder gegeben hat, die von den Mägden geboren wurden, sind die wahren Kinder doch nur die der Ehefrau (142). Nicht jeder innerhalb der Kirche gehört ihr auch wirklich an. Schlechte Katholiken und Häretiker stehen im Grunde auf einer Stufe (142).

Ratzinger verweist auf die Parallele zur platonischen Weltsicht Augustins: Die Wahrheit muss innerhalb der Sichtbarkeit und des Scheins gesucht werden (146f, 152f). Der Aufstieg des Einzelnen zur Gemeinschaft mit Gott besteht nun nicht mehr im Streben nach Erkenntnis und Wahrheit, sondern im Streben nach Liebe. Sie ermöglicht ein neues Leben mit Gott und formt zugleich die kirchliche Gemeinschaft (150). Insofern wird die Kirche bei Augustinus heilsnotwendig, da sie die „Einheit letzten Ranges“ geworden ist, „ohne die das wahre Leben nicht gewonnen werden kann“ (151). Die platonische „Reinigung“ von der Sinnenwelt wird ebenfalls nicht mehr individualistisch, sondern als Reinigung der ganzen Kirche verstanden. Die „humilitas“, die für Augustinus zunächst Unterwerfung unter die kirchliche Autorität bedeutet hatte, wird nun zu einem „Sich-Beugen unter die eigene Schwäche“ (151). Augustinus greift mit der Betonung der Nichtidentität von innerer und äußerer Kirche zwar eine zu seiner Zeit gängige Argumentation auf, verfolgt jedoch hierbei das Ziel, gegen eine rein platonisierende Tendenz zur ungeschichtlichen Betrachtung ewiger Wahrheiten, die Notwendigkeit der (heils-)geschichtlichen Dimension der Kirche zu beweisen. Nur in der konkreten Kirche, die durch die alttestamentliche Verheißung vorgezeichnet wird, ist die wahre Kirche zu finden (152ff). Durch die Trennung von der sichtbaren Kirchengemeinschaft wird der Donatismus dann notwendigerweise zur Häresie (155).