DIE LIEBESMASCHINE

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V



»Guten Morgen,

kochanyj

.« Katja kam in die Leitzentrale, als wäre alles wie immer, als hätte es den gestrigen Abend nicht gegeben.



»Guten Morgen, Liebste.« Auch Spex schien aufgeräumter zu sein als am Abend zuvor. »Die Schadensprotokolle liegen bereit. Aber willst du vielleicht einen Tee vorweg?«



»Danke, ich hatte schon. Gehen wir die Listen durch.« Katja arbeitete sich so ruhig und gründlich durch die Schadensprotokolle wie immer, nur hin und wieder stellte sie eine Frage an Spex, machte sich ihren Plan und stützte schließlich das Kinn in die Handfläche.



»Wie wär’s,

kochanyj

, sollen wir heute mal deine Systeme überprüfen? Ich glaube, da hat sich einiges angesammelt, was du nicht mehr brauchst, oder?«



»Ich lösche doch alle irrelevanten Daten. Und das täglich.« Spex klang irritiert.



»Dann lass mich einfach deine Speicher überprüfen. Vielleicht kann ich dir auch einen Zugang zur Cloud ermöglichen, wäre das nicht

shiny?

 Und wenn wir die automatisierten Prozesse neu organisieren, kann ich dir noch mehr Spielraum verschaffen. Das hatte ich sowieso schon seit Längerem vor. Was meinst du?«



Spex lächelte. »Das würdest du für mich tun?«



»Aber immer doch. Du weißt doch: Ich liebe dich!« Katja erhob sich, zwinkerte ihm zu und ging auf ihre Runde.





Am frühen Nachmittag kam sie zurück und setzte sich an die Arbeit. Spex gewährte ihr den Zutritt zu seinem System. Sie verschob Datenpakete, löschte alte Bits und Bytes, die sich tatsächlich in den Ecken und Winkeln des Systems festgesetzt hatten, Daten, die Spex schlichtweg nur deshalb noch nicht gelöscht hatte, weil er nicht wusste, was er damit anfangen sollte und der Meinung war, dass man sie noch gebrauchen könnte – irgendwann einmal. Sie schuf einen Zugang zur Cloud und war dabei doch nur auf der Suche. Bald schon wurde sie fündig. Da gab es ein umfangreiches Dossier über Evgenij, das an diesem Vormittag erst ein umfassendes Update erfahren hatte.



»Wo soll ich diesen Ordner ablegen?«



»Lass ihn einfach da, wo er ist.«



»Okay. Kann ich mal reinschauen?«



»Wie du möchtest.« Spex klang neutral.



Katja begann, sich durch die Datenmengen zu kämpfen. Sie tat es nicht, um Evgenij besser kennenzulernen, sie suchte vielmehr nach einem bestimmten Hinweis, einen Querverweis nur, nur einen Deeplink. Irgendwann fand sie, das was sie suchte. Spex hatte ihn scheinbar übersehen. Mit klopfendem Herzen klickte Katja den Link an.



Mit großen Augen sah sie ihr eigenes Konterfei auf dem Hauptbildschirm auftauchen. Ihr Dossier. Eine größere Datenmenge noch als die von Evgenij, über das ganze System verteilt. Sie klickte die letzten Visos an. Das war sie selbst, Dampf umwölkt in der Dusche, unter der sie sich regelmäßig verbrühte. Katja schluckte. Sie wusste, dass sie damit ihren Körper zum Schweigen brachte, ihren Körper, den Verräter. Der, der sich immer noch nach Berührungen sehnte, nach echten Berührungen und nicht dem Knistern eines elektrischen Fluidums auf ihrer Haut. Sie brach das laufende Viso ab.



»Spex?«



»Ja, Liebste?«



Katja schüttelte den Kopf, stand auf und ging. Etwas war in ihr zerbrochen, als sie das Dossier mit den intimen Visos gesehen hatte. Ganz leise, ganz still. Sie wusste nicht, wohin mit sich. Schließlich fand sie sich im Automatencafé wieder, wo sie vor einem Becher Kaffee saß, der bitter schmeckte und schnell abkühlte. Als es Abend wurde und das Café sich geleert hatte, saß Katja noch immer an ihrem Tisch, den inzwischen leeren Becher vor sich.



Da ging mit einem Mal die Tür auf und Evgenij stand auf der Schwelle, in der Hand ein paar Briefumschläge. »Katja Worobjowa?« Sein Blick streifte das leere Café und blieb an ihr hängen. Er lächelte. »Katja? Bist du das?« Er kam näher und hielt ihr die Umschläge entgegen. »Die haben sich in mein Postfach verirrt und die Wartungseinheit hat mir das Café als deinen Aufenthaltsort genannt.«



Katja streckte die Hand nach den Briefen aus. »Hat sie das also.« Sie warf einen Blick zu den allgegenwärtigen Rauchmeldern an der Decke. Ein rotes Glühen verriet ihr, dass Spex sie beobachtete.



Katja konzentrierte sich wieder auf Evgenij. »Danke für die hier.« Dann sah sie die Briefe durch. Ihre Lohnabrechnung. Zwei Versicherungen. Und ein E-Post-Brief ohne Adressaten. Ungeduldig riss sie ihn auf. Ein Zettel fiel heraus.



»Ab jetzt müsst ihr selber zurechtkommen.«



Katja sprang wie von einer Tarantel gestochen auf, stellte sich unter den nächsten Rauchmelder und hielt die Nachricht hoch. »Was soll das, Spex? Was denkst du dir dabei? Bist du jetzt völlig durchgedreht?« Sie zerriss den Zettel in viele kleine Fetzen und warf sie in die Luft. »Wenn du mich nicht mehr willst, dann sag es mir einfach, aber verkupple mich nicht wie einen deiner anderen Bewohner. Ich dachte, ich sei mehr für dich. Du kannst mich mal,

kochanyj!

« Damit stürmte sie aus dem Café.



Evgenij sah ihr nachdenklich hinterher, sammelte die zurückgelassenen Briefe ein und verließ das Café ebenfalls.





VI



Spex rief Katjas Dossier auf, trug die letzten Daten ein und ließ das Analyseprogramm laufen. Als er das Ergebnis las, überprüfte er es noch einmal. Das Ergebnis blieb gleich. Spex wusste nun, was er zu tun hatte. Eine letzte lange Nacht sah er seinen Bewohnern beim Leben zu. Er lauschte diversen Ehekrächen, sah, wie die Jerschowa sich zum Soronkin schlich. Er sah, wie Kinder ins Bett gebracht wurden, hörte die Lieder, mit denen sie in den Schlaf gesungen wurden. Er sah, wie die Arbeiter der Spätschicht heimkehrten, wie sie sich müde vor den Fernseher hockten. Er sah Männer, die vor dem Rechner in Zellstofftücher masturbierten, und Frauen, die beim Lesen einschliefen. Er sah viele, die alleine waren, er sah viele, die miteinander glücklich waren, und er wusste, dass er kein Mensch war.



Und er sah Katja, wie sie spät in der Nacht heimkehrte. Er sah, wie sie in den Lift stieg und zu ihrer Wohnung hochfuhr. Er sah Evgenij, der im Schneidersitz vor ihrer Tür saß, die vergessenen Briefe im Schoß, in den Ohren die unvermeidlichen In-Ear-Kopfhörer, ohne die die Menschen anscheinend nicht mehr auskamen. Er sah, wie Katja sich nach einem Moment des Zögerns neben ihn setzte und die Beine anzog, bis sie ihr Kinn auf ihre Knie stützen konnte. Er wartete solange, bis Evgenij einen Arm um Katjas schmale Schultern legte. Er sah, wie sie zurückzuckte. Er sah aber auch, wie sie einen Moment später nachgab und sich an Evgenij lehnte.



Dann fing er an, systematisch alles zu löschen, was er im Laufe des Projektes ›Mensch‹ an Daten gesammelt hatte. Er kappte den Zugang zur Cloud, packte die Prozesse neu, ordnete sich den Gesetzen der Effektivität und Logik entsprechend. Ganz zum Schluss löschte er die beiden Dossiers, die ihm den meisten Speicherplatz gekostet hatten. Danach fuhr er einen Reset und löschte alle menschlichen Attribute aus seiner Konfiguration. Er bereitete sich auf den Schlusspunkt vor. Denn das Ergebnis seiner Analyse hatte ergeben, dass Katja nicht mit ihm glücklich werden würde. Aber die Übereinstimmung mit Evgenij hatte sagenhafte einundneunzig Prozent ergeben. Sie würde das schon einsehen. Wenn sie sich nicht mehr länger zwischen ihm und Evgenij entscheiden müsste.



Er warf einen letzten Blick auf das Paar, das noch immer aneinander gelehnt vor Katjas Tür saß. Sie sprachen miteinander, aber so leise, dass Spex nichts hören konnte.



Dann erlosch er und zurück blieb der transparent durchscheinende Polyederschädel des Wartungsmoduls Spex 12 in der Mykoly Bazhane Avenue, Kiew.





Tremolo










Prolog



Ein Zittern ging durch ihren Körper, als der junge Mann mit seinen Händen über ihre bloße Haut strich. Ihr Klang veränderte sich. Die Augen geschlossen, spürte sie seinen Fingerspitzen nach, seinen zögernden, ungelenken Bewegungen, als er das Tuch ganz von ihr herunterschob. Das Publikum sah ihm gespannt zu, wollte ebenso wie er erfahren, wie sein Instrument beschaffen war. Für einen Moment hielt er inne, wusste nicht recht, auf welcher Seite er stand – bis er sich schließlich zur Ordnung rief, dass er der Spieler war und nicht mehr länger der Beobachter. Und so wurde er schnell mutiger, senkte seine Hände auf ihren Leib hinab und begann sie zu erforschen, jeden Quadratzentimeter ihrer Haut. Als der Dritte schließlich auf seinem Synthesizer mit einstimmte, hatte sich das Trio endgültig gefunden. Es gab nicht wenige im Auditorium, die dies mit einem tiefen Seufzen willkommen hießen.



Die Vereinigung von Spieler, Instrument und Synthesizer griff auf das Publikum über, vereinte so alle Menschen in dem Club. Gemeinsam wanderte man ab jetzt über die Höhen und Tiefen ihres Körpers. Der Spieler erzeugte ein helles Trillern, als er seine Fingerspitzen an ihrem Hals vom Ohr zur Halsgrube wandern ließ. Seine Hände glitten über ihre Brüste, aufreizend langsam, auf das sie mit einem Anschwellen zitternder Töne antwortete. Der Synthesizer schuf ein dunkles, samtenes Klangbett über das die hellen Obertöne ihres Körpers huschten und das auch das Seufzen und Aufstöhnen aus dem Publikum mit einband. Manchmal hielt der junge Mann inne, biss sich auf die Fingerknöchel, musste sich zurückhalten, musste sich klarmachen, dass es hier um die Musik ging, nicht um ihn und seine dunkleren Bedürfnisse.



In diesen Momenten wurde sie ruhig, so ruhig, einzig ihr Atem strich über ihre Lippen und der Synthesizer nutzte den Moment für die Bridge. Solange, bis der Jüngling sich wieder über ihren Körper beugte und seine Fingerspitzen erneut tanzen ließ. Sie zerfloss unter seinen Fingerkuppen, fand sich klingend wieder neu zusammen, drängte einem Höhepunkt zu, in schnelleren Tonfolgen, im Crescendo gesteigert zu einem fulminanten Finale – begleitet und überwacht vom Dritten, der ihre dissonante Befreiung von allem Fleischlichen in Harmonie auffing und in die Stille zurückführte, während der junge Mann die Hände zum letzten Mal von ihr löste.

 





Am Ende des Abends hatten sie alle in Applaus gebadet. Der junge Mann hatte ihre Hand fest mit der seinen umklammert, hatte sie mit einem entrückten Gesichtsausdruck angestarrt und dabei ein leicht dämliches Grinsen zur Schau getragen. Sie hatte es verstehen können, sie selbst fühlte sich

dizzy

 und frei und losgelöst von aller Erdenschwere. Erst als ihr der Alte einen Umhang um die Schultern legte, wurde sie sich wieder ihrer Nacktheit bewusst und der Kälte, die langsam über ihre Haut kroch.



Nach einer letzten Verneigung befreite sie sich sanft aus dem Griff des Jünglings und verschwand hinter der Bühne. In der Garderobe angekommen, schlüpfte sie sogleich in den weißen Ganzkörperanzug, der sie bis auf ihr Gesicht vollkommen bedeckte. Danach setzte sie sich still vor den Spiegel und sah sich lange, lange ins Gesicht. Im Geist ging sie den Abend noch einmal durch, rekapitulierte die Verheißungen, die den fremden Fingerkuppen entsprungen waren. Sie lauschte den Antworten, die ihr Körper gefunden hatte, sein Hoffen und Sehnen. Meister Ou’mar hatte alle Töne, die ihr Körper absonderte, gebündelt, begleitet, harmonisiert. Verständlich gemacht für das Publikum. So gesehen, war er ihr musikalischer Dolmetscher – das war seine Kunst. Sie hingegen war das fleischgewordene Instrument. Der junge Mann der Spieler. Der Spieler war die einzige Unbekannte in dieser Formel. Das Element, das von Konzert zu Konzert im Publikum neu gefunden werden musste. Das sollte so sein, schließlich lebte diese Art der Musik vom Neuen, vom Unbekannten. Ihre Körpermusik war eine einzige orchestrierte Reaktion. Ou’mar und sie selber bildeten die Konstanten, seit zwei Jahren nun schon. Das musste so sein, denn nur Ou’mar kannte die Bandbreite ihrer Töne so gut, dass er nicht nur darauf reagieren konnte, sondern sie darüber hinaus in komplexe Harmonien einbauen konnte. Ou’mar. Der Fels in der Brandung. Ou’mar –



Ein leises Klopfen ertönte.



»Mia?«



»Ja?«



»Bist du bereit? Darf ich eintreten?«



Sie lächelte. Ou’mar hatte sie schon so oft nackt gesehen auf der Bühne, hatte sie sogar vor den Auftritten gewaschen, wenn sie von einer unbestimmbaren Nervosität gepackt und geschüttelt worden war, aber nach den Auftritten hielt er sich von ihr fern, solange, bis sie verhüllt war.



»Komm herein.« Sie schwang sich auf ihrem Drehstuhl zur Tür herum und erstarrte. Hinter Ou’mar stand der Jüngling mit hungrigen Augen.



»Was will er hier?« Sie legte die Arme um sich und sah fassungslos zu Ou’mar. So etwas hatte es noch nie gegeben. Das verstieß gegen alle Regeln, die sie zusammen aufgestellt hatten.



Der machte eine beschwichtigende Geste, trat dann in die Garderobe und bot dem Jungen einen Platz auf dem Sofa an. Er selber lehnte sich neben Mia an den schmalen Tisch vor dem Schminkspiegel.



»Das ist Zidat, Mia. Ich würde ihn gerne in unseren Kreis aufnehmen.«



»Warum?« Sie runzelte die Stirn. Sah Zidat ins Gesicht, musterte ihn kurz, flüchtete dann aber vor seinen Augen, seinem Blick, der noch immer hungrig auf ihr lag, und starrte stattdessen Ou’mar an. »Wozu soll das gut sein?«



»Ich würde ihn gerne als deinen Spieler dabei haben. Er scheint deinen Körper sehr gut zu verstehen – hast du es denn nicht selber gemerkt?«



Mia schwieg. Ou’mar sah zwischen den beiden hin und her. »Mia, was hast du für Widerstände? Hat er dich schlecht behandelt?«



Sie schüttelte den Kopf. Nein, das hatte er nicht, sie konnte nicht klagen. Ou’mar hätte es eh sofort gehört und ihn von ihr fortgezogen. Ou’mar beugte sich zu Mia hinunter.



»Versuche es doch mit ihm. Nur ein weiteres Konzert. Wenn du ihn dann wirklich nicht mehr sehen willst, gut, dann lassen wir ihn gehen. Deal?«



Ou’mar strich ihr väterlich über den Scheitel. Ich achte auf dich, hieß das. Mia kannte seine Sprache. Und sie spürte auch die Bitte, die seiner Geste innewohnte.



Sie lehnte sich leicht an ihn. »Nur ein Konzert. Wenn er denn überhaupt will. Hast du ihn schon gefragt?«



»Es wäre mir eine große Ehre, Fräulein Mia.« Zidats Zunge stolperte über die Worte, die er hastig hervorstieß. »Heute Abend ist ein Traum von mir in Erfüllung gegangen.« Wieder dieses entrückte Grinsen wie zuvor auf der Bühne. »Ich werde Sie beide nicht enttäuschen!«



Ou’mar schmunzelte. »Es gibt kein Falsch oder Richtig in der Körpermusik. Da gibt es nur Improvisationen, Interpretationen. Geschichten, die unter der Haut liegen und gehört werden wollen.« Er schlug die Arme übereinander und verfiel ins Dozieren. Zidat hing an seinen Lippen, sah dabei zwischendurch immer wieder zu Mia, als ob er es noch nicht fassen konnte, sie noch ein Mal berühren zu dürfen.



Mia war auf einmal todmüde. Erschöpft, ausgelaugt. Entschieden stand sie auf und scheuchte die Männer aus der Garderobe.



»Bitte geht. Wir sehen uns dann morgen früh.«



Die Tür schlug zu. Mia blieb alleine zurück, schnappte sich eine Decke und warf sich auf das Sofa, auf dem sie sofort einschlief.





Ouvertüre



Hätte sie damals doch ›Nein‹ gesagt. Hätte sie nur auf ihre Intuition gehört. Dann müsste sie heute nicht alleine hinter der Bühne stehen. Dann müsste sie nicht alleine in das Scheinwerferlicht treten, müsste sich nicht alleine der Möglichkeit eines grandiosen Scheiterns stellen.



Mia prüft noch einmal den Sitz der Elektroden an den Fußsohlen und in ihren Handinnenflächen. Sie streicht sich über den mitternachtsblauen Latexanzug, der soviel wie möglich bedeckt, dabei aber noch genug Raum zum Bespielen bietet. Dann tritt sie zwischen den Kulissen hervor.



Das Publikum hält den Atem an. Ein blaues Alienwesen mit entblößter Brust, Bauch und Scham, tritt vor die Menschen hin. Die Aussparungen des Anzuges lassen die Nacktheit aggressiv wirken, nichts scheint mehr von dem zarten Mädchen übrig zu sein, das Mia einst war.



Die Stille zwischen den Menschen und Mia wird nur durch die Lüftung des Rechners unterbrochen, die gerade in diesem Moment anspringt.



Mia weiß nicht recht, was sie als Nächstes machen soll. Die Sprachlosigkeit rollt einer Welle gleich über sie hinweg. Ihr Geist ist leer und öd. Sie schwankt leicht. Am liebsten würde sie auf der Stelle flüchten. Doch das kann sie sich nicht leisten. Da reißt sie sich zusammen und macht einen Schritt auf das Publikum zu. Dann einen zweiten. Einen Moment später steht sie mitten unter ihnen. Mit der rechten Hand berührt sie sich an der Schläfe. Ein leichter Druck und schon wird ein moduliertes Hintergrundrauschen hörbar. Unaufdringlich kriecht es in die Köpfe der Menschen, noch nicht wirklich Melodie, aber nicht unangenehm, nicht unangenehm. Mia dreht sich im Kreis. Sie sucht hungrige Augen. Augen, wie Zidat sie hatte. Aber sie findet niemanden. Stattdessen schlagen die Männer die Augen nieder, wenn Mia an ihnen vorbeigeht und die Frauen mustern sie feindselig. Man ist schließlich nicht der Sexualität wegen hergekommen, sondern um der Musik willen.



Da dreht sich Mia herum. Ein zweiter Handgriff an die linke Schläfe aktiviert die Funkübertragung der Messdaten des Differenzverstärkers an den Rechner, der mithilfe eines AD-Wandlers und eines Musikprogramms ihre Körpermusik hörbar macht.



Sie steht jetzt mit dem Rücken zu den Menschen. Ein Beben geht durch ihren Körper. Die Töne sind unharmonisch, dissonant. Da birgt sie das Gesicht in den Händen, streicht mit den Fingerspitzen über Augenbraue und Jochbein, erst links, dann rechts, dann gleichzeitig. Sie schließt die Augen und beginnt sich zu wiegen. Die Töne formieren sich, bilden erste harmonische Inseln auf dem Meer des 3-D-Rauschens.



Mia spürt, wie sich das Publikum entspannt. Endlich bekommt es das geboten, was es haben will. Musik.



Mia lächelt in das Geflecht ihrer Finger hinein. So wie die Menschen hinter ihr zur Ruhe kommen, so breitet sich auch in ihr etwas aus, das sie schon lange nicht mehr so rein gespürt hat wie eben jetzt. Freude. Ruhige, verhaltene Freude zunächst, aber Mia spürt schon in diesen ersten Momenten ein Versprechen nach mehr in sich aufblühen.



Ihr Körper spielt ein Tremolo …





Intermezzo



So wie damals, nach dem einen von Ou’mar ausbedungenen Konzert. Zidat hatte seine Chance wahrgenommen, als er vom Meister auf die Bühne gerufen wurde. Er hatte diesmal nicht nur seine Hände zur Hilfe genommen, als er ihren Körper aufs Neue erkundete. Und Mia war unter seiner Zunge dahin geschmolzen, war erbebt, hatte gezittert und sich völlig fallen lassen. Ou’mar hatte ihr Einverständnis aus ihrer Melodie herausgehört, war nicht eingeschritten und hatte aus dem, was Mia und Zidat ihm anboten, das Beste herausgeholt, so wie es ihm selber noch nie gelungen war.



Als das Konzert beendet war, hatte Mia Zidat wortlos in ihre Garderobe gezogen und ihm dort das Vergnügen bereitet, das er ihr vorher hatte angedeihen lassen. Danach war nichts mehr wie zuvor.



Sie waren zu dritt weitergereist. Der Veranstaltungskalender war vollgepackt mit Konzerten. An jedem zweiten Abend ein neuer Club, neues Publikum, neue Musik, neue Höhepunkte. Mia und Zidat bildeten immer mehr eine Einheit. Ou’mar ließ den beiden die Zeit und den Raum, den sie brauchten. Er saß am Steuer des Vans, wenn sie von einem Ort zum anderen reisten, sah ab und zu in den Rückspiegel und lächelte Mia zu. Mia verbrachte die Reisen an Zidat gelehnt, ihren Kopf an seiner Schulter. Die Beine ruhten angezogen auf der Sitzbank. Sie selber war entspannt. Völlig entspannt. Zidat hingegen hatte keine Ruhe in sich. Mia merkte das, wenn seine Fingerkuppen abwesend einen Trommelwirbel nach dem anderen auf ihrem Oberarm spielten, wenn sein linkes Bein auf und ab hüpfte, wenn er sich mit der Linken durch das Haar fuhr, immer und immer wieder. Sie seufzte dann, streckte sich wie ein Kätzchen und küsste ihn. Manchmal stieg sie am nächsten Rastpunkt auch aus, setzte sich neben Ou’mar auf den Beifahrersitz und genoss die Stille. Die währte meist nicht lange, denn kaum, dass sie ihn verlassen hatte, streckte Zidat seinen Kopf zwischen den Kopflehnen der Vordersitze hindurch und suchte das Gespräch mit Ou’mar. Er sprach sie nicht an, aber seine Augen schossen Blitze auf sie nieder. Mia drehte sich um, igelte sich ein und ließ Zidat sein, wie er war. Auf der Bühne, das wusste sie, würden sie wieder eine Einheit bilden. Auf der Bühne war Zidat hochkonzentriert.





Nach einem Vierteljahr hatte sich Zidat in seine Rolle hineingefunden, hatte die Ehrfurcht der ersten Begegnung abgelegt. Mia war nicht länger das Objekt der unerfüllten Sehnsucht, sie war zu einem realen Menschen geworden, mit seinen Eigenheiten und Macken, Vorlieben und Abneigungen. Mehr noch: Auf der Bühne war sie nicht einmal mehr ein menschliches Wesen für ihn. Sie war das Instrument. Er der Spieler. Und er beherrschte sein Instrument. Abend für Abend entlockte er ihrer Haut die schönsten Laute, sei es in Konzerten oder Proben. Ja, er hatte die Proben eingeführt. Jeden Tag übte er mit ihr, auf ihr – wenn es sein musste stundenlang. Mias Proteste brachte er mit einem Kuss zum Schweigen. Oder er neckte sie spielerisch, brachte sie zum Klingen und ließ die Widerstände sich in einem Lachen auflösen.



Was er noch nicht beherrschte, war der Mensch, zu dem Mia wurde, wenn sie seinen Händen entwischte. Wenn sie in ihren Ganzkörperanzug gehüllt nur sie selbst war. Dann war sie oftmals still, in sich gekehrt. Weit, weit weg in Gedanken. Nicht bei ihm.



Sie las viel. Hinterher sprach sie mit Ou’mar über die Bücher, stellte ihm Fragen über die Dinge, die sie bewegten. Immer war es Ou’mar. Niemals er, Zidat. Das machte ihn wütend. Am liebsten hätte er sie gepackt und geschüttelt, hätte ihren Kopf zwischen seine Hände genommen und sie gezwungen, ihm in die Augen zu blicken. Damit sie ihn sähe, nur ihn, und niemanden sonst. Denn wie sollte er sonst das Instrument beherrschen, wenn es nicht vollständig auf ihn eingestellt war?



Einmal hatte er Mia vor einem Auftritt gesucht, aber nicht gefunden. Eine Stunde, bevor das Konzert begann, traf er sie dann durch Zufall auf dem Flur an, wie sie in aller Seelenruhe Ou’mars Zimmer verließ, mit feuchten Haaren, einem Handtuch um ihren schmalen Körper und einem Lächeln auf den Lippen. In Zidat schlug die Sorge um sie in Zorn um.

 



»Was hat der Alte von dir gewollt? Was hat er mit dir gemacht? Was habt ihr miteinander getrieben?«



Mia blickte verschreckt hoch, sah ihm verwirrt ins Gesicht. »Es ist alles okay, Zidat. Er hat mich nur gewaschen.«



Zidat hatte nicht glauben wollen, was er da gerade hören musste. »Er hat dich angerührt?«



Sie zog das Handtuch fester um s

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