Anja - das Geheimnis einer Familie

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Anja - das Geheimnis einer Familie
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Gabriele Schillinger

Anja - das Geheimnis einer Familie

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Anja - das Geheimnis einer Familie

Seltsame Gegenstände

Imaginäre Freundin

Unliebsame Erfahrung

Fremde

Die Hochzeit

Der ungewöhnliche Kunde

Die Flucht

Die Suche nach Verwandten

Der Ausflug

Johann in Verdacht

Die Ruhe hält nicht an

Familienstand

Die Vernissage

Neuigkeiten von der Vergangenheit

Gibt es Ruth?

Autorin

Impressum neobooks

Anja - das Geheimnis einer Familie

Anja -

das Geheimnis einer Familie

Thriller

von Gabriele Schillinger

Ein altes Haus, mitten in einem großen Wald. Meterhohe Nadelbäume, die schon Geschichte schrieben, wechselten sich mit einem saftigen Jung Wald ab, bei dem dicht aneinander gereihte Bäume nur wenig Platz für Pfade ließen. Es duftete nach feuchter Erde und Pilzen. Ab und zu ließ sich ein Reh blicken, doch das kleinste unbekannte Geräusch trieb es schnell zur Flucht.

Ein sorgfältig angelegter Gemüsegarten versorgte die im Haus wohnende Familie mit Lebensmitteln; benötigtes Fleisch wurde gejagt oder beim Nachbarn gekauft. Geschäfte waren knapp eine Gehstunde entfernt und leicht durch den Wald erreichbar. Für gewöhnlich fuhr jedoch der Vater ins Dorf, dafür hatte er sich einen holprigen autobreiten Weg frei gefahren.

Es war ein schönes Haus, abgeschieden aber nicht abgeschnitten von der Gesellschaft.

Das Ehepaar Elisabeth und Robert wohnte mit ihren Kindern in dieser kleinen Idylle, die schon viele Jahre im Familienbesitz war. Die Töchter Senta und Petra waren eineiige Zwillinge. Das Ehepaar war stolz auf die süßen Mädchen, brüstete sich gerne mit ihnen, doch von ihrer erstgeborenen Tochter Anja sollte lange niemand wissen.

Das Mädchen lebte am Dachboden, auf dem sie sich seit ihrer Geburt aufhielt. Wenn Vater Anja das Essen brachte, versperrte er hinter sich den Raum. Lange wussten die Zwillinge nichts von ihrer Schwester, denn Anja wurde versteckt und verschwiegen. Den Grund kannten nur die Eltern und da es offiziell die Kleine gar nicht gab, brauchten sie auch niemandem Erklärungen abgeben.

Es war nicht so, dass sie Anja hassten oder angeekelt von ihr waren, sie liebten sie sogar auf ihre eigene Art und Weise. Nur gab es etwas Unüberwindliches, ein Geheimnis, welches die Familie verbarg.

Anja hatte eine in die Ecke geschobene Matratze, die schon längst zu klein geworden war. Mutter hatte kürzlich frische Bettwäsche gebracht. Anja liebte den Geruch der Tücher und verharrte lange unter der Decke, um den Duft einzusaugen. Dies war einer der schöneren Tage für Anja, sie hatte eine Aufgabe, die Zeit vergehen ließ.

Auf der anderen Seite des Raums gab es einen Eimer, um die Notdurft zu erledigen und einen weiteren mit einem rostigen Wasserhahn darüber, um sich zu waschen.

Ein Fenster erhellte tagsüber das Zimmer und versorgte Anja mit frischer Luft, doch dicke Eisenstangen verhinderten, dass die Kleine hinausklettern konnte. Es wollte ja niemand, dass es sich verletzte.

Kurz nach ihrer Geburt teilte Robert den Dachboden, um ein Zimmer für sie zu errichten. Die Wände zogen sich zwei Meter in die Höhe, bis der Dachstuhl begann. Eine Decke dazwischen gab es nicht. Er verputze die Mauern, die jedoch viel zu feucht waren, um den Verputz lange zu halten. An einigen Stellen brach er großflächig ab und die nackten Ziegel kamen zum Vorschein. Wenn Anja Langeweile hatte, kratzte sie manchmal in den Fugen, doch Vater fand dies nicht besonders lustig und schimpfte lauthals, wenn er es bemerkte. Er kam dann mit einer zerbeulten Schüssel und spachtelte das Mauerwerk wieder zu. Für das Mädchen war es ein willkommener Zeitvertreib, denn nun konnte sie das Ganze erneut hinunterkratzen.

Anja war nun schon sechs Jahre alt, konnte aber kaum sprechen. Ihr fehlten jegliche sozialen Kontakte, um Worte zu lernen. Die Eltern gaben nur das Notwendigste von sich und blieben meist nur kurz im Raum. Auch besaß sie keinerlei Spielsachen, weil man Sorge hatte, dass sie sich verletzen könnte.

Ganz anders war es bei den Zwillingen, sie hatten mehr als sie brauchten. Es war viel zu viel und die Kinder konnten den Wert der Sachen nicht mehr schätzen. Das Spielzeug kugelte im ganzen Haus herum. Die meisten Gegenstände waren kaputt getreten oder erfreuten sich keiner Beachtung mehr. Die Mädchen waren zwei Jahre jünger als Anja, konnten bereits deutlich sprechen, doch ihre Wertvorstellungen waren hinter denen ihrer Schwester.

Senta und Petra waren unruhig. Es war Winter und da durften sie nicht so oft draußen sein wie im Sommer. Zudem arbeitete der Vater noch an einem Zaun der Wildschweine abhalten sollte die Kinder zu verletzten. Wenn Robert den fertig gestellt hatte, durften die Mädchen auch einmal alleine vorm Haus spielen. Mutter könnte dann die Beiden vom Fenster aus beobachten und trotzdem ihre Arbeit in der Küche erledigen.

Es war soweit, Vater hatte den Zaun fertig. Die Zwillinge konnten es kaum erwarten. Sie schlüpften schnell in ihre Jacken, zogen sich Stiefel an und vergaßen fast auf die Kopfbedeckung. Mutter hielt sie zurück. Ohne Haube Fäustlinge durfte im Winter niemand außer Haus.

Vor der Türe war ein schmaler Weg frei geschaufelt, doch dieser war für die Mädchen uninteressant. Sie warfen sich gleich in den hohen Schnee und versanken fast gänzlich darin. Lautes Lachen hallte durch den Wald.

Anja hob ihren Kopf vom Polster, sie hörte die Stimmen ihrer Schwestern. Sie konnte die gesprochenen Worte nicht zuordnen, aber die Gefühle darin erahnen. Da sie nun groß genug war, um aus dem Fenster zu schauen, das sich genau oberhalb der Haustüre befand, sah sie die Mädchen im kalten Weiß herumtollen. Wie sich Schnee anfühlte, wusste Anja, denn manchmal blieb ein wenig an den Eisenstangen hängen. Anfangs erschrak sie noch, weil er in den warmen Händen schnell schmolz und dann zu Boden tropfte. Diese Verwandlung war ihr bis heute noch unklar, ebenso warum er vom Himmel auf die Erde tanzte.

Schnee war zu ihrem Spielzeug geworden. Sie konnte ihn formen oder einfach aufessen.

Petra und Senta bewarfen sich mit Schneebällen und lachten herzhaft, wenn sie getroffen hatten. Anja hatte eine Idee. Sie griff aus dem Fenster, holte sich eine Handvoll Schnee vom kleinen Fensterbrett, formte wie ihre Schwestern eine Kugel daraus und warf sie zwischen den Stangen hinaus. Der Ball landete genau vor den Füßen der übermütigen Kinder. Sie hoben den Kopf und erblickten Anja am Fenster. Sie erschraken derart, dass sie laut schreiend ins Haus stürmten. Mit groß aufgerissenen Augen und zitternden Händen zeigten sie nach oben. Robert ahnte, was passiert sein musste, Anja hatte die Zwillinge erschreckt oder gar bedroht. Die Beiden hörten bereits, wie die Eltern von dem Mädchen am Dachboden sprachen und wie gefährlich sie war. Auf keinen Fall durfte man ihr in die Augen schauen, sonst schlich sie sich in den Kopf und machte einen verrückt. Wenn die Eltern das sagten, dann musste es doch wahr sein.

Anja hatte keine Ahnung, was los war. Sie vernahm zwar, dass sich die Zwillinge fürchteten, aber weshalb, war ihr nicht klar. Sie wollte doch nur ein wenig mit ihnen spielen, auch so viel Spaß haben wie die anderen Kinder. Traurig setzte sie sich wieder auf die Kante der Matratze. Plötzlich waren schwere Schritte auf der Treppe zu hören.

Vater betrat mit wütendem Gesichtsausdruck den Raum. Er stapfte zu Anja und schlug ihr ins Gesicht, sodass die Lippe aufplatzte. Ein Tropfen Blut suchte sich den Weg zum Kinn, was Roberts Zorn jedoch nicht bremste. Laut schimpfend zog er sich den Gürtel aus den Hosenschlaufen und drosch damit mehrmals auf seine Tochter ein. Bevor er endgültig ging, versetzte er ihr noch einen Fußtritt. Anja lag am Boden und weinte. Ihr Körper schmerzte, die Haut brannte und das Herz schien gebrochen. Weshalb war dies eben passiert? Was hatte sie falsch gemacht?

Sie dachte daran, was sie ihren Eltern bloß damit antat, dass es sie überhaupt gab. Sie machte ihnen doch nur Arbeit und Probleme. Anja gab sich selbst die Schuld, einfach nur, weil sie existierte.

 

An diesem Abend bekam sie nichts zu essen, auch erkundigte sich niemand nach ihren Wunden. Noch immer kullerten Tränen über die Wangen. Es lag auf der Hand, sie war einfach anders. Bei niemandem sonst sah sie jemals, dass aus den Augen Wasser tropfte. Auch die rote Flüssigkeit aus den Lippen war seltsam und schmeckte metallisch, fast wie der rostige Wasserhahn im Raum.

Im Winter wurde es schnell dunkel und da es kein Licht im Zimmer gab, kroch sie vorsichtig unter ihre Schlafdecke. Jede Bewegung schmerzte, selbst die Bettwäsche fühlte sich auf den Gürtel Striemen hart an. Obwohl sie nichts gegessen hatte, spannte der Magen. All die Traurigkeit schien sich darin eingenistet zu haben. Jedes Mal, wenn sie an Vaters Gesichtsausdruck dachte, schien ihr Herz zu zerplatzen.

In dieser Nacht schlief Anja erst spät ein. Sie hatte Angst, dass er noch einmal zurückkommen könnte. Am besten sie war ganz leise, so als wäre sie gar nicht da.

Senta und Petra schliefen ebenfalls schlecht. Das Mädchen am Dachboden wollte ihnen nicht aus dem Kopf gehen. Es schaute überhaupt nicht so gefährlich aus. Dennoch musste stimmen, was die Eltern erzählten, denn weshalb sonst dachten sie noch immer an sie? Bestimmt war dieses seltsame Mädchen bereits in ihre Köpfe eingedrungen.

… Hoffentlich kommt sie nachts nicht ins Zimmer. Hoffentlich hatte Vater ein gutes Schloss an ihre Türe gemacht, damit dieses Wesen nicht ausbrechen konnte …

Als Anja aufwachte, erinnerte sie gleich die erste Bewegung an den Vorfall am Tag zuvor. Ein Stich durchfuhr ihr Herz und erneut liefen Tränen aus den noch verquollenen Augen. Wut und Verzweiflung stiegen langsam in ihr hoch. Diese richteten sich aber nicht auf den Vater, oder ihren Schwestern, sondern viel mehr auf sich selbst. Warum hatte sie bloß den Schneeball hinuntergeworfen? Sie begann sich mit den eigenen Fäusten auf den Kopf zu schlagen, als wollte sie sich selber bestrafen, dass es sie überhaupt gab. Irgendwann versank sie in eine mehrstündige Ohnmacht. Niemand bemerkte es, denn an diesem Tag öffnete sich kein einziges Mal die Türe zu ihrem Zimmer. Es gab weder Essen, noch jemanden, der nach ihr sah.

Senta und Petra warfen Schneebälle an Anjas Fenster. Auch wenn die Angst noch so groß war, die Neugier siegte. Anfangs versteckten sie sich hinter einem Baumstamm, später jedoch wurden sie mutiger. Anja lag allerdings noch ohnmächtig in ihrem Bett und konnte den Einsatz der Zwillinge überhaupt nicht wahrnehmen.

Erst am nächsten Morgen erwachte Anja wieder. Vater brachte Frühstück und stellte es wortlos auf den kleinen Tisch vor dem Fenster. Als Anja sich langsam aufsetzte, jammerte sie leise vor sich hin. Jede Bewegung tat weh. Nun bemerkte sie, wie ausgetrocknet ihr Mund war und ging ganz vorsichtig zu dem Tablett, auf welchem Tee stand. Es war selten, dass Anja Tee bekam, meist war es ein Krug Wasser oder verdünnte Milch. Gierig führte sie die Tasse zum Mund, was zur Folge hatte, dass die angeschwollene Lippe erneut aufplatzte.

Ein paar Stunden später kam Mutter ins Dachgeschoß. Sie schaute ihrer Tochter fast nie ins Gesicht, aber Anja kannte jedes Detail in dem ihren. Sie näherte sich mit einer Tube Salbe in der Hand und hockte sich vor das Mädchen. Ganz vorsichtig cremte sie die blauen Flecken am Körper ein - eine Zärtlichkeit, die Anja bisher nicht kannte. Das Mädchen wollte diesen Augenblick niemals vergessen. Er würde auch in Zukunft noch oft über schmerzhafte Momente helfen.

Als Elisabeth ihren Mann vorm Haus hörte, steckte sie schnell die Salbe in ihren Schurz. Sie erhob sich und eilte wieder aus dem Raum. Anja konnte Furcht in den Augen ihrer Mutter sehen. Hatte auch sie etwa Angst vor Vater?

Es dauerte lange bis die Schmerzen nachließen und die Flecken auf der Haut verblassten, doch die Narben im Herzen blieben.

Anja dachte viel darüber nach, weshalb sie so einsam im Dachgeschoß leben musste. Es konnte nur an ihrer Andersartigkeit liegen und dass sie so viele Fehler machte. Doch was war eigentlich anders an ihr?

Bislang dachte sie immer, alle kleinen Wesen schauten so aus wie die Zwillinge, also auch sie selbst. Sollte das etwa nicht der Wahrheit entsprechen? Sie hatte sich noch nie in einem Spiegel gesehen, geschweige denn gewusst, dass es einen gab. Vielleicht war sie so hässlich wie der Postbote?

Die Gedanken des Mädchens drehten sich im Kreis.

Langsam verabschiedete sich der Winter. Selbst als Vater nach dem Abendbrot das Geschirr und die Laterne holte, konnte das Mädchen noch ein paar Umrisse im Raum erkennen. Anja freute sich schon auf den Frühling, denn der brachte wieder etwas Wärme. Zudem kehrten die Vögel wieder zurück und sangen ihr den ganzen Tag über Lieder vor. Der Wortschatz des Mädchens machte kaum Fortschritte. Sie kannte nur den Namen einzelner Dinge, doch für ganze Sätze reichte es noch lange nicht. Robert zeigte meist nur auf den Teller, befahl mit einem Wort, dass sie essen sollte. Mehr kam da meist nicht. Die Worte der Schwestern waren nicht immer verständlich, oder vom Fenster aus einfach zu leise.

Seltsame Gegenstände

Jahre vergingen und die Schwestern besuchten bereits die Schule, lernten rechnen, lesen und schreiben. Anja hingegen wusste nicht einmal, dass es eine Schule gab, geschweige denn kannte sie Buchstaben. Sie sah die Zwillinge jeden Morgen das Haus verlassen. Sie trugen schwere Rucksäcke am Rücken und ein Elternteil ging mit ihnen fort. Erst am Nachmittag kehrten sie wieder nach Hause zurück. Anja beobachtete, wie sich das Verhalten der beiden über die nachfolgenden Monate veränderte. Sie konnte es nicht erklären, fühlte aber, wie die Sorglosigkeit der Schwestern schrittweise verschwand.

Anjas Erlebniswelt war vor dem Fenster. Sie schaute oft den ganzen Tag hinaus, beobachtete wie der Schnee schmolz, die Bäume grüne Triebe bekamen, die Vögel ihre Lieder sangen, die Blätter wieder abfielen und der Himmel neuen Schnee auf die Erde tanzen ließ.

Anja bemerkte, dass ihre Kleidung zu kurz wurde und nicht mehr den ganzen Körper bedeckte. Im Sommer war dies nicht schlimm, aber an kalten Tagen fröstelte sie oft. Wie lange sie diese Kleider wohl schon hatte?

Auch die Zwillinge waren gewachsen und schienen nicht mehr dieselben Mäntel zu tragen. Leute, die sie vorher kaum auseinanderhalten konnten, hatten es nun leichter. Sie merkten sich einfach die Lieblingsfarben der Einzelnen und wussten dann bald, mit welcher der beiden sie es zu tun hatten. Sofern sie nicht absichtlich einen Streich planten. Anja kannte sie aber auch so auseinander, denn Senta war die Ruhigere und Petra die Quirligere. So war es auch Petra, die manchmal noch zum Fenster im Dachgeschoß sah. Auch wenn es nur ein kurzer Blick war, Anja freute sich darüber, denn es bedeutete, dass sie nicht ganz vergessen war.

Nachmittags schien die Sonne ins Zimmer. Das Mädchen liebte es, mit ihrem Schatten zu spielen. Meist kamen die Zwillinge in ihren Geschichten vor. Anja stellte Situationen nach, als die Zwei noch klein waren. Sie vermisste die Schneeballschlachten ihrer Schwestern. Auch als sie früher Verstecken oder Nachlaufen spielten und herzlich dabei lachten. Obwohl Anja wusste, dass die Zwillinge im Haus waren, konnte sie kein Gepolter oder Gequietschte der beiden hören.

In der Nacht kühlte es ein wenig ab, stundenlang prasselte der Regen aufs Fensterbrett. Anja mochte den Regen, denn das Plätschern beruhigte sie und es roch nach frischer Erde.

Als Vater am Morgen Brot und ein Glas verdünnte Milch brachte, warf er einen Bogen Papier und Stifte auf den Boden. Ohne ein Wort ging er wieder hinaus und versperrte die schwere Holztür. Anja schaute die Sachen ängstlich an. Sie hatte keine Ahnung, was das war. Nachdem sie ihr Brot gegessen hatte, schlich sie vorsichtig um die seltsamen Eindringlinge.

Mit der Zehenspitze berührte sie einen der Stifte, der daraufhin zu rollen begann. Erschrocken hüpfte das Mädchen auf die Matratze. Erst als er wieder in Ruhe war, getraute sie sich erneut die Dinge zu umkreisen. Lange beobachtete sie die Fremdkörper. Ab und zu berührte sie einen der Stifte, um zu testen, wie sie sich verhielten.

Die Neugier wuchs, die Angst wurde kleiner. Der Papierbogen fühlte sich kühl an. Sie legte sich ein Blatt auf die Wange, was sichtlich angenehm war. Weil im Sommer die Temperatur im Raum meist sehr hoch war, beschloss sie, die kommenden Nächte auf dem Papier zu schlafen. Es dauerte nicht lange und aus den Bögen wurden viele kleine Teile. Vater war wütend, er zog Anja an den Haaren. Zur Strafe kam er mit einer Schere ins Zimmer und schnitt ihr die langen Haare ab.

Das Mädchen weinte und wusste wieder, dass es anders war.

Lange schaute es auf die am Boden liegenden Büschel. Sie legte sich die Strähnen auf den Kopf, doch wollten sie nicht oben bleiben. Selbst das darauf Herumklopfen half nichts. Anja verstand nicht, weshalb ihr Vater das getan hatte. Er war wütend, doch weshalb?

Immerfort griff sie nach den kurzen, ungleich geschnittenen Haaren. Sorgfältig sammelte sie die abgeschnittenen Strähnen vom Boden auf und legte sie auf das Kopfpolster. Vielleicht waren sie ja am nächsten Morgen wieder angewachsen. In der Früh jedoch waren sie im ganzen Bett verstreut und kitzelten am ganzen Körper.

Eine Woche später brachte Robert erneut Papier. Er knallte den Bogen auf den Tisch, die Stifte legte er daneben, warf Anja einen bösen Blick zu und ging wieder.

Nachdem sich das Mädchen nicht mehr getraute, die Sachen anzugreifen, kam eines Tages Mutter in den Raum. Es war äußerst selten, dass sie die vielen Stufen hochstieg, denn es erschöpfte sie viel zu sehr. Elisabeth war nicht so hysterisch wie der Vater. Manchmal dachte das Mädchen sogar ein kleines Lächeln in ihren Mundwinkeln zu entdecken.

Sie hockte sich vor den Tisch und hielt Anja die Hand entgegen. Das Mädchen erhob sich langsam und ging vorsichtig auf sie zu. Die Mutter nahm einen der Stifte und begann eine Blume zu zeichnen. Anjas Augen waren groß aufgerissen und konnten sich kaum von der Skizze lösen. Der Mutter huschte ein kurzes Grinsen über das Gesicht.

Anja wusste, dass Vater weggegangen war, denn sie konnte fast alles vom Fenster aus beobachten. Mutter hielt ihr einen Stift hin und zeigte, wie sie ihn halten sollte.

Robert kam wieder zurück, da sprang Elisabeth mit einem Ruck hoch, eilte zur Türe und verschwand.

Anja strich sanft über die gezeichnete Blume. Ihr war klar, dass Vater nicht wissen durfte, dass seine Frau bei ihr oben war, deswegen versteckte sie schnell das wunderschöne Werk.

In Laufe der Jahre lockerte sie da und dort einmal einzelne Ziegel, die ihr als kleine Schatzkammern dienten. Hinter dem einen lag eine Vogelfeder, in einem anderen wiederum eine Nuss oder eine Strähne ihrer eigenen Haare. Viele der Sachen trug entweder der Wind, oder so mancher Vogel ans Fenster. Die Zeichnung bekam jedoch einen Ehrenplatz, gleich über ihrer Schlafstelle. Sie sollte sie in dunklen, kalten Tagen im Schlaf beschützen.

Anja betrachtete den Stift in ihrer Hand. Die angespitzte Seite pikste ein wenig, wenn man mit dem Finger darauf drückte. Mutter konnte mit dieser Seite Striche auf das Papier zeichnen, vielleicht gelang es auch ihr? Ungeschickt hielt sie den Stift in der kleinen Hand und zog vorsichtig über den Bogen. Eine fast durchsichtige Linie erschien verwackelt auf der Seite. Anja musste ganz nah heran, um sie sehen zu können und doch erfreute sie ihr Werk. Es folgten noch viele dieser Linien, eine stärker, die andere wiederum schwächer aufgetragen. Der Stift wurde ihr langsam vertrauter. Obwohl es noch sehr unbeholfen aussah wie sie ihn hielt, schien sie die Sache zunehmend unter Kontrolle zu haben. Sie malte solange verschiedene Formen, bis die Mine bis aufs Holz abgeschrieben war oder wegen des starken Drucks brach. Zum Glück hatte sie noch weitere Stifte, die aber auch bald verkritzelt waren. Zum Schluss verwendete sie noch die abgebrochenen Minen, bis auch diese zu Ende waren. Ob Vater ihr noch etwas davon bringen würde?

Anja schaute aus dem Fenster. Eine leichte Brise bewegte die Blätter auf den Bäumen, die ein gleichmäßiges Rascheln von sich gaben. Oben auf der Krone eines der Laubbäume wurde fleißig an einem Vogelnest gebaut. Bald würden dort kleine Vogeljunge einziehen, die das Mädchen dann beobachten konnte. Ach wäre es nicht schön, solche Momente auf dem Papier festhalten zu können?

 

Vater hatte schon vor einiger Zeit gesehen, dass die Stifte aufgebraucht waren. Obwohl es Anja meist unheimlich war, wenn er nach oben kam, freute sie sich darüber, wenn es um ihr neues Spielzeug ging. Er kniete sich plötzlich vor den Tisch und spitzte die abgebrochenen Stifte mit seinem Messer an. Als er das Lächeln im Gesicht seiner Tochter sah, schenkte er ihr einen bösen Blick, was Anjas Lächeln schnell verschwinden ließ. Als er wieder gegangen war machte sie sich Vorwürfe. Wie konnte sie es wagen, ihn anzulächeln? Sie, das Unglück im Leben der Eltern. Hoffentlich war er ihr nicht allzu böse und nahm ihr die Stifte wieder weg. Als das Abendessen kam, war sie erleichtert, denn es schien alles soweit in Ordnung zu sein.

Senta und Petra hatten Freundinnen zu Besuch. Sie hielten sich vor dem Haus auf und machten viel Lärm. Anja war sehr erstaunt, dass die fremden Mädchen so ganz anders aussahen, als ihre Schwestern. Sie dachte immer alle Kinder schauten gleich aus. Nun kamen Zweifel auf, ob sie den Zwillingen überhaupt gleich war. Also die Haare waren es nicht mehr, denn die Schwestern hatten schönes langes Haar, Anjas jedoch war ungleich und kurz geschnitten. Genau beobachtete sie die Unterschiede an den Kindern. Es war nicht nur das Aussehen, auch die Körperbewegungen, Stimmen und deren Haltung war komplett unterschiedlich.

Da Anja beim Belauschen der Zwillinge ein paar Worte erlernte, versuchte sie heraus zu bekommen, um was es in deren Gespräche ging. Die Freundinnen betonten jedoch manches anders, so dass dieser Umstand und ihr spärlicher Wortschatz kaum ausreichte sie zu verstehen.

Die Mädchen redeten durcheinander, lachten eigenartig schrill und schubsten sich zum Spaß gegenseitig weg. Anja wurde das Gequietschte zu viel. Sie zog sich vom Fenster zurück, verschloss es und hielt sich die Ohren zu. Der Lärm ließ es in ihrem Kopf drehen und brachte eine innere Unruhe hervor. Sie war die Stille im Wald gewohnt, Vogelgesang, das Rauschen der Blätter, Regentropfen, oder einzelne Stimmen, aber nicht das unangenehme Geschrei, welches die natürlichen Geräusche verdrängte. Erst als die Mutter zum Abendessen rief, verabschiedeten sich die fremden Kinder und gingen ihres Weges. Anja war erleichtert, brauchte aber noch lange, um sich wieder zu beruhigen. Leider kamen die Freundinnen der Zwillinge von da an öfter zu Besuch. An diesen Tagen lag Anja meist im Bett, mit dem Kissen auf den Kopf gedrückt, um dem Lärm zu entfliehen. Als die Schulferien vorbei waren wurde es ruhiger. Endlich konnte sie wieder beim Fenster hinausschauen, Vögel belauschen und das Treiben im Wald beobachten. Am Himmel zogen dunkle Wolken auf, welche ständig ihre Formen wechselten. Bald darauf begann es zu regnen. Das Trommeln am Fenster klang wie ein Lied, das eine Geschichte erzählt. Sie lauschte aufmerksam dem Geklopfe und schlief schließlich dabei ein.

Die Wochen vergingen und Anjas Zeichnungen nahmen langsam Form an. Immer wieder beobachtete sie die Natur. Man konnte fast sagen, sie studierte jedes einzelne Baumblatt, Tiere, Schatten und den Himmel.

Wenn Vater Nachschub an Papier und Stifte brachte, nahm er einfach einige ihrer Zeichnungen mit, den Rest warf er verknüllt in einen Eimer. Wenn das Mädchen sich eine der Skizzen aufbewahren wollte musste sie einen neuen Ziegel lockern, um sie dahinter zu verstecken. Zum Glück zählte Robert nie die Papierblätter nach, ansonsten hätte er es bemerkt und wäre wieder wütend geworden. Anja wusste nicht was mit den Zeichnungen passierte. Es reichte ihr einfach nur kritzeln zu können, Spaß dabei zu haben. Irgendwie war sie auch Stolz darauf, wenn der Vater welche davon mitnahm, dann waren sie wahrscheinlich gut gelungen.

Eines Tages brachte Robert drei Äpfel in Anjas Zimmer. Er stellte sie sorgfältig auf den Tisch. Das Mädchen war verwirrt. Meist bekam sie nur einen davon und diesen auf einem Tablett mit den restlichen Speisen. Immer wieder tippte er auf die Äpfel und dann auf ein Blatt Papier. Anja verstand, sie sollte die Äpfel nicht gleich essen, sondern zuerst zeichnen. Es war eine schwierige Aufgabe, denn auch wenn sie sich noch so sehr konzentrierte lief ihr das Wasser im Mund zusammen. So wunderschöne und makellose Früchte bekam sie ansonsten nie. Nachdem sie mit der Zeichnung zufrieden war, griff sie nach einen der Früchte und aß sie gierig. Danach kam die Angst, wie der Vater wohl reagiere, wenn nur mehr zwei der Äpfel da waren. Als sie ihn auf der Treppe hörte verkroch sie sich schnell ins Bett. Vielleicht tat er ihr nichts, wenn er dachte sie schläft. Anja hatte Glück er nahm die Zeichnungen, die zwei Äpfel und ging wortlos. Schade, dass er auch das Obst mitnahm, hätte sie es bloß versteckt.

Es war Herbst. Anja war wieder ein großes Stück gewachsen und bekam ein neues Kleid, welches ihr ein bisschen zu lang war, aber dafür mehrere Jahre passen würde.

Der Wind wurde heftiger, die Tage wieder kürzer und so auch die Zeiten, zu denen genug Licht zum Zeichnen waren. Wie ein Wunder kam es ihr vor, als Vater einmal die Öllampe von Mittag bis spät abends auf den Tisch stehen ließ. Zuerst dachte sie er hätte einfach auf die Lampe vergessen, doch nachdem dies öfter geschah, bemerkte sie seine gute Absicht dahinter. Welch gnädiger Mann er doch war, einer so missratenen Person wie ihr ein solches Geschenk zu machen. Welch ein Glück sie hatte, obwohl so viel Arbeit mit ihrer Existenz verbunden war, sie bekam Licht und Essen. Anja hielt gerne an den Gedanken fest, dass Vater ihr gut gesinnt war.

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