Salzgras & Lavendel

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

3.

Sechs Tage später. Claire Paulson parkt ihren Wagen vor der Polizeiwache Stadtmitte. Der Platz ist für Gäste ausgewiesen, was bei ihr ein mildes Lächeln provoziert. Die Professorin fühlt sich nicht wie eine Besucherin, zu oft ist sie hier. Jeden Montag, jeden Donnerstag und wenn Not am Mann ist. Heute ist Freitag, heute ist Notstand.

Auf dem Weg zum Polizeipräsidium wurden ihr die wichtigsten Informationen direkt in ihr E-Pad hochgeladen. Sie hat sich die Audiodatei des Notrufs immer wieder angehört. Hat eine Besonderheit gesucht, aber keine gefunden.

Trotzdem hat der Fall ihr Interesse geweckt. Das bedeutet, dass sie für den Menschen kämpfen wird, der hier festgehalten wird. Es geht heute also nicht um eine beliebige schnelle Beurteilung, ob der Betroffene in vollem Umfang straffähig ist oder nicht. Es geht auch nicht um eine Einweisung in eines der üblichen Zentren für angewandte Diversität und Stabilisierung, in denen in Doppelschichten gearbeitet wird. Nein, Paulson spürt, dass dies ein Fall für sie ist.

Sie geht flüchtig die Wartelisten für Zenith durch. Es gibt niemanden darauf, der es nicht auch ohne angestrebte Verfeinerung durch den Tag schafft. Sie hat sich das Recht auf die Bevorzugung von Notfällen vorbehalten, und das ist auch gut so.

Sie erinnert sich an den letzten Monat, als sie die Arbeit mit dem dunkelhaarigen, verschlossenen Mädchen abgeschlossen hat, Santana Cruz. Soweit sie informiert ist, hat die junge Frau sich gut in ihr neues Leben eingefügt. Die Nachkontrolle erfolgt in einem Zentrum in der Stadt, das ihr regelmäßig über die Fortschritte ihrer ehemaligen Besucherin berichtet. Ein Monat ist nicht besonders aussagekräftig für die Langzeitwirkung der Behandlung, ist aber immerhin ein Anfang.

Paulson seufzt und streicht sich die kurzen grauen Locken aus dem Gesicht. Was bringt es, sich mit alten Federn zu schmücken? Hier wartet ein anderer Mensch auf ihre Hilfe.

Entschieden öffnet sie den Wagenschlag, nimmt ihre Tasche und steigt aus. Nachdem der Wagen zum Laden an den Strom angeschlossen ist, wendet sich die Professorin dem Gebäude zu. Schmal ist es, hoch ist es. Auf der Frontseite leuchtet das Doppellogo von Polizei und MedCon in Blau.

Am Empfang wird sie freundlich begrüßt, der Besucherausweis wartet bereits auf sie. Sie nickt dem Beamten zu, der ihr den zuständigen Sachbearbeiter nennt. Es ist Jackson, sehr gut. Mit dem groß gewachsenen Mann, der seinen Enthusiasmus und die Liebe zum Menschen auch nach achtzehn Jahren an vorderster Front nicht verloren hat, kann sie gut zusammenarbeiten. Er ist da wie sie. Er sieht Menschen vor sich, keine Fälle.

Während der Lift sie zum neunzehnten Stock bringt, sammelt sich die Professorin. Sie entscheidet sich gegen eine weiterführende Akteneinsicht, die vorliegenden Daten wurden ihr inzwischen durchaus übermittelt. Sie will sich aber den Kopf frei halten, will sehen, wer das ist, der scheinbar kaltblütig einen anderen Menschen vor einen einfahrenden Zug geworfen hat. Sie will sich nicht von Bildern korrumpieren lassen.

Der Lift bremst sanft ab. Mit einem hellen Klang gleiten die Türen des Fahrstuhls auseinander. Paulson hebt den Kopf und lächelt zu Jackson hinauf, der sie bereits erwartet.

»Du siehst bezaubernd aus, wie immer«, strahlt er sie an und schüttelt die ihm dargebotene Hand, nachdem sie dem Lift entstiegen ist.

Es sind genau diese Augenblicke, die Paulson die nüchterne Umgebung vergessen lassen. Mit Jackson ist es so, als ob man sich auf einen Spaziergang verabredet hätte. Zumindest im ersten Moment. Und dafür liebt sie ihn im Rahmen ihres aktiven Ichs. Der zweite Moment kommt allerdings schneller als gedacht, er zückt die Akte, die er unter den linken Arm geklemmt hat, und wedelt damit in der Luft herum.

»Eine interessante Selbstauskunft haben wir hier.«

Paulson hebt eine Braue. »Die hattest du mir noch gar nicht eingespielt, Theodore.«

»Weil sie noch nicht da war. Der Bursche hat sich erst vor fünf Minuten dazu hinreißen lassen, überhaupt etwas zu schreiben.«

Paulson runzelt die Stirn. Jackson sieht es und führt sie sanft am Ellenbogen über den Gang. »Er ist noch im Vernehmungsraum. Das bedeutet, du kannst dir hinter dem Spiegel einen ersten Eindruck verschaffen, während du dir durchliest, was er uns zu sagen hat.«

Paulson nickt. »Gute Idee, Theodore. Dann schau ich ihn mir mal an. Begleitest du mich?«

Der lässt sich das nicht zwei Mal sagen. Einen Moment später öffnet er bereits die Tür zum Büro hinter Vernehmungsraum 4.

Paulson tritt in das halbdunkle Zimmer, übernimmt die Akte. Während sie sie aufschlägt, blickt sie in den Raum jenseits des Spiegels und hebt erstaunt eine Braue.

Da sitzt ein Mann, der sich nach Hilfe umsieht. Er scheint gar nicht zu wissen, warum er hier ist. Vielmehr scheint er eine Erklärung einfordern zu wollen. Er sitzt da, sehr aufrecht, sehr kontrolliert. Sehr steif. Dann, aus dem Nichts heraus, verändert sich seine Erscheinung. Seine Schultern sind gekrümmt, hochgezogen. Er wirkt nicht wie jemand, der genau weiß, dass er etwas Schlimmes getan hat und dies herunterspielen will. Er reagiert nicht mit Kaltschnäuzigkeit. Da ist auch kein bewusstes Einstehen für Schuld, für etwas, das vorsätzlich begangen wurde. Der Mann sieht aus wie ein geprügelter Hund. Er wirkt durch und durch verängstigt. Mit einem Mal greift er sich hinter das rechte Ohr, reibt wie besessen an der Stelle, wo sein Socket sitzt, bis er wieder so kontrolliert wirkt, wie noch vor einem Augenblick.

Paulson hebt eine Braue. Sollte es wieder die Hardware sein?

Endlich wirft sie einen Blick auf das Blatt, das zwischen den Aktendeckeln liegt.

»Er war im Weg«, steht da in groben Buchstaben hingeworfen.

Kaynee steht vor dem Spiegel, schon seit einiger Zeit. Die Feuchtigkeit wurde bereits von der warmen Luft aufgesogen, die spiegelnde Fläche ist nicht mehr beschlagen und gibt den Blick frei auf ein leeres Gesicht. Kaynee starrt sich in die Augen und erkennt sich nicht. Sie weiß nicht, wer der Mensch ist, der ihr da aus den Tiefen des Spiegelglases entgegenschaut. Sie hat das Zeitgefühl verloren. In ihrem Kopf ist alles still.

Das ist auf der einen Seite erholsam. In der letzten Zeit gab es oftmals ein schieres Tohuwabohu – hinter der Kellertür ist es laut gewesen, so laut, dass es inzwischen auch Kora und mitunter sogar Keira gemerkt haben. Kaynee hat immer wieder Notizen auf ihrem E-Pad gefunden, die sie auf die Notwendigkeit einer Nachjustierung hinweisen, in immer kürzeren Abständen.

Aber das heißt immer noch: Sanders fragen. Seitdem Kandy mit Stan geschlafen hat, ist Kaynee die Vorstellung unangenehm. Sie hat sich ferngehalten von ihm und das Zimmer nur verlassen, um in der Cafeteria einen Happen zu essen, wenn der Körper sich nicht mehr verleugnen ließ. Was, wenn Sanders einen Fehler begeht, sodass Kandy Kaynees Ich vollkommen übernimmt? Was, wenn er das absichtlich machen würde? Fragen, so viele Fragen – und auf einmal so viele Ängste. Das ist Kaynee nicht gewohnt. Sie weiß nicht, wie sie damit umgehen soll.

Auf der anderen Seite fühlt sich die Stille nicht gut an. Diese Stille lauert darauf, dass ein Sturm losbricht. Es ist keine erholsame Ruhe, in die man sich rücklings fallen lassen kann, um zu schlafen, einfach fortzudämmern nach einem vollgepackten Tag.

Kaynee berührt ihr Gesicht mit den Fingerspitzen der linken Hand. Die Rechte hält ihr Badelaken zusammen. Sie spürt die Berührungen, ganz sanft. Und sie lächelt mit einem Mal. Ihr Spiegelbild lächelt auch. Kaynee beruhigt sich ein wenig. ›Ich tue etwas‹, denkt sie, ›und es hat eine Resonanz. Also bin ich lebendig.‹ Aber immer noch ist sie sich selber so fern wie noch nie. Und alleine, wie nie. Es ist zu still in ihr.

Mit einem Mal öffnet sie die rechte Hand. Das Laken fällt zu Boden und gibt den Blick auf ihren Körper frei. Kaynee betrachtet sich, als habe sie sich noch nie so gesehen wie in diesem Moment. Sie sieht, dass ihr Busen klein ist. Eine Handvoll, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ihre Taille ist nicht stark ausgeprägt, die Linien ihres Körpers schwingen sich sanft auswärts, umspannen ihre Hüfte und finden in der Mitte der Oberschenkel wieder zueinander. Ihre Scham wirkt wie ein Birnenkern, umgeben von weißem Fruchtfleisch. Die Beine sind lang und schlank, die Fesseln schmal und zierlich. Das ist also Kandys Hab und Gut, denkt Kaynee sich. Aber ohne Kandy inside ist es eben nur Fleisch. Kaynee streicht sich mit der rechten Hand, die bislang auf ihrem Solarplexus geruht hat, über den Bauch. Er wölbt sich leicht nach vorne, ist glatt, ist kühl. Wo ist die Wärme hin?

Kaynee fängt an zu zittern. Sie weiß nicht, ob es ihrem Inneren entspringt oder eine natürliche Reaktion ist, die der Verdunstungseffekt zu verantworten hat.

Aber wo sich Kora oder Karen sonst eingeschaltet hätten, bleibt noch immer alles stumm. Kaynee ist hilflos. Sie weiß nicht, was sie als Nächstes tun soll. Sie blickt auf ihr E-Pad. Aber auch dort – keine Nachricht.

Kaynees Unbehagen verlässt das Stadium der Besorgnis, kippt über in Angst. Ihr ist, als ob sie gleichzeitig vor und zurück tänzelt, sich damit aber in jeder Richtung behindert. Der Drang, etwas zu tun, wird immer größer in ihr. Nur was? Und warum? Welche Aufgabe hat sie in dieser Welt? Wer ist sie überhaupt?

Das Zittern verstärkt sich. Kaynee hat inzwischen beide Hände gesenkt, zu Fäusten geballt. Jetzt schließt sie die Augen. Sie muss vor dem Menschen fliehen, der ihr aus dem Spiegel entgegenstarrt und der sein Lächeln schon vor etlichen Momenten wieder verloren hat. Sie will vor dem Körper fliehen, der nicht mehr als ein Instrument in der Hand einer durchgeknallten Egoistin ist. Sie will sich wiederfinden, also wendet sie sich nach innen und geht auf Wanderschaft in dem Haus ihres Geistes, ihrer Entität.

 

Es ist nicht vollkommen dunkel darin. Da ist ein Notlicht, das den Flur in ein krankes grünes Licht taucht. Die Türen sind geschlossen. Kaynee läuft auf Zehenspitzen über den Gang. Sie weiß nicht, was sie tun soll. An eine der Türen klopfen? Sie will nicht stören. Das wollte sie noch nie. Stören ist etwas, das man in ihrer Welt einfach nicht macht. Beinahe wünscht sie sich eine knarrende Diele herbei, die wieder Leben in das ganze Gefüge bringt. Aber es knarzt nichts, nirgends.

Nachdem Kaynee ihren Rundgang im Erdgeschoss erfolglos abgeschlossen hat, steht sie wieder in der Diele. Sie könnte in das Obergeschoss hinaufsteigen und schauen, ob Kora sich in ihrem Büro verschanzt hat und über den Plänen für den Tag sitzt. Aber Kaynee hat das Gefühl, dass auch dies vergebene Liebesmüh wäre. Bleibt noch der Keller. Ken. Die Cloud. Ihre Dämonen. Kaynee fürchtet sich vor dem Keller. Aber Kandy nicht. Vielleicht. Sollte. Sie …

Kaynee presst die Hände so fest zusammen, dass sich ihre Nägel halbmondförmig in die Handteller graben. Sie holt tief Luft und geht Schritt für Schritt auf die Treppe zu, die ins Untergeschoss führt. Sie geht die ersten Stufen hinunter, langsam, sehr langsam. Die Treppe macht eine Biegung um neunzig Grad nach links.

Endlich ist Kaynee angelangt. Hier unten gibt es kein Notlicht. Oder es ist ausgefallen. Es ist dunkel, das ist, was zählt. Sie lauscht. Da, ein Scharren hinter der Tür. Kaynee weiß, hier unten gibt es nur eine Tür. Mit klopfendem Herzen schleicht sie näher.

»Wir können dich hören«, wispert es in ihrem Kopf. »Wir können dich sehen!«

Kaynee hebt erschrocken eine Hand an ihre Lippen, als ob sie ihr ganzes Sein hinter dieser Geste verstecken könnte.

»Und riechen und spüren und schmecken!«, kräht es nun schrill hinter ihrer Stirn. »Wir sind immer bei dir, du wirst uns nicht los.«

Die Stimmen bekommen mit einem Mal Körper, die sich mit voller Wucht gegen die Tür werfen. Kaynee schreckt zurück, dreht sich um und hastet blind die Treppe hinauf, die Hände an Wand und Geländer, um nicht zu fallen. Währenddessen schreit und quäkt es weiter hinter der Tür im Keller. Sie biegt sich leicht nach außen unter dem Ansturm der Cloud. Und was Kaynee nicht mehr sehen kann, ist das Licht, das zwischen Zarge und Türblatt in die Dunkelheit des Untergeschosses vordringt.

Kaynee schlägt mit einem Mal die Augen wieder auf. Ihre Hände entspannen sich schlagartig. »Was ist denn los?«, knurrt sie ihr Spiegelbild an.

Sie erkennt die Stimme wieder, es ist Kassy. Und Kassy ist entschieden nicht begeistert davon, dass die Haare in diesem zerzausten Zustand luftgetrocknet sind. »Das kann nicht sein, nicht schon wieder!« Entnervt greift Kassy die Bürste und beginnt ihre Mähne unter vielen kleinen Schmerzenslauten zu entwirren. »So ein Scheiß!«, flucht sie hin und wieder und hat keinen Schimmer, in welchem Zustand sie sich eben noch befunden hat. Die letzte Erinnerung war das Singen unter der Dusche.

Ein kurzer, routinemäßiger Blick auf das E-Pad lässt Kassy dann doch stutzen. Da steht nur ein Wort.

»Hilfe!«

Professorin Paulson legt die Akte beiseite. »Klär mich auf«, sagt sie dann zu Jackson. »Ich will die Einzelheiten von dir hören.«

Jackson nickt. »Auf einen Kaffee?« Er öffnet Paulson die Tür.

Als beide in das grelle Licht des Ganges hinaustreten, muss Paulson blinzeln. Unwillkürlich hebt sie zum Schutz die Hand vor ihre Augen, als sie einen Schatten an sich vorbeihuschen sieht.

»Die schon wieder«, hört sie es murren. »Werden die Täter wieder in Watte gepackt, klar doch!«

Paulson meint, sich verhört zu haben, da bellt Jackson schon einen scharfen Befehl.

»Stehen bleiben, Kim. Kommen Sie sofort zu mir.«

Paulson nimmt die Hand wieder herunter. Ihre Augen haben sich dem grellen Licht angepasst. Sie sieht eine junge Beamtin auf sich zueilen. Sie bleibt vor Jackson stehen, salutiert mit neutralem Gesichtsausdruck. »Zu Befehl, Sergeant.«

Jackson baut sich vor der jungen Polizistin auf. »Habe ich da eine Beleidigung gegenüber meinem Gast gehört?«

Kim steht noch immer stramm und schweigt.

Jackson beugt sich vor. Er ist ungewöhnlich leise, dafür umso verständlicher. »Keine weitere Despektierlichkeit gegenüber Professorin Paulson, haben Sie mich verstanden?«

Kim nickt.

Jackson winkt ab. »Machen Sie weiter. Und seien Sie zur Stelle, falls Professorin Paulson Nachfragen hat.«

Paulson ist die Situation unangenehm. Sie wird keine Nachfragen haben, nicht, wenn Jackson sie wie üblich unterweist. Das ist ihm auch klar, muss ihm klar sein. Wieso also diese Spitze gegen die Polizistin? Sie runzelt die Stirn, hält sich aber zurück. Jackson erklärt ihr ja auch nicht, wie sie ihr Zentrum zu leiten hat.

Jackson, nun wieder völlig entspannt, deutet zu seinem Büro. »Lass uns den Vorfall besprechen.«

Er lässt seinem Gast den Vortritt, zieht dann sein Jackett aus und hängt es akkurat über die Lehne seines Stuhles. Paulson nimmt währenddessen vor Jacksons Schreibtisch Platz, legt die Akte vor sich auf den Tisch und stellt ihre Tasche auf dem Boden neben dem Stuhl ab. Dann lehnt sie sich zurück, verschränkt die Hände rautenförmig und schließt die Augen. »Erzähl’s mir, Theodore.«

Während Jackson zwei Tassen bereitstellt und sich die Thermoskanne greift, entwirft er das Bild, das die Beamten vorgefunden hatten, als sie zum Tatort gerufen worden waren. Die U-Bahn, die Richtung Suburbia auf der Linie 03 verkehrt, die den Norden mit dem Süden der Stadt verbindet, stand still auf den Gleisen. Der Schaffner hatte nicht rechtzeitig stoppen können und den Menschen erfasst, der von dem Mann im Vernehmungsraum 4 nur Sekunden zuvor auf die Gleise gestoßen worden war.

Jackson schenkt den Kaffee ein; er ist heiß und dampft über den Tassenrand. Für Paulson legt er zwei Döschen Milch dazu, bevor er die Tasse zu ihr hinüberschiebt. Danach lehnt er sich zurück, nimmt einen Schluck. Räuspert sich.

»Er hat nicht den Versuch gemacht, wegzulaufen. Er stand da wie jeder andere. Eingepasst in seine persönliche Distanz, absolut ruhig und sich offenbar keiner Schuld bewusst. Nur eben dort, wo vorher derjenige stand, den er gestoßen hat.« Jackson hält inne, schüttelt den Kopf. »Der ganze Vorgang ging so schnell vonstatten, dass ihn kaum einer der Umstehenden mitbekommen hat.«

Jackson stellt seine Tasse ab. »Claire«, sagt er unvermittelt. »Wie kann es angehen, dass ein ganzer Bahnsteig voll Menschen einfach nichts macht, während sich vor ihren Augen ein Drama abspielt? Die sind doch nicht blind!«

»Aber auch nicht persönlich betroffen«, versetzt Paulson. »Solange der Wachhund nicht aufgeschreckt wird, solange wird sich niemand wehren oder einmischen, denn solange gibt es nichts, weswegen es sich für den Einzelnen lohnt, Stellung zu beziehen. Mehr noch, es dient dem Schutz der Entität. Wer nicht zwischen die Streitlinien gerät, dem wird auch nichts passieren – was im Übrigen schon seit mehr als einer Generation Massenschlägereien erfolgreich unterbindet.« Sie nippt am Milchkaffee, konzentriert sich wieder auf den Einzelfall. »So wie du es sagst, Theodore, ist das Ganze sehr schnell vonstattengegangen. Das Opfer hat die Tat nicht kommen sehen und konnte sich dementsprechend nicht wehren. Ist es so?«

Jackson nickt.

Paulson runzelt die Stirn. »Hat man erste Untersuchungen bei dem Täter angestellt? Alkohol, Drogen?«

»Nichts dergleichen. Der Junge ist so clean wie ein frisch gewaschenes Laken. Aber«, er beugt sich vor und liest etwas auf seinem E-Pad, »man hat eine Scherbe in seiner Jackentasche gefunden. Rundgeschliffen.«

Paulson hebt eine Braue. »Ich verstehe«, murmelt sie mehr für sich, denn für Jackson. »Welche Splits hat er? Und wie viele?«

Jackson sieht erstaunt hoch. »Woher weißt du das?«

»Was?«

»Das, was ihn ausmacht!« Jackson tippt mit seinem rechten Zeigefinger auf seinem E-Pad herum. »Er hat zwei neuronale Cluster, nur zwei. Das Sozial-Ich und etwas Diffuses, Ungeordnetes, nicht Kartografiertes.« Er lehnt sich zurück. »Er ist ein Wilder.«

Paulson lächelt freudlos. »Die Scherbe hat ihn verraten.«

Jackson hebt eine Braue, wartet auf eine Erklärung.

Und die liefert ihm Paulson auch sofort im Anschluss: »Es ist eine Art Alarmknopf. Quasi ein Überdruckventil. In Situationen großen Stresses umklammert der Betroffene diese Art Handschmeichler. Er ist nicht so scharf, dass Blut fließt, aber dennoch unangenehm genug, um sich wieder in die Wirklichkeit zu schießen, um das Bewusstsein zu erden.«

Der Kaffee ist plötzlich schal geworden, Paulson schiebt die Tasse von sich. Sie holt tief Luft, hebt die Schultern und lässt sie gleich darauf wieder fallen, als wüsste sie für einen kurzen Moment nicht so recht, was nun zu tun sei.

»Wie heißt er denn?«

Jackson braucht diesmal nicht auf sein elektronisches Hilfsmittel zu sehen. Der Täter wird ihm so schnell nicht aus dem Gedächtnis verschwinden. Das ernste längliche Gesicht, die hellbraunen Kräusellocken und der dazugehörige Name. Jackson räuspert sich: »Er heißt Hewitt. Douglas Hewitt. North West Suburbia, Quadrant III.«

Kassy steht inzwischen fertig angezogen auf ihrem Balkon. Sie sieht in die menschenleere Landschaft, die sich bis zum Horizont wellt. Meilenweit braunes, trockenes, heißes Land, in dem kaum Leben gedeiht. Kassy ergeht sich gerne in ihren Küchentischphilosophien, wenn sie über das Land, die Dürre, das Leben und das Zentrum nachdenkt, nur nicht heute. Denn seitdem sie die letzte Notiz gelesen hat, ist sie sich näher als jeder Horizont und jedes Gedankenspiel.

Sie wollte nicht länger zögern, hat sich dann doch entschieden, Professorin Paulson aufzusuchen und ihr von den Ausfällen zu berichten, die in letzter Zeit immer häufiger aufgetreten sind. Kleine Aussetzer, hier und da. Worte, die nicht gefunden wurden, Nachbilder der Persönlichkeiten. Der Übergriff von Kandy und die daraus resultierende Vergewaltigung. Denn nichts anderes ist es gewesen, das ist Kaynee inzwischen klar. Das lässt sich auch nicht mehr schönreden. Und sie kann noch nicht einmal ausschließen, dass sich das in der Zwischenzeit nicht wiederholt hat.

Aber die Professorin ist in der Stadt, wie Barbara ihr am Telefon verriet, und wird erst morgen zurückkehren. Es ist Freitagnachmittag, also muss es sich um einen Notfall handeln. Kassy überlegt, welche Optionen sie hat. Da ist immer noch die Furcht, dass Paulson sie von ihrer Position als medizinische Patin abzieht. Aber Kaynee liebt die Arbeit mit den Besuchern, mit den Menschen. Den Verlust dieser Erfüllung will und kann Kassy nicht verantworten. Kaynee, die in der letzten Woche nur einen einzigen simplen Erweiterungssplit betreut hat, fragt sich zudem, ob die Chefin ihr eine neue Aufgabe mitbringt. Einen Besucher, der Kaynee herausfordern wird, so wie es Santana getan hatte. Sollte das so sein, überlegt Kassy, muss sie in den sauren Apfel beißen und Sanders aufsuchen. Sofort. Bis morgen hat sie Zeit, eine Nachprägung aufzuspielen zu lassen. Das ist die andere Option, die es zu besprechen gilt. Kassy hinterlässt eine entsprechende Notiz im Übergabeprotokoll und zieht sich in den Hintergrund zurück. Jetzt sind Kora, Karen und Keira an der Reihe; sollen die entscheiden, was zu tun ist.

Für einen Moment steht die junge Frau unbewegt und mit geschlossenen Augen auf dem Balkon. Der Wind kühlt das erhitzte Gesicht und niemand sieht, was hinter den Kulissen vorgeht. Dann geht ein Ruck durch den Menschen und Kassy schlägt die Augen wieder auf. Im Übergabeprotokoll steht: »Sanders aufsuchen. Job ist wichtiger als alles andere.« Die Entscheidung ist also gefallen.

Kassy sieht an sich herunter. Sie trägt einen blau-weiß gemusterten Kurzoverall, flache Schuhe, keinen Schmuck. Nichts, was ihren Körper auf irgendeine Weise betont. Nichts, was Kandy in die Hände spielen könnte. Sie holt tief Luft. Sanders besteht nicht nur aus Stan, macht sie sich klar. Sanders ist auch Sudresh und Steve und Steward und all die anderen. Sudresh ist es egal, wen er vor sich hat. Steve hingegen mag Kassy. Steward ist der nette Kollege von nebenan. Sie kann nur hoffen, dass sie auf Steve treffen wird, wenn sie sich gleich zu Sanders aufmacht. Sie greift zu einem Haarband und bindet sich die dunklen Locken zum Pferdeschwanz. Dann nimmt sie ihr E-Pad und macht sich auf den Weg zu Sanders’ Büro.

 

Douglas sieht, wie sich die Tür öffnet. Eine ältere Frau tritt ein, klein, zierlich, kurze graue Haare, die ihr in einer lockigen Tolle in die Stirn fallen. Sie trägt einen burgunderroten Anzug, schwarze, halbhohe Schuhe. Sie will sich nicht größer machen, als sie ist, begreift Douglas, das hat sie auch gar nicht nötig. Sie strahlt Größe aus. Dazu eine sehr seltene Mischung aus Autorität und Güte.

»Ich habe hier etwas für Sie«, sagt sie mit ruhiger Stimme. »Ich glaube, Sie vermissen es bereits.«

Douglas sieht sie erwartungsvoll an. Da legt sie die flaschengrüne Scherbe vor ihm auf den Tisch. Er schluckt. Sie weiß anscheinend ganz genau, was es damit auf sich hat. Ein Teil der Spannung fällt von ihm ab. Schon will er danach greifen, da erinnert er sich daran, dass seine Hände noch immer mit Kabelbindern hinter seinem Rücken gefesselt sind. Beschämt lässt er die Schultern sinken.

Die Frau dreht sich zu dem Beamten um, der ihr in den Raum gefolgt ist. »Erlösen Sie ihn. Keine Sorge, ich habe die Papiere unterschrieben. Wenn Sie dann draußen warten würden?«

Die Polizistin – erst jetzt merkt Douglas, dass es eine Asiatin ist – kommt mit forschem Schritt um den Tisch herum, zückt einen Cutter und löst die Handfessel. Danach verlässt sie schweigend den Raum.

Die Frau nimmt ihm gegenüber Platz. Sie beobachtet ihn, der kaum zu atmen wagt. Dann greift sie über den Tisch, schiebt ihm die Scherbe näher. »Greifen Sie zu«, sagt sie ruhig. »Sie brauchen doch einen Anker in dieser Welt.« Sie lächelt leicht. Dann lehnt sie sich wieder in ihrem Stuhl zurück und lässt ihm alle Zeit, die er braucht.

Douglas zögert nicht länger. Mit einem Griff schnappt er sich die Scherbe und schließt beide Hände darum. Er presst die Handflächen zusammen und schließt die Augen, als sich die gebogene Kante in das weiche Fleisch seiner Handteller drückt. Für einen Moment wird aus dem Spüren eine Sehnsucht nach mehr. Er hält die Luft an, will, dass sich der Schmerz potenziert, will, dass es niemals aufhört. Will in dem Gefühl vergehen.

Dann schnappt er nach Luft, öffnet die Augen und sieht die Frau an. Verlegen lockert er den Griff um die Scherbe und legt sie vorsichtig auf den Tisch vor sich.

Die Frau lächelt verhalten. »Stecken Sie sie nur ein. Sie gehört Ihnen.«

Douglas stutzt. Nimmt das grüne Glasbruchstück auf, betrachtet es. Sieht, wie sich das Licht der Neonröhren darinnen fängt. »Sie haben keine Angst?« Seine Stimme ist leise, gepresst. »Vor mir? Vor dem hier?«

Die Frau mustert ihn eingehend. »Sollte ich denn?«

Douglas weiß keine Antwort.

Da spricht sie in die Stille hinein. »Mein Name ist Professorin Claire Paulson. Ich bin die Leiterin des Zentrums für angewandte Diversität und Stabilisierung in Zenith. Ich bin Ihretwegen hergekommen. Mister Hewitt?«

Douglas sieht auf. »Ja?«

»Haben Sie mich verstanden?«

Douglas steckt die Scherbe ein, faltet die Hände und streckt den Rücken. »Ja, Professorin Paulson. Sie sagten, Sie seien meinetwegen hier. Darf ich fragen, warum?«

Die Professorin nickt leicht. »Ich soll prüfen, ob Sie straffähig sind. Ob es sich um ein technisches Versagen Ihrer Hardware gehandelt hat oder ob Sie die Tat bewusst begangen haben.« Sie sieht ihn lange an, schweigt.

Douglas wird es ungemütlich in der Stille. Seine rechte Hand wandert in die Jackentasche zurück und umklammert das Bruchglas.

Die Professorin räuspert sich kurz. »Sie wissen, warum Sie hier festgehalten werden?«

Douglas verneint mit einem Kopfschütteln. Er hat ein verdammt mieses Gefühl, aber was wirklich passiert ist, hat ihm noch niemand gesagt.

Paulson lehnt sich zurück. »Schildern Sie mir doch bitte einmal aus Ihrer Sicht den Vormittag.«

Douglas greift sich mit der Linken an die Stirn, versucht, sich zu konzentrieren.

Schließlich nimmt er die Hand wieder herunter, fixiert Paulson mit starrem Blick und spult seine Antwort mechanisch ab. »Ich bin um halb sieben aufgestanden. Bin eine Runde um den Block gelaufen, habe danach geduscht, gefrühstückt und mich fertiggemacht. Um acht Uhr vierzig habe ich die U-Bahn-Station erreicht, bin auf den Bahnsteig 03 Richtung Süden gegangen und habe dort auf die Bahn gewartet.« Douglas holt Luft.

Paulson schreitet ein. »Haben Sie etwas Besonderes wahrgenommen, Douglas?«

Er sieht sie verwirrt an. »Die Bahn ist pünktlich gekommen. Aber sie hat nicht, wie vorgeschrieben, gehalten. Wir konnten nicht einsteigen.«

Paulson nickt. »Und dann? Was ist dann passiert, Douglas?«

Er fällt in sich zusammen. »Auf einmal war Polizei vor Ort. Sie haben die Menschen um mich herum zurückgedrängt. Dann sind die MedCons gekommen und haben mich abgeführt. Alle waren ruhig, keiner hat ein lautes Wort gesagt. Hat man mir etwas verschwiegen?«

Paulson sieht ihn lange an. Dann nickt sie leicht, als ob sie sich selber eine Zustimmung geben würde, aber warum? Und wozu?

Douglas umklammert die Scherbe. Er steht kurz davor die Fassung zu verlieren, er hört, wie sich die Dämonen im Hintergrund seines Geistes erheben.

Da lächelt die Professorin. »Ich würde Sie gerne über alles informieren, Douglas. In einem geschützten Rahmen. Doch dafür müssten Sie mir die Einwilligung geben, dass ich Sie in mein Zentrum überführen darf.«

Douglas schreckt zurück. »Ich soll in ein Traumacamp?«, entfährt es ihm unbedacht. »So viel Geld habe ich nicht. Ich meine, einfach so. Und warum überhaupt? Habe ich etwas Schlimmes getan?« Die Dämonen halten verblüfft ein in ihrem Lärmen. Die Scherbe bohrt sich eine Spur tiefer in seinen Handteller.

Die Dame legt einen Finger an ihre Lippen, mahnt zur Ruhe. »Ich habe den Untersuchungen entnehmen können, dass Sie lediglich eine Aufsplittung erfahren haben. Ist das richtig, Douglas?«

Er nickt.

Sie fährt fort. »Wie lange haben Sie das Socket nicht kontrollieren lassen?«

Er senkt den Blick auf die Tischplatte. Schüttelt stumm den Kopf.

Paulson nickt wieder. Dann beugt sie sich leicht vor. »Ich biete Ihnen eine Überprüfung der Hardware und bei Wunsch die Ausbildung eines kompletten Persönlichkeitssets an. Mir ist bewusst, dass das nicht leicht sein wird. Sie werden mitunter das Gefühl haben, sich selber zu verlieren. Aber letztlich, wenn wir Ordnung in Ihren Geist gebracht haben, werden Sie sich selber näher sein als in allen Jahren zuvor.«

Douglas sieht unsicher zur Professorin. »Habe ich eine andere Chance?«

Sie schüttelt leicht mit dem Kopf. »Douglas, so wie ich die Sache sehe, haben Sie Schwierigkeiten mit Ihrer Hardware. Kommt es zu Missempfindungen? Ein Jucken, Brennen oder Ziehen vielleicht?«

Er nickt.

Paulson lehnt sich zurück, legt die Fingerspitzen ihrer Hände auf die Tischkante, betrachtet sie kurz. Dann hebt sie den Kopf, sieht Douglas an. Diesmal schimmert eine Härte in ihrem Blick, die ihn zurückschrecken lässt. »Man hat mich gerufen, damit ich eine Einschätzung vornehme, wie man in Ihrem Fall weiter verfahren soll. Meine Empfehlung lautet dahin gehend, dass man schnellstens Ihr Socket überprüfen möge. Es scheint hier eine Fehlregulierung vorzuliegen. Gepaart mit der Erkenntnis, dass Sie über keine ausreichende Ausprägung verfügen, würde man Sie sofort in das nächste Zentrum überführen. Dort würde man alles vornehmen, was ich Ihnen anbiete, Douglas.« Sie beugt sich vor. »Sie sind nicht schuldfähig. Aber wenn Sie mein Angebot nicht annehmen, könnten Sie das teuer bezahlen. Nicht jedes Zentrum ist erfolgreich in der Ausprägung eines kompletten Sets bei Erwachsenen. Sollte es nicht klappen, dann enden Sie als eine ›Lost Soul‹.«

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?