Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme

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In den unvergleichlich fruchtbaren Jahren des paduanischen Aufenthalts kam zu dem Material, das späterhin im Dialog verarbeitet wurde, eine reiche Fülle hinzu. In jene Jahre fällt vor allem die Fortsetzung der in der pisanischen Zeit begonnenen mechanischen Untersuchungen. Erst in Padua, nicht schon in Pisa, wie seit Albèri vielfach angenommen wurde27, gelangte Galilei zu dem wichtigsten Forschungsergebnisse, das wir ihm überhaupt verdanken, zu den Gesetzen der Fallbewegung. So war er im Jahre 1602, wie aus dem Briefe an Guidobaldo del Monte vom 29. November 1602 hervorgeht28, im Besitze des schönen Satzes, welcher die Gleichheit der Falldauer längs sämtlicher, im tiefsten Punkte eines vertikalen Kreises endigenden Sehnen aussagt; es ist nicht wohl denkbar, dass er zu diesem auch im Dialoge und in den Discorsi29 behandelten Satze gelangte, ohne zugleich das Gesetz der Fallbewegung zu kennen. Zwei Jahre später spricht er in einem Briefe vom 16. Oktober 1604 an Paolo Sarpi, den berühmten Geschichtsschreiber des tridentinischen Konzils, das Gesetz mit deutlichen Worten aus30; freilich versucht er damals noch, es aus einem falschen Prinzip abzuleiten, aus dem Prinzip, die erreichten Geschwindigkeiten seien proportional den durchfallenen Räumen. Eben deshalb muss, wie Wohlwill31 hervorhebt, die klassische, den Discorsi zu Grunde liegende Abhandlung de motu accelerato32, welche bereits die Proportionalität der Geschwindigkeiten mit den Fallzeiten lehrt, erst nach der Zeit des Briefes an Sarpi entstanden sein. Wohl aber hatte Galilei schon in Pisa den annähernden Isochronismus der Pendelschwingungen entdeckt und mit dem Wesen der beschleunigten Bewegung sich insofern vertraut gemacht, als er die Notwendigkeit des Durchlaufens aller Geschwindigkeitsstufen zwischen der Ruhe und einer erreichten Geschwindigkeit erkannt hatte. Diese Notwendigkeit wird späterhin im Dialog und in den Discorsi33 mit weit größerer Bestimmtheit und Klarheit dargelegt und betont als in den Sermones de motu gravium, offenbar darum, weil das Verständnis gerade dieses Punktes Galilei selbst und seinen Zeitgenossen besondere Schwierigkeiten geboten hat. An und für sich haben diese Probleme mit der Streitfrage der Weltsysteme wenig zu schaffen; da sie jedoch als wichtige Episoden im Dialoge berührt werden, so hat es für den Leser ein Interesse über die Entstehungszeit der galileischen Untersuchungen orientiert zu sein.

In unmittelbarem Zusammenhang mit der Diskussion über das kopernikanische System stehen dagegen die Erörterungen Galileis über das Beharren der Bewegung; denn nur, wenn die von der Erdbewegung einem irdischen Körper mitgeteilte Bewegung diesem verbleibt, auch nachdem er nicht mehr in Verbindung mit der Erde steht, lässt sich das kopernikanische System mit den alltäglichen irdischen Vorgängen in Übereinstimmung bringen. Lange Zeit hindurch war es üblich, Galilei, eben weil er die Verträglichkeit der alltäglichen Erfahrung mit der Erdbewegung so klar erläutert hat, ohne Weiteres als den Entdecker des Beharrungsgesetzes zu betrachten, desjenigen Teiles des Beharrungsgesetzes wenigstens, der aussagt, dass ein in Bewegung befindlicher, unter dem Einflusse keiner bewegenden Kraft mehr stehender Körper sich geradlinig mit gleichförmiger Geschwindigkeit ohne Ende weiterbewegt. So frühe nun auch Galilei, wie wir sahen, in die Fußstapfen Benedettis tretend, von der wunderlichen aristotelischen Auffassung sich losgemacht hatte, so hat er doch niemals die erwähnte oder eine gleichwertige Formulierung des Beharrungsgesetzes ausgesprochen. Er kennt nur oder benutzt jedenfalls nur die eine vermeintliche Tatsache, dass ein Körper beih o r i z o n t a l e rA n f a n g s b e w e g u n g ,unter welcher G. stets eineK r e i sbewegung um den Erdmittelpunkt versteht, diese Kreisbewegung in gleichförmiger Geschwindigkeit beibehält. Die einzige im Dialog enthaltene Andeutung einer allgemeineren Auffassung34 findet sich p. 278 f., wo gesagt wird, dass die aus einem schräg gerichteten Rohre abgeschossene Kugel in Richtung des Laufes weiterfliegen würde, wenn die Schwere sie nicht nach unten ablenkte. Dabei ist aber weder von der Gleichförmigkeit der ferneren Bewegung die Rede, noch wird eine allgemeine Formulierung versucht. Ebenso findet sich in den Discorsi eine lichtvolle Stelle35, wo »die begründete Vermutung« (admodum rationabile videbitur, si accipiamus …) des Beharrens auch in schiefer Richtung gelegentlich ausgesprochen wird, ohne dass jedoch von dieser Erkenntnis in den späteren Entwicklungen Gebrauch gemacht würde, so naheliegend dies nach moderner Auffassung gewesen wäre. Am allerwenigsten hat Galilei je die Fallbeschleunigung aus dem Zusammenwirken der einmal erreichten Geschwindigkeit mit dem in jedem Moment hinzutretenden Impuls der Schwere abgeleitet. Näheres über das Verhältnis Galileis zum Beharrungsgesetz enthält die mehrfach erwähnte vortreffliche Studie Wohlwills; vgl. auch die Anmerkungen zu Dial. p. 125, 135, 245, 251 f., 279, 281, 284. Hier sei nur bemerkt, dass gerade der spezielle Anlass zu der Beschäftigung mit der Frage der Beharrung, nämlich die Vereinbarkeit der täglichen Erfahrung mit dem kopernikanischen System, ein Hindernis für die volle Erkenntnis war, insofern eben hierdurch nahegelegt wurde, die Beharrung in der Kreislinie als Naturgesetz anzusehen. Hätten ausschließlich seine mechanischen Untersuchungen Galilei auf die Spur des Beharrungsgesetzes gebracht, so würde er schwerlich die reife Frucht ungepflückt gelassen haben. Da er aber um der kopernikanischen Lehre willen zunächst zu dem kreisförmigen Beharren um das Erdzentrum geführt wurde, und ein Zweifel an der strengen Gültigkeit dieser Art der Beharrung nie in ihm aufstieg, und da jene Kreisbewegungen keine Verallgemeinerung auf den Fall eines Beharrens in beliebiger Richtung zuließen, so war es ihm unmöglich einen festen unverrückbaren Standpunkt in dieser Frage zu gewinnen. »Und doch genügte, als Galilei seine Forschung abgeschlossen, ein Geist vom RangeB a l i a n i s ,ein klarer Kopf ohne hervorragende schöpferische Begabung, um den Worten des Meisters zu entnehmen, was dieser unausgesprochen gelassen hatte. Es genügte, möchte man sagen, dass er als zweiter an die gleiche Gedankenfolge trat, dass der Ursprung und die Entwicklungsgeschichte des neuen Prinzips ihm nicht ein innerlich Erlebtes waren, und dass eben deshalb jene beschränkenden Bestimmungen in der Formulierung und Auffassung für ihn die Bedeutung verloren hatten.«36 Trotzdem die Formulierung des Gesetzes bei Galilei also nicht allgemein ist, da sie sich nicht auf beliebig gerichtete Anfangsbewegungen bezieht, ja strenge genommen nicht richtig ist, insofern sie die Beharrung in der Kreislinie, nicht die geradlinige Beharrung behauptet, so ist dennoch der Wert seiner Ergebnisse nicht hoch genug anzuschlagen. Wenn es dafür noch des Beweises bedürfte, so brauchte man bloß die staunende Bewunderung in Betracht zu ziehen, mit der die Zeitgenossen die diesbezüglichen Stellen des Dialogs entgegennahmen37, die in der Tat nach Form und Inhalt zu den glänzendsten Partien desselben zu zählen sind. Bei einigen der hierher gehörigen Betrachtungen lässt sich bis auf den Tag genau angeben, wann die erste Idee derselben dem Verfasser kam; so finden sich mitten zwischen Aufzeichnungen Galileis über Ausgaben und Einnahmen unter dem Datum des 11. April 1607 Notizen über die ruzzola (Rollscheibe) und über relative Bewegungen; es sind kurze Andeutungen dessen, was Sagredo im Dialog ausführlich erörtert.38

Ein weiterer im Dialog mehr episodisch behandelter Stoff39, dem Galilei in Padua seine vollste Aufmerksamkeit zuwandte, waren die magnetischen Erscheinungen. Wir finden ihn spätestens seit 1602 mit dem Studium derselben beschäftigt, angeregt offenbar durch das im Jahre 1600 erschienene Buch Gilberts »De Magnete«. Mit seinen Freunden Fra Paolo Sarpi und Francesco Sagredo betrieb er gemeinsam die Lektüre des von ihm hochbewunderten Engländers, und wiederholte, ja überbot teilweise die Gilbertschen Versuche. Er adoptierte fast durchweg die Ansichten Gilberts; namentlich glaubte er irrigerweise wie dieser, dass das ganze Erdinnere aus Magneteisen bestehe und dass die Unveränderlichkeit der Erdachsenrichtung eine Folge des Erdmagnetismus sei; doch trat er anderen Irrtümern freimütig entgegen, wie der Vermutung Gilberts, dass eine freischwebende Magnetkugel von selbst rotiere. Am Schlusse der Gespräche des dritten Tags widmet Galilei dem berühmten Zeitgenossen und seinen Leistungen eine ziemlich ausführliche Besprechung; er war sich bewusst, in ihm einen Mitstreiter zu haben, nicht nur für die kopernikanische Sache, sondern überhaupt für eine moderne Art des naturwissenschaftlichen Betriebs gegenüber der vergilbten Papierweisheit der Peripatetiker.

So wenig Galilei schon vor der Zeit seines glänzenden Eroberungszugs am Himmel die Wahrheit des kopernikanischen Systems bezweifelte, so sehr mussten ihn doch die überraschenden Entdeckungen, die er mit Hilfe des von ihm verbesserten und zuerst für astronomische Zwecke benutzten Fernrohres machte, in seinen Ansichten bestärken und ihm den Wunsch nahelegen, auch die Zeitgenossen von der Bedeutung dieser Entdeckungen für die neue, scheinbar so phantastische Lehre zu überzeugen. Im März 1610 erschien sein »Sternenbote«, der Sidereus nuncius, der allenthalben bei Freund und Feind gewaltigsten Aufruhr erregte. Vor allem waren es die im Januar desselben Jahres zuerst aufgefundenen Jupitersmonde, die mediceischen Gestirne, wie Galilei sie nannte, die mit unerbittlichster Klarheit dem sinnlichen Auge einerseits bewiesen, dass das Zentrum der Planetenbewegungen nicht durchweg die Erde sein könne, und die andererseits den weiteren wichtigen Einwand gegen die kopernikanische Lehre hinfällig machten, dass ihr zufolge der Mond eine ungebührliche Sonderstellung einnehme, da er allein von allen beweglichen Himmelskörpern nicht die Sonne umkreisen sollte, sondern die Erde. Hatte man doch jetzt einen gar von vier Monden umkreisten Planeten. Die Analogie zwischen Erde und Himmelskörpern oder, wie man sich damals häufig ausdrückte, der Umstand, dass die Erde ein Stern sei, war der von den Gegnern vielleicht zumeist bestrittene Punkt der Diskussion; er wurde damit verständlich. Galilei deutet dies selber am Schlusse des Berichtes über die von ihm gemachten Entdeckungen an40 und wagt damit zum ersten Male öffentlich sich zu Gunsten der Lehre von der Erdbewegung auszusprechen. Nachdem er so lange verschwiegen, wessen sein Herz voll war, glaubte er durch die Wunderbotschaften, die er vom Himmel brachte, endlich das Recht erwirkt zu haben, seine Stimme für die fast greifbar gewordene Wahrheit zu erheben. Auch die gebirgige Natur des Mondes, die durch das Fernrohr erschlossen war, und die übrigen Analogien zwischen Erde und Mond, welche ähnlich wie später im Dialog41 schon im Sidereus nuncius hervorgehoben werden, benutzte er als Argumente für die im Wesentlichen gleichartige Natur der Erde und der Himmelskörper. Betreffs ausführlicherer Erörterungen verweist er wiederholt42 auf das Werk De systemate mundi.

 

Zum ersten Male seit dem Briefe an Kepler von Jahre 1597 hören wir damit wieder von schriftlichen Aufzeichnungen, welche die Lehre der Weltsysteme zum Gegenstande hatten. Was damals vermutlich kürzere Notizen oder kleinere Abhandlungen gewesen waren, hatte sich nunmehr ausgewachsen zu einem größeren Ganzen, das der Hauptsache nach wohl schon das enthalten sollte, was im Dialog uns vorliegt. Aus dem Briefe vom 7. Mai 1610 an den toskanischen Staatssekretär Belisario Vinta erfahren wir, dass zu den Werken, mit deren Abfassung Galilei damals beschäftigt war, und für deren Vollendung er die nötige Muße ersehnte, auch zwei Bücher De systemate seu constitutione universi gehörten; er nennt sie eine »gewaltige Konzeption, voll philosophischer, astronomischer und geometrischer Untersuchungen.« Soweit ihnen überhaupt damals eine fertige Gestalt zukam, scheinen sie in lateinischer Sprache und in Abhandlungsform, nicht dialogisch abgefasst gewesen zu sein.

Die Ruhe, die zur Fertigstellung dieses wie der anderen geplanten Werke nötig war, hoffte Galilei nach 21-jähriger, von beispiellosem Erfolg begleiteter Lehrtätigkeit besser finden zu können, wenn er von der Pflicht des Kollegienlesens entbunden würde. So bewarb er sich denn um die Stellung eines Großherzoglich Toskanischen Mathematikers und Philosophen, auf die er umso eher rechnen durfte, als er dem Erbgroßherzog Cosimo II., der nunmehr seit 1609 den Thron bestiegen hatte, während der Universitätsferien regelmäßig mathematischen Unterricht erteilt hatte. Es waren gewiss nicht bloß materielle Gründe und ehrgeizige Absichten, die ihn zu diesem verhängnisvollen Schritte bewogen. Er dachte sicherlich vor allem durch den vielbeneideten Glanz, der den Hofmann nun einmal umstrahlte, hinreichende Autorität zu gewinnen, um seine innersten Überzeugungen aussprechen zu dürfen; er hoffte, dass seine Feinde, die bornierten sowohl wie die boshaften, fernerhin nicht mehr wagen würden, die neuen von ihm vertretenen Gedanken lächerlich zu machen oder zu ignorieren. Er hatte empfunden, dass zur Bekehrung der Massen gute Gründe nicht ausreichten; die Machtstellung des Mannes, nicht die Güte der Sache sah er auch in wissenschaftlichen Fragen häufig den Ausschlag geben; und da er endlich einen Erfolg seiner Mühen und Arbeiten sehen wollte, trachtete er danach, seine goldenen Früchte auch in silbernen Schalen aufzutischen. Aber es sollte die Zeit kommen, wo er nur allzu schmerzlich fühlte, dass die scheinbaren Annehmlichkeiten seiner Stellung teuer erkauft waren durch Nachteile anderer Art. Der Ruhm seiner astronomischen Entdeckungen würde ihm, wo immer er seinen Wohnsitz aufschlug, trotz aller Neider die Aufmerksamkeit der ganzen wissenschaftlichen Welt gesichert haben. Und wären ihm auf dem Katheder zu Padua auch Kämpfe nicht erspart geblieben, der starke Arm der Republik Venedig, die selbst vor dem Bannstrahle des Papstes sich nicht beugte, hätte ihn vor dem Äußersten geschützt, während das toskanische Fürstenhaus unter jesuitischem Einfluss stand und nimmer gewagt hätte, sich mit Rom zu überwerfen, am wenigsten dem Hofmathematikus zu liebe, mochte dieser auch ein Galilei sein.

Kurz vor seiner im September 1610 erfolgenden Übersiedlung nach Florenz fügte Galilei seinen astronomischen Entdeckungen eine neue hinzu; er beobachtete Ende Juli 1610 die auffallende Gestalt des Saturn, den er für begleitet von zwei Nachbargestirnen hielt. Die wahre Figur zu ermitteln gelang ihm nicht, es blieb dies Huyghens vorbehalten. – Endlich fallen vielleicht noch in die nämliche Zeit, allerdings aufgrund von Zeugnissen, die aus bedeutend späterer Zeit stammen, auch die ersten Beobachtungen der Sonnenflecken, die indessen einstweilen zu unbestimmten Ergebnissen geführt haben müssen. Galilei würde sonst schwerlich verfehlt haben, in seinem Briefwechsel mit Kepler und Belisario Vinta davon zu sprechen. Er selbst datiert in dem ersten Briefe an Welser diese Entdeckung vom November 1610, im Dialog aber schon aus der Zeit der paduanischen Professur.43 Ein erbitterter Prioritätsstreit, auf den wir mehrfach zurückzukommen haben, entspann sich später darüber und trug nicht wenig dazu bei, die künftigen Schicksale über Galilei heraufzubeschwören.

Gleich nachdem Galilei festen Fuß in Florenz gefasst hatte, richtete er von neuem sein Augenmerk auf die Literatur über die Weltsysteme, er bittet alsbald den toskanischen Gesandten in Prag, Giuliano de’ Medici, der mit dem gleichfalls dort weilenden Kepler engste Fühlung hatte, um Zusendung einschlägiger Bücher.44 Aber mehr als durch irgendwelches Bücherstudium förderte er seine Sache – denn alss e i n eSache sah er nunmehr die Verteidigung der kopernikanischen Lehre an, und der Volksmund bezeichnete bald die Kopernikaner als Galileisten – durch eine neue Entdeckung von der größten Tragweite. Am 11. Dezember konnte er, zunächst noch in der Form eines Anagramms, wie er sie ähnlich vorher bei Veröffentlichung seiner Saturnbeobachtungen benutzt hatte, nach Prag, bald darauf nach Rom an Clavius und nach Brescia an seinen treuen Schüler und Freund Castelli berichten, dass Venus und wahrscheinlich auch Merkur eine Phasenänderung durchmache ähnlich wie der Mond. Damit war im Wesentlichen jedweder Einwand gegen die zentrale Stellung der Sonne im Planetensystem entfallen, und der Beweis für die Dunkelheit der Planeten erbracht, also eine neue Analogie zwischen Erde und Planeten festgestellt. Nur die physikalischen Gründe, die Erscheinungen auf der Erde selbst, durften den Verständigeren unter den Gegnern noch Bedenken gegen die kopernikanische Lehre zurücklassen; denn Galilei hatte noch nichts von der im Wesentlichen schon fertigen neuen Bewegungslehre, die auch diese Schwierigkeiten beseitigte, in weiteren Kreisen bekannt gegeben. Von astronomischer Seite stand der Erdbewegung nichts mehr entgegen, wenn man die mangelnde Parallaxe der Fixsterne nicht etwa als Gegengrund betrachten will.

Am Schlusse dieses für ihn so ereignisreichen Jahres hätte Galilei einen befriedigenden Rückblick auf die errungenen Erfolge werfen können. Er hatte wissenschaftlich erreicht, was er ein Jahr zuvor in seinen kühnsten Träumen nicht hoffen durfte; er hatte auch äußerlich das erlangt, was er ersehnte. Aber ein Tropfen Bitterkeit vergällte ihm den Freudenkelch. Er sah noch immer das Häuflein derer, die sich um Kopernikus scharten, klein, verschwindend klein gegen die Nachbeter ererbten Formelkrams. Es ergriff ihn bisweilen eine verzweifelte Hoffnungslosigkeit, sodass er seine eigenen Bestrebungen gleichsam verhöhnte. So schreibt er am 30. Dezember 1610 an Castelli45: »Um die eigensinnigen Gegner zu überzeugen, die einzig und allein auf den eiteln Beifall der blöden dummen Menge Wert legen, wäre es auch dann noch nicht genug, wenn die Sterne zur Erde herabstiegen und von sich selber Zeugnis ablegten. Seien wir auf das eine bedacht, selbst uns Erkenntnis zu verschaffen, und suchen wir in dieser unseren einzigen Trost. In der Volksgunst uns weiter zu bringen oder den Beifall der Büchergelehrten zu gewinnen, das zu wünschen und zu hoffen, wollen wir unterlassen.« Dieses Gefühl der Resignation aber, das als vorübergehende Stimmung nur zu sehr begreiflich ist, war denn doch nicht von langer Dauer. Es begann eine Periode, wo im Gegenteile Galilei in der mannhaftesten Weise die Pläne, die er bei Übernahme seiner neuen Stellung zweifelsohne im Stillen gefasst, ins Werk setzte. Auf dem Gipfel seiner geistigen Höhe stehend, entfaltete er auch die höchste moralische Kraft, er legte alle Menschenfurcht beiseite und wirkte unverdrossen an der dornenvollen Aufgabe, den steinigen unfruchtbaren Boden der herrschenden Naturphilosophie umzupflügen und ihm als erste Frucht die allseitige Billigung, die Popularisierung der Lehre von der Erdbewegung abzugewinnen.

Von dem Enthusiasmus für dieses Ziel erfüllt, reiste er am 23. März 1611 nach Rom, zunächst mit der Absicht, dort die Wahrheit seiner Entdeckungen, an der man vielfach noch zweifelte, zur Anerkennung zu bringen. Gelehrten und geistlichen Würdenträgern zeigte er die Jupiterstrabanten, die Mondgebirge, die Phasen der Venus und die Sonnenflecken. An der Richtigkeit der Tatsachen ließ sich fürder nicht mehr zweifeln, ja es wurde von dem berühmten, dem Jesuitenorden angehörigen KardinalR o b e r tB e l l a r m i nausdrücklich ein Gutachten des römischen Jesuitenkollegiums provoziert, durch welches Clavius nebst drei anderen Professoren des Kollegiums die Wahrheit der neuen Entdeckungen attestierten. Galilei erlebte Triumphe wie wohl kein Astronom oder Mathematiker zuvor. Papst Paul V. empfing ihn aufs Gnädigste, mit Entzücken lauschten Kardinäle seinen durchsichtigen Vorträgen, in denen er sein unvergleichliches Lehrtalent zur Geltung brachte. Er wurde zum Mitgliede der Accademia dei Lincei (Akademie der Luchsäugigen) ernannt, die FürstF e d e r i g oC e s iim Jahre 1603 in Rom gegründet hatte; auf die Zugehörigkeit zu dieser Akademie spielt er an, wenn er sich in seinen dialogischen Schriften als den Akademiker bezeichnen lässt. – Der Hauptzweck seiner Reise war diesmal gewesen, die Tatsachen zur Anerkennung zu bringen; inwieweit er aus diesen in seinen Vorträgen Schlüsse auf die Gültigkeit des kopernikanischen Systems zog, ist nicht genau bekannt. Er scheint darin Vorsicht geübt zu haben, um das nächste Ziel, das er erstrebte, nicht zu verfehlen. Aber welch tiefen Eindruck die Darlegungen Galileis oder die Tatsachen selbst auf einsichtige Hörer, wie auf einen Clavius, machten, beweist eine schon von Kepler hervorgehobene Stelle46 in der letzten Ausgabe des Commentars von Clavius zur »Sphaera« des Sacrobosco. Dort spricht am Schlusse eines 75-jährigen Lebens derselbe Mann seine Zweifel an der Wahrheit des ptolemäischen Systems aus, der während dieses ganzen Lebens jenen Standpunkt vertreten und ihn nachdrücklich verteidigt hatte. Galilei stand damals mit den römischen Jesuiten auf bestem Fuße; das gute Verhältnis mag wohl eben in Clavius, einem hochverdienten und für seine Wissenschaft wahrhaft begeisterten Manne, eine wesentliche Stütze gefunden haben. Unglücklicherweise starb Clavius schon im folgenden Jahre (am 6. Februar 1612), er hätte viel dazu beitragen können, um in der Folge auf die Entschließungen der Kirche mäßigend einzuwirken.

Ob Galilei rückhaltslos seine innersten Überzeugungen in Rom offenbarte oder nicht: Bei seinen Freunden und Feinden stand es fest, dass er vollüberzeugter Kopernikaner sei. Da die Zahl sowohl seiner prinzipiellen Gegner als der persönlichen, deren Neid durch die ihm widerfahrenen Ehren wachgerufen war, sich stetig mehrte, so begann nun bald ein Intrigenspiel, das den fürchterlichen Mann verderben sollte, der die versteinerte Wissenschaft zu neuem Leben zu erwärmen, der tote und lebende Autoritäten von ihrem Piedestal zu stürzen drohte. Wissenschaftlich ihm beizukommen war schwer, man musste also den Kampf auf ein anderes Terrain hinüberspielen, auf das Gebiet des Glaubens. Nicht als ob die kopernikanische Lehre jetzt zum ersten Male an dem Maßstabe der Heiligen Schrift gemessen worden wäre. So sehr auch Kopernikus von vornherein in der Widmung seines Werks sich gegen das Hereinziehen der Bibel verwahrt, so hatte doch schon Luther den Narren Kopernikus verspottet, der die Welt auf den Kopf stellen wollte und im Widerspruch zu der bekannten biblischen Erzählung im Buche Josua, die Sonne ruhen, die Erde sich bewegen ließ. Einer der ersten Anhänger des Kopernikus,J o a c h i mR h ä t i c u s(eigentlich Georg Joachim) hatte in einer eigenen Schrift Kopernikus und Bibel in Einklang zu bringen versucht, Tycho de Brahe hatte in seinem Briefwechsel mitC h r i s t o p hR o t h m a n n ,dem Hofastronomen des Landgrafen Wilhelm IV. von Hessen-Kassel, auf den Widerspruch mit der Heiligen Schrift hingewiesen, Kepler bemühte sich des Öfteren die Bibel im kopernikanischen Sinne zu interpretieren: Kurzum die üble Gewohnheit, die Bibel in den Streit auch über andere Materien als über Glaubenswahrheiten hineinzuziehen, war zu jener Zeit allenthalben im Schwange. Dabei war zweifelsohne die herrschende Anschauung, dass es wissenschaftlich nicht fair sei so zu verfahren: etwa wie man heutzutage es missbilligt, in politischen Kämpfen die Ansicht und Person des regierenden Fürsten als Kampfesmittel zu verwenden. Die Verehrung und Rücksicht der Wissenschaft für die Bibel sollte darin ihren Ausdruck finden, dass man unabhängig von ihr die Wahrheit erforschte und nachträglich die Heilige Schrift so auslegte – und das war die Aufgabe der Theologen –, dass sie mit dem anderweitig für wahr Erkannten übereinstimmte. So schwer das oft auch möglich war, ein ultimum refugium blieb stets, von dem man allerdings nicht gerne Gebrauch machte; man sagte, die Bibel bequeme sich in ihrer Ausdrucksweise dem Verständnis der großen Menge an. Niemals hat Galilei, und schwerlich je ein anderer Kopernikaner, die Bibel als Beweismittel für die Lehre der Erdbewegung anführen wollen. Es ist darum einer der sinnlosesten, nichtsdestoweniger häufig gegen Galilei ausgesprochenen Vorwürfe, dass er nachmals nicht als schlechter Astronom, sondern als schlechter Theologe verurteilt worden sei. Anzunehmen, dass ihn gar Feindseligkeit gegen die Kirche beeinflusst hätte, wie es etwa bei Giordano Bruno der Fall war, ist völlig ausgeschlossen. Er war ihr gegenüber voll kindlicher, echt katholischer Fügsamkeit, die festhält an einer von frühester Jugend unauslöschlich eingeprägten Ehrfurcht vor allem, was mit der Kirche zusammenhängt, einer Ehrfurcht, die vielleicht etwas Äußerliches, Gewohnheitsmäßiges hatte, die aber ganz und gar mit ihm verwachsen, nicht künstlich gemacht war. Bis zur genannten Zeit hatte er sich über das Verhältnis der kopernikanischen Lehre zur Heiligen Schrift überhaupt nicht geäußert. Umso auffallender, dass während seines römischen Aufenthaltes seine Name zum ersten Male in den Akten der Inquisition erscheint. Es ist unbekannt, ob eine Denunziation eines seiner persönlichen Feinde vorlag, oder ob die Inquisition aus eigener Initiative dem gefährlichen Neuerer ihre Aufmerksamkeit schenkte. Denn gefährlich waren in gewissem Sinne die Lehren Galileis doch, seine Bekämpfung der Autorität des Aristoteles machte jede andere Autorität erzittern; der Heide Aristoteles und die katholische Kirche hatten insofern solidarische Interessen. Man forschte damals, ob Galilei in den InquisitionsprozessC e s a r eC r e m o n i n i s ,eines seiner ehemaligen paduanischen Kollegen, verwickelt gewesen sei. Cremonini galt damals als eine Leuchte der Peripatetiker, äußerte aber bedenkliche Ansichten bei seiner Interpretation der aristotelischen Schriften über die Seele, und stand im Geruche, atheistische Anschauungen zu verbreiten. Das persönliche Verhältnis zwischen ihm und Galilei war nicht unfreundlich gewesen, wissenschaftlich aber waren sie Antipoden. Gehörte doch Cremonini zu denen, die sich zeitlebens weigerten einen Blick durch das Fernrohr zu werfen. Gegen ihn polemisiert Galilei mehrmals im Dialog, teils mit, teils ohne Nennung seines Namens.

 

Galilei hatte damals die Absicht, sein Werk de systemate mundi, das er im Sidereus nuncius angekündigt hatte, fertig zu stellen und zu veröffentlichen. Man erwartete dies allgemein von ihm, wie nicht nur aus einem Briefe des Fürsten Cesi vom 4. August 161247, sondern auch aus den einleitenden Worten seiner 1612 erschienenen Abhandlung Trattato dei Gallegianti48 hervorgeht, beiläufig bemerkt, einer der bedeutendsten Schriften Galileis. Er zögerte indessen, sein Buch über die Weltsysteme zu vollenden, stutzig gemacht nicht sowohl durch seine Gegner als durch seine Freunde, die ihn wie z. B. Paolo Gualdo49 warnten, mit einer so phantastischen Lehre vor die Öffentlichkeit zu treten. Die Gründe, die er in der erwähnten Abhandlung für sein Säumen anführt, sind schwerlich ernst zu nehmen; denn die Bewegungsverhältnisse der Jupitersmonde, die er angeblich erst sorgfältiger erforschen wollte, sind auch späterhin im Dialog nur ganz obenhin besprochen50, und über die Sonnenflecken war Galilei im Jahre 1612 soweit im Klaren, dass er mit ihrer Hilfe die Sonnenrotation für erwiesen ansah.51 Es ist freilich nicht ausgeschlossen, dass er damals dem Werke über die Weltsysteme ein anderes Gepräge zu geben gedachte, als es nachher erhielt. Er plante vielleicht ein mehr fachwissenschaftliches Buch mit größerem mathematischem Apparat, zu welchem ihm dann allerdings noch manches Material gefehlt haben mag. Immerhin bleibt es schmerzlich zu bedauern, dass er sich durch die Ängstlichkeit seiner Freunde oder durch Bedenken welcher Art auch immer zurückhalten ließ. Seine Feinde und die immer misstrauischer werdende Kirche gewannen infolgedessen Zeit, ihm seine Aufgabe mehr und mehr zu erschweren, nicht durch neugeschmiedete Geisteswaffen, sondern durch Aufbietung der brutalen geistigen Polizeigewalt, über welche die Kirche ja verfügte. Schon wurden die theologischen Argumente mit größerer Ungeniertheit gebraucht, schon schriebL o d o v i c od e l l eC o l o m b eeine von Unwissenheit strotzende, in anmaßendstem Tone abgefasste Broschüre gegen die Kopernikaner52 – selbstverständlich war es allein auf Galilei dabei abgesehen –, in der die Heilige Schrift das letzte Argument bildete; schon entstand eine Art von Verschwörung gegen Galilei, deren Haupt sein ehemaliger Schüler, der nunmehrige Erzbischof von Florenz, Marzimedici war. Noch durfte Galilei hoffen Sieger zu bleiben, wenn er jetzt in voller Rüstung auf dem Kampfplatze erschien; er tat es nicht und versäumte so den entscheidenden Augenblick.

Zu den Widersachern Galileis gesellte sich in jener Zeit ein Mann, der, wahrscheinlich in höherem Grade, als sich im Einzelnen nachweisen lässt, verhängnisvoll in sein Leben eingegriffen hat, der JesuitenpaterC h r i s t o p hS c h e i n e r .Bei Gelegenheit von Galileis römischem Aufenthalte hatte der Ordensgenosse Scheiners,P a u lG u l d i n ,der bekannte angebliche – aber nicht wirkliche – Entdecker der nach ihm benannten Regel, auch den Demonstrationen der Sonnenflecken seitens G.s beigewohnt. Dieser erzählt nun später, dassS c h e i n e rdurch ihn zuerst von jener Entdeckung Galileis Kenntnis erhalten und infolge dieser Anregung erst seine eigenen Beobachtungen angestellt habe.53 Die Sonnenflecken waren inzwischen auch vonJ o h a n nF a b r i c i u sbeobachtet und jedenfalls von diesem zuerst in einer gedruckten Schrift erörtert worden, sodass man heute nicht mit Unrecht ihn als den Entdecker zu bezeichnen pflegt, während weder Galilei noch Scheiner seines Namens in der späteren literarischen Fehde Erwähnung tun. Scheiner gibt freilich bezüglich seiner ersten Beobachtungen später eine andere Darstellung und behauptet bereits im März 1611 und dann im Oktober desselben Jahres in Ingolstadt Fleckenbeobachtungen gemacht zu haben, ohne von anderen Bestrebungen dieser Art etwas zu wissen.54