Felix und der Larimar

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Aus der Reihe: Felix und Carlo #2
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Felix und der Larimar
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Fritz-Dieter Kupfernagel

Felix und der Larimar

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Felix und der Larimar

Impressum neobooks

Felix und der Larimar

1. So fängt es an

“Das eine sag ich dir, lass den Zaun stehen! Daran hast du nicht zu rütteln!“

So, wie das von Gerrit gesagt wird, hat Carlo überhaupt keine Chance ein Wort der Erwiderung zu sagen. Er wird geschüttelt, dass es aussieht, als wolle er mit seinen Ohren einen Flugversuch starten.

Gerrit hält ihn mit der linken Hand am Schlafittchen fest, schüttelt ihn und die Rechte hängt bedrohlich, aber noch weit weg in der Luft.

Trotz allen Schüttelns kann Carlo nur denken: „Wenn die jetzt auf mich zukommt, klatscht es nicht nur laut, ich liege auch noch im Gras.“

Gerrit ist erregt und brüllt auf ihn ein:

„Euer scheiß Baumhaus kommt sowieso hier runter. Den Platz übernehme ich! Und damit du es dir merkst,“ er holt erneut mit dem rechten Arm aus, „das zur Erinnerung...“

Carlo hat die Augen geschlossen und spürt schon den Luftzug.

Aber es klatscht nicht?

Gerrit drückt ihn nach unten.

Als Carlo die Augen öffnet, sieht er Felix’ Kopf hinter Gerrits Rücken - und Gerrit hat plötzlich vier Hände und Arme?

Was heißt denn das?

Gerrit lässt ihn los und schüttelt sich. Er fällt, und Felix liegt auf ihm drauf.

Als Carlo feststellt, dass zwei von Gerrits Armen zu Felix gehören, und diese zwei Gerrit immer noch fest umklammert haben, springt er auf und packt Gerrit an den Haaren: „So, wir werden ja sehen, wer hier Großmaul sein kann!“

Gerrit strampelt mit den Beinen und will Felix durch Drehen des Körpers abwerfen.

Da hat er aber die Rechnung ohne seinen Reiter gemacht.

Obwohl auch Felix noch kleiner ist als Gerrit, so hat er doch ein beeindruckendes Gewicht. Und wo er liegt, da liegt er. Seine Beine sind seitlich gespreizt. Das wirkt wie ein Fahrradständer. Er kippt nicht.

„Wenn ihr mich nicht sofort loslasst, pfeife ich und dann erlebt ihr euer blaues Wunder,“ Gerrit kann diese Worte kaum aussprechen, sosehr drückt Carlo seinen Kopf nach hinten.

Da Felix und Carlo nicht wissen, was sie weiter tun können, sehen sie sich und an und beide zucken mit den Schultern.

„Los,“ sagt Felix und beide lockern ihren Griff.

Als Gerrit das merkt, bäumt er sich erneut auf und schüttelt Felix ab. Im Aufspringen tritt Gerrit nach Felix, der jetzt am Boden liegt. Das lässt Carlo nicht ruhen und er tritt Gerrit von hinten in die Kniekehle. Also stürzt Gerrit wieder und im schnellen Aufraffen rennt er weg und stößt wüste Beschimpfungen aus: „Wir sehen uns wieder!“

Jetzt erst kommen die anderen beiden zur Besinnung.

Felix ist noch ganz aufgeregt. Er rüttelt wieder an dem Zaun und zeigt auf seinen Baum.

„Das können die doch nicht machen!“

2. Beschwerde beim Bürgermeister

Felix macht einen entschlossenen Eindruck, als er mit Carlo auf das Rathaus zutrabt. Zutraben ist das richtige Wort, denn sie ziehen beide einen Handkarren, beladen mit Brettern und Hammer und Säge und mit Nägeln.

Gerade heute wollten sie Ausbesserungen vornehmen. Das Dach ihres Baumhauses war durch einen Sturm lädiert worden.

Was für ein Anblick bot sich aber, als sie auf den Baum zukamen?

Das kann doch nicht sein, dass über Nacht der Baum, in dem ihr Haus steht, mit einem Zaun umstellt wurde.

Und dann noch dieser Kampf mit Gerrit aus der 8. Wieso wissen alle von dem Zaun, nur sie beide nicht?

Als sie die große Außentreppe hochgehen, will Carlo noch einmal einen Einwand hervorbringen:

„Der Bürgermeister kann uns doch dabei auch nicht helfen.“

„Er muss! Neulich als er im Haus der Vereine mit uns gesprochen hat, wollte er, dass wir mit Problemen zu ihm kommen. Meine Mutti hat auch gesagt, dass er sich um alles kümmern muss.“

Natürlich ist der Bürgermeister nicht da, das sagt zumindest die Pförtnerfrau.

Was ist zu tun?

Sie ist freundlich und fragt im Büro des Bürgermeisters nach.

Als die beiden Jungen erfahren, dass ihr Gesprächspartner eigentlich bald wieder kommen müsste, beschließen sie zu warten.

Carlo bleibt am Karren, der vor dem Treppenaufgang geparkt steht.

Für sein Alter ist er relativ klein und schmächtig. Das einzig Auffällige an ihm sind seine Ohren. Vielleicht zeigen sie jetzt schon seine künftige Körpergröße an. Sie passen überhaupt nicht zu seinem Kopf, der aber wiederum seiner Körpergröße angepasst ist.

Eine ganz andere Erscheinung stellt Felix dar.

Er ist das ganze Gegenteil von Carlo. Groß steht er da, mehr als ein Kopf größer ist er als Carlo.

Aber es ist nicht nur die Größe, er hat auch ganz schön Masse. Vor allem um die Hüfte herum und bis in die Oberschenkel hinein hat sich eine Menge Körper angesammelt.

Wenn er läuft, schiebt er den Oberkörper leicht vor und tritt kräftig gegen den Boden. Dadurch schwankt er leicht mit dem Oberkörper hin und her. Das hat er von einem seiner Opas geerbt.

Jetzt steht er oben am Geländer, damit er nichts verpasst.

Heute ist Sprechtag im Rathaus, immer wieder kommen Leute, die eines der Ämter besuchen wollen.

Die beiden fallen natürlich auf, und so werden sie gefragt, was sie denn mit ihrem Karren am Rathaus wollen. Felix erzählt es jedem, dass sein Baumhaus eingezäunt wurde und nicht mehr genutzt werden kann.

Es dauert gar nicht lange und schon steht ein Zeitungsmensch der „Deutschen Mittelzeitung“ bei ihnen und möchte ihr Begehren kennen lernen.

Eine Meldung ist es auf jeden Fall wert!

Sorgfältig notiert er ihr Anliegen mit großen Kritzelbuchstaben in sein kleines Notizbuch und verspricht, sie zu unterstützen, wenn sie beim Bürgermeister nichts erreichen. Er will ihnen erklären, wo die Redaktion ihren Sitz hat, aber Felix kennt sich aus. Sie waren mit der Klasse schon bei der Zeitung zu Besuch. Sie befindet sich am Kornmarkt gleich gegenüber vom Rathaus.

Durch diese Gespräche wurde ihnen die Zeit nicht lang und plötzlich erkennt Felix den Bürgermeister, der aus seinem Auto aussteigt.

Er rennt zu ihm hin:

„Hallo, wir warten schon auf Sie, ich, wir müssen Sie unbedingt sprechen.“

Herr Goldmann schmunzelt über den Eifer, der Felix aus den Augen strahlt:

„Na sagt einmal, wollt ihr das Rathaus zunageln? Na los, kommt mit mir mit. Auf der Straße müssen wir ja nicht diskutieren.“

Sie sind beide nicht zu bremsen, noch auf der Treppe sprudeln sie hervor:

„Sie müssen etwas unternehmen. Wir haben diesen Baum seit einem Jahr genutzt. Das ist ein schöner Platz zum Träumen und Pläne machen.“

Carlo fällt ein: „Felix hat da oben immer die besten Ideen. Ich bin einmal allein hochgeklettert und habe über eine Stunde da gesessen. Denken Sie, mir ist da was eingefallen. Aber für Felix ist das wichtig!“

„Ja, warum steht da eigentlich jetzt ein Zaun?“ , Herr Goldmann kommt nicht zu Wort: „Kann ich überhaupt erst einmal erfahren, wo der Baum steht? Wer hat den eingezäunt?“

Diese Fragen kann Felix nun nicht verstehen:

„Deshalb sind wir doch zu Ihnen gekommen!

Seit dem Frühjahr, voriges Jahr, habe ich den Baum, es ist eine schöne große alte Esche, am Rande der Othaler Siedlung, da wohne ich, Carlo wohnt an der Walkmühle, für mich umgebaut. Oben zwischen den Zweigen steht meine kleine Hütte. Das heißt, die habe ich mit Carlo da oben rein genagelt. Da fliegen die Ideen nur so auf mich zu. Und jetzt komme ich nicht mehr an den Baum heran, weil ein Bretterzaun drum herum gebaut ist.

Den müssen Sie wieder abbauen!“

Als klar ist, um welchen Baum es geht, kann Herr Goldmann erklären, was passiert ist:

„Als ich neulich bei euch zum Gespräch war, habe ich doch gesagt, dass wir mit den Wohnblöcken eures Viertels etwas tun müssen, damit nicht mehr so viel Menschen aus diesem Gebiet wegziehen. Oder gefällt es euch, dass um die Wohnblöcke so wenig Platz ist, dass fast keine Spielmöglichkeiten und kaum Parkplätze vorhanden sind?

Na seht ihr.

Deshalb hat die Stadt mit den Wohnungsgesellschaften, denen eure Wohnungen gehören, überlegt, wie wir die Flächen um die Häuser herum schöner gestalten können.

Eine erste Maßnahme haben wir mit allen diskutiert.

Ja, ich merke schon, mit euch nicht. Aber in der Baumgruppe neben dem Block wurde euer Baumhaus nicht bemerkt.“

Felix unterbricht ihn ganz stolz:

„Das glaube ich. Das Haus hängt ja auch weit oben, damit man es von unten nicht sieht.“

„Na bitte. Da wir aber in wenigen Tagen beginnen werden, diesen Block abzureißen, musste die Abrissfirma das Gelände weitläufig absperren. Also, auch deinen Baum.

So, was machen wir nun mit euch?“

Felix greift in seine Jackentasche und holt einen Briefumschlag heraus:

 

„Hier, das sind genau 75, -€. Wir beide haben unsere Sparbüchsen geplündert und wollen diesen Baum kaufen!“

„Das geht nicht. Man kann nicht einfach einen Baum kaufen, der in der Natur steht.

Und außerdem, wenn das Haus abgerissen ist, soll auf der Fläche bis hin zu dieser Baumgruppe ein Spiel- und Aufenthaltsplatz entstehen.

Genau vor deinem Baumhaus wollen die Großen den Platz für eine Hütte befestigen, in der sie sich aufhalten können, ohne immer kontrolliert zu sein.“

„Ich war eher da“, Felix versteht die Welt nicht mehr.

„Das haben wir doch aber vor Ort mit den Jugendlichen besprochen. Das Material hat der Bauhof schon bestellt.“

„Sie können doch nicht einfach, ohne uns zu fragen, den Platz vergeben.“

„Die Großen lassen euch sicher auf euren Baum, die stört ihr da oben doch nicht.“

„Ihnen sind die anderen also wichtiger?“ , jetzt reißt Carlo die Geduld.

Was soll Herr Goldmann nur machen, man merkt ihm an, dass ihn die Diskussion jetzt stört.

„Passt mal auf, ich prüfe, ob sich für euch etwas Anderes finden lässt.“

Damit sind Felix und Carlo aber nicht einverstanden:

„Das ist unser Baum, dann sollen die einen anderen Platz suchen!“

„Ich spreche mit dem Planungsbüro. Jetzt muss ich euch aber bitten zu gehen. Ich habe gleich einen anderen Termin. Also, tschüs.“

Das war ein Rauswurf. Die Jungs verstehen die Welt nicht mehr.

3. Frau Schimpfrich ist entsetzt und schenkt Felix einen Stein

Es poltert laut, als Felix den Karren die Kellertreppe herunter rollen lässt.

Das Blech der Seitenwände scheppert, die Bretter fliegen durcheinander, und die beiden Jungen sitzen auf der Treppe und könnten heulen.

So fest hatten sie geglaubt, dass ihnen geholfen wird. Versprochen hatte er, sie brauchten nur zu kommen, er würde eine Lösung ihres Problems finden.

Kein Verlass ist auf die Großen.

Was kümmert die schon unser Baum.

Was hat er noch gesagt? Vielleicht könnt ihr euch mit den Großen einigen?

„Der versteht gar nichts!“ , Felix schreit Carlo an: „Oder glaubst du, die lassen uns über ihrer Hütte in unseren Baum klettern?“

Carlo kann nur den Kopf schütteln:

„Wir werden tanzen dürfen, wenn wir in ihre Nähe kommen.“

Ganz resigniert lassen sie ihre Köpfe hängen.

Der Lärm ruft Frau Schimpfrich auf den Plan. Sie muss geschlafen haben, ihre Haare sind heute gar nicht zum Dutt gekämmt.

Obwohl sie böse guckt, sieht sie gar nicht so streng aus wie sonst:

„Das muss doch aber nicht sein! Warum macht ihr denn solchen Krach. Gerade heute habe ich mal wieder große Schmerzen.“

Carlo fasst sich als erster und entschuldigt ihr Handeln.

Da bemerkt Frau Schimpfrich den Gesichtsausdruck der beiden und vermutet etwas Schlimmes.

„Räumt eure Karre weg, und dann kommt ihr mal zu mir rein.“

Ohne Widerspruch zu dulden, sagt sie das. Die Jungen stehen auf und bringen die Karre und die Bretter in den Keller.

„Wollen wir zu ihr gehen?“ fragt Carlo.

„Warum nicht. Vielleicht erzählt sie wieder eine Geschichte von früher. Da kommen wir wenigstens auf andere Gedanken.“

Felix erinnert sich immer wieder an die Geschichte von ihrer Befreiung aus der Gefangenschaft und wie dabei ihr Fuß zerschossen wurde. Sie ist soviel als Fotografin gereist

Schon stehen sie vor ihrer Tür und klingeln.

Da Kaffeezeit ist, riecht es nach Kaffee und Kakao. Als sie öffnet, sind die Haare wieder zum Dutt gesteckt.

Jetzt ist sie es wieder. Streng, aber nicht mehr ängstigend.

Vor einigen Wochen hätten sie nie und nimmer hier bei ihr Kakao getrunken. Wie gut war es doch, dass Vati darauf bestanden hatte, dass er sich bei ihr wegen der kaputten Scheibe entschuldigen musste.

Frau Schimpfrich hat den Kaffeetisch gedeckt und die Beiden nehmen Platz.

„Nun erzählt doch mal.“

Sie kann zuhören, und Felix holt weit aus.

Als er zu ihrem Rauswurf kommt, kann er nicht anders, ein paar Tränen kullern.

Schluchzend sagt er:

„Erzählt haben wir ihm ja, dass es hier einige Cliquen gibt, denen man am besten aus dem Wege geht. Gerade da in der Nähe, wo der Block abgerissen werden soll, treffen sich ein paar ganz Schlimme.

Neulich konnten wir zwei nur noch entwischen, weil wir in unterschiedlichen Richtungen weggelaufen sind. Die waren zu faul, um hinterher zu kommen.“

Frau Schimpfrich unterbricht ihn:

„Warum musstet ihr weglaufen?“

Nun ist es Carlo, der sie aufklärt:

„Wenn es nicht in der Schule klappt, dann versuchen die uns am Nachmittag weg zu schnappen. Dann heißt es: Hol mir mal Zigaretten! Wenn du sagst, ich habe kein Geld, dann lachen sie und fordern, wenn du kein Geld hast, musst du klauen.“

Das überfordert Frau Schimpfrich:

„Halt mal an, sie verlangen, dass ihr für sie stehlen sollt?“

„Na klar, entweder Geld, oder Zigaretten, oder Prügel. Das ist doch immer so.“

„Was unternehmen da eure Eltern oder die Schule? Das geht doch nicht!“

Frau Schimpfrich hat schon viel erlebt, aber so etwas geht ihr doch über die Hutschnur.

Ohne es auszusprechen nimmt sie sich vor mit Herrn Kuhnert, dem Klassenlehrer, und Felix‘ Eltern zu sprechen.

Das kann doch keiner so einfach hinnehmen!

Ihr Blick fällt auf ein Bild an der Wand.

Da sie nichts sagt, folgen Carlo und Felix mit den Augen ihrem Blick zu diesem Bild.

Zu sehen ist eigentlich nichts Besonderes.

Als Fotografin war sie ja oft mit dem Zirkus ihres Mannes unterwegs, wie sie schon einmal erzählt hatte. Dabei war das Umfeld des Zirkusplatzes oft eines ihrer Motive.

Wie auf etlichen ihrer Bilder sieht man auf ein Stadtrandgebiet.

Im Mittelpunkt steht ein altes Zelt, das wie ein Haus aussieht. Vor dem Eingang spielen Kinder mit einem Ball. Da die Zelttür halb hochgeschlagen ist, kann man etwas ins Innere schauen. Ein Hundekopf, der aus einer Schüssel frisst, ist zu erkennen und ein Feuer scheint zu flackern.

Im Schein des Feuers kann man eine schlafende Person auf einer Liege erahnen.

Rechts vor dem Zelt stehen eine ältere und eine jüngere Frau. Sie reden miteinander.

Da Felix genauer hinsehen will, geht er näher an das Bild heran und sieht, dass die Jüngere die Augen geschlossen hält. Mit ihrem rechten Arm zeigt ins Bild hinein in die Ferne.

Durch das Aufstehen von Felix wird Frau Schimpfrich aus ihren Erinnerungen geweckt.

„Das Foto habe ich in Portugal gemacht. Wir waren da über Winter mit dem Zirkus. Diese Familie hat uns mehrfach durch das Land geführt.“

Sie nimmt das Bild von der Wand und zeigt mit dem Finger auf die beiden Frauen:

„Die linke war die Stammesälteste und stand in dem Ruf, dass sie zaubern kann. Wahre Wunderdinge erzählte man sich von ihr. Eines Tages war der jüngste Sohn der anderen Frau beim Spielen von einem hohen Baum gefallen und lag tagelang im Koma. Das heißt, er war nicht ansprechbar und schien durchweg zu schlafen. Der Arzt konnte nicht helfen. Da sprachen die Eltern die ‘Madre’ an; so wurde die Zauberfrau genannt. Sie blieb eine Nacht bei dem Jungen. Am nächsten Morgen rief die ‘Madre’ die Eltern herein und der Junge schlug die Augen auf. Er war geschwächt, aber wach.

In dieser Situation kam ich zu dem Zelt, um mich zu verabschieden. Natürlich durfte ich mir die ganze Geschichte in voller Länge anhören.

Aus Dankbarkeit für die Rettung des Kindes überreichte ich der ‘Madre’ eine kleine silberne Kette, die ich um den Hals trug.

Da hatte ich aber was getan. Eigentlich wollte man ein Fest feiern, das war bei ihnen Tradition, wenn Gäste kamen. Da wir aber an dem Tag noch weiterziehen wollten, konnte ich sie überreden, auf das Fest zu verzichten.

Sie ließ mich nicht gehen, ohne mir auch ein Geschenk zu machen. Sie kramte in einem kleinen Säckchen und gab mir einen bläulich schimmernden Stein.

Dabei sagte sie sehr geheimnisvoll, wenn ich Hilfe brauche und fest an den Stein denke, wird er anfangen zu leuchten.

Mit diesem Leuchten würde alles gut für mich werden.

Ich habe später einmal einen Juwelier gefragt, was das für ein Stein sein könne. Der sagte, dieser Stein sei ein sogenannter Atlantis-Stein, nichts Besonderes.

Da, neben dem Bild auf der Vitrine liegt er.“

Sie steht auf und nimmt ihn in die Hand.

„Ich hatte ihn fast vergessen, weil ich nie eine solche Hilfe brauchte. Hier, nimm ihn hin, Felix, steck ihn in die Hosentasche. Vielleicht hilft er dir. Du musst nur daran glauben. Fest daran glauben hat die ‘Madre’ gesagt.“

Er greift ihn und will ihn näher betrachten.

Als er mit ihm in Augenhöhe kommt, knistern seine Haare und richten sich auf.

Das will erst einmal nichts besagen.

Seine blonden Haare sind widerspenstig und stehen immer etwas vom Kopf weg.

Aber es ist schon auffällig.

Selbst Carlo, der neugierig auch in die Nähe des Steines kommen will, ist irritiert, weil er die sich aufrichtenden Haare von Felix in die Augen bekommt.

Der Stein hat die Form eines Mandelkerns. Sein Blau ist durchsichtig, manchmal scheint es fast zu verschwinden. Wenn er ihn dreht, wird das Blau wieder kräftiger.

„Gib ihn mir mal“, Carlo ist ungeduldig und will ihn auch in die Hand nehmen.

Aber Felix steckt den Stein ein.

Beeindruckt hat ihn die kleine Geschichte schon. Er wird ihn auch gleich mit Carlo ausprobieren. Hilfe können sie ja auf jeden Fall gebrauchen.

Schnell verabschieden sie sich und brechen auf.

Als sie weg sind, wird Frau Schimpfrich nachdenklich.

Was war das?

Sie hatte es wohl gesehen, dass der Stein Felix‘ Haare aufgerichtet hat.

War das Zufall?

Hatte der Stein doch eine magische Ausstrahlung?

Sie sucht ein Lexikon, um noch einmal nachzulesen, was über den Atlantis-Stein geschrieben steht:

„Atlantis-Stein, umgspr. für Larimar, blauer Halbedelstein; heilende und lindernde Wirkung wird ihm zugeschrieben bei Krisen und Veränderungen im Leben; Auflösung von Energieblockaden; seine faszinierende, blaue, hellblaue und seidenblaue Erscheinung erinnert an den Himmel und das Meer.“

Irgend etwas muss doch an dem Stein sein!

4. Dienstberatung beim Bürgermeister

Herr Goldmann, ein Mitfünfziger, groß, breit, leicht ergraut, ist Bürgermeister mit Leib und Seele. Es gibt nichts, was ihn in seiner Stadt nicht interessieren würde. Alle wichtigen Fragen werden in seinem Büro beraten.

Aber nicht alles geht über seinen Schreibtisch, wie er immer sagt.

Heute hat er die Amtsleiter des Bauamtes und des Jugendamtes zu sich bestellt.

Heute soll noch einmal über den Aufenthaltsplatz für die Jugendlichen gesprochen werden.

Erneut verweist der Bauamtsleiter, Herr Steiger, auf die diskutierte Variante:

„Es gibt keinen rationalen Grund, den Sitzplatz anders anzuordnen. Unser Baumbeauftragter war noch einmal vor Ort und weist darauf hin, dass die Esche gar nicht geeignet ist, ein Baumhaus dieser Größenordnung zu tragen. Es scheint auch schon längere Zeit nicht genutzt worden zu sein. Das Dach ist defekt, die Bank und das kleine Tischchen darin sind durchfeuchtet. Man kann es eigentlich nur abreißen.“

„Das beurteilt ein alter Mann“, der Jugendamtsleiter Thomas platzt es heraus, „entschuldige, Norbert, das ich das so absolut sage. Rein fachlich mag das ja richtig sein. Ich bin noch nicht so weit von meiner Kindheit weg. Der Felix war auch bei mir, ich hatte ihn eingeladen.

Wenn du erlebst, wie er von seinem Haus spricht, begreifst du welche Bedeutung es für ihn hat. Es muss doch eine Möglichkeit geben!“

„Es widerstrebt mir, eine teure Planung so mir nichts, dir nichts umzuwerfen, nur weil ein Kind da irgend welche Sentimentalitäten hegt. Denke daran, was wir für einen Präzedenzfall schaffen. Morgen stehen hundert andere Leute mit Extrawünschen vor der Tür. Da kann ich ja ständig umplanen und komme nie zum Bauen.“

Mit Erstaunen verfolgt Herr Goldmann diesen Dialog:

 

„Sind Sie auch meiner Meinung, Herr Steiger, dass das letzte Argument, wenn es denn überhaupt als Argument durchgeht, mit Sachlichkeit nichts mehr zu tun hat?

Für wen, wenn nicht den Bürger machen wir denn unsere Arbeit? Auch wenn Felix Legan erst 11 Jahre alt ist, so hat er doch ein Recht auf ernsthafte Behandlung seines Problems.“

Herr Steiger will etwas einwenden, kommt aber nicht zu Wort, weil Herr Goldmann seinen Einwurf mit den Händen wegwischt:

„Ich erwarte ernsthafte Vorschläge zu Lösung. Wir haben den Jugendlichen versprochen, dass wir eine Hütte bauen, wohin haben wir noch nicht diskutiert. Die Stadtplanung sollte einen Vorschlag unterbreiten. Den momentan angedachten Standort kennen zur Zeit nur wir.“

„Es gibt noch eine Möglichkeit“, wirft Herr Steiger zögernd ein, „die muss aber noch einmal mit dem Planer abgestimmt werden.“

„In Ordnung, heute ist Mittwoch. Freitag Abend wollen wir mit den Jugendlichen sprechen. Ich sehe mir den neuen Vorschlag übermorgen früh an. Vielen Dank, meine Herren.“

5. Was passiert denn da am Baum?

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