Buch lesen: «Die Freiheit leben», Seite 2

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Vorgefasste Meinungen, kulturelle „blinde Flecke“

Die Erkenntnis, dass uns die Freiheit, wie man sie auch definiert, nicht uneingeschränkt willkommen ist, bringt uns der Möglichkeit, sie von Grund auf neu zu überdenken, nur einen Schritt näher. Ein nächster und dennoch vorläufiger Schritt muss sein, ein paar weitere vorgefasste Meinungen zu entkräften.

Freiheit und Sklaverei

Wir denken uns Freiheit und Sklaverei als diametral entgegengesetzt. Wir sehen sie als Polarität und glauben, dass Freiheit das eine Extrem darstellt und Sklaverei das andere. Das macht die Beweisführung zugunsten der Freiheit kategorisch einfach. Wer will schon ein Sklave sein? Aber ist der Unterschied zwischen Herr und Sklave wirklich der, dass einer eine Freiheit hat, die der andere entbehrt? Lebt nicht der Herr in einem Herrenhaus und der Sklave in einer Baracke? Muss nicht der Sklave sich abmühen, während der Herr Julep3 trinkt? Schwingt nicht der Herr die Peitsche, die auf dem Rücken des anderen Striemen hinterlässt? Dem Leben des Herrn den Vorzug zu geben sagt also wenig über Freiheit aus.

Wissenschaftliche Methodik verlangt, die Eigenschaft zu isolieren, die man untersucht. Das heißt zum Mindesten, dass man nicht ein Leben, das unfrei, aber auch in anderer Hinsicht unerträglich ist, mit einem vergleichen sollte, das Freiheit und dazu eine Anzahl weiterer Annehmlichkeiten beinhaltet. Schon das kleine Einmaleins der Fairness und der Vernunft erfordert, dass die zwei Lebensformen in jeder anderen Hinsicht zumindest annähernd gleich sind. Wir sollten mit dem Herrn also jemanden vergleichen, der ein leichtes Leben mit ähnlichen Annehmlichkeiten hat, und uns dann fragen, wie viel besser dieses Leben wäre, wenn wir noch Freiheit hinzufügten, und wie viel schlechter, wenn der Rest gleich bliebe und nur die Freiheit weggenommen würde.

Freiheit und Klosterleben

Oder wir könnten einen Vergleich mit Mönchen ziehen. In bestimmten strengen Orden fordern die Regeln nicht nur sexuelle Kasteiung, sondern auch in der Ernährung, nahezu ungebrochenes Schweigen, völlige Unterordnung unter Vorgesetzte und strenge Disziplin sogar hinsichtlich der eigenen privaten Gedanken. Ohne Frage gibt es in solch einem Leben noch weniger Freiheit als in dem eines Sklaven, und dennoch ist das Leben von Mönchen zumindest manchmal beeindruckend.

(Der Einwand, dass Mönche bewusst auf ihre Freiheit verzichten, trifft zunächst auf die Gegenfrage: Wirklich? Wie viele sind ins Kloster eingetreten, weil ihre Eltern ein Gelübde abgelegt haben? Was ist mit den Gefahren in dieser und in der jenseitigen Welt? Aber auf jeden Fall, sogar wenn er die Wahl hätte, und sogar wenn ein Trappisten-Mönch in gewissem Sinn die Freiheit hätte, sein Habit abzulegen – mit demselben Recht könnte man argumentieren, ein Sklave habe das Recht zu rebellieren –, würde das den fraglichen Punkt nur untermauern: Denn genau die Tatsache, dass jemand solch ein Leben wählt und sich dafür entscheidet, auf seine Freiheit zu verzichten, zeigt, dass der Verlust der Freiheit allein das Leben noch nicht zum blanken Horror macht.)

Dies bringt mehrere Konsequenzen mit sich: zum einen die, dass Sklaverei nicht gleichbedeutend ist mit dem Fehlen von Freiheit. Die beiden Begriffe sind einander nicht polar entgegengesetzt, und die Sklaverei stellt nicht auf einer Skala abnehmender Freiheit den Endpunkt dar. Es ist möglich, noch weniger Freiheit zu besitzen als ein Sklave. Ein Beispiel dafür ist der Mönch. Ein anderes anschauliches Beispiel wäre, dass Sie mich wie einen Hund an einem Pfahl in Ihrem Hof festbinden. Das würde mir mehr Freiheit wegnehmen, als man den meisten Sklaven nimmt – und doch würde es mich nicht zu Ihrem Sklaven machen. Was einen Menschen auf diesen Zustand reduziert, ist der Entzug von anderen Dingen, der viel lähmender und nicht so uneindeutig ist wie das Einschränken seiner Freiheit.

Die Kehrseite davon ist recht simpel: Wenn jemand nicht dadurch zum Sklaven wird, dass man ihm seine Freiheit wegnimmt, dann wird es auch nicht genügen, ihm die Freiheit zurückzugeben, um seine Entwürdigung zu beenden. Ihn freizulassen ist womöglich der einfachste und kleinste Teil von dem, was an Wiedergutmachung geleistet werden muss.

Leben in totalitären

Gesellschaften

Die Angewohnheit, Herr und Knecht auf der individuellen Ebene nebeneinander zu stellen, findet ihr Gegenstück auf der Ebene der Gesellschaftsformen. Wir halten die schlimmsten Beispiele des Totalitarismus (vor allem unter Hitler und Stalin) neben die besten Vertreter freier Gesellschaften, und wieder siegt die Freiheit kampflos. Der springende Punkt ist wieder derselbe: Der Unterschied zwischen Hitlerdeutschland oder dem stalinistischen Russland auf der einen und der Schweiz oder Schweden auf der anderen Seite besteht nicht so sehr darin, dass die Menschen in den Ersteren „unfrei“ gewesen, in den Letzteren dagegen „frei“ wären. Egal, wie man Freiheit auch immer versteht, gibt es andere und viel größere Unterschiede. Hitlerdeutschland war rassistisch, chauvinistisch, mörderisch, militaristisch, anti-intellektuell und auf Zerstörung aus. Diese Eigenschaften hatten vielleicht mehr mit seinen Gräueln zu tun als lediglich die Abwesenheit von Freiheit, und sie waren es vielleicht, die diese Gesellschaft „totalitär“ gemacht haben. „Totalitär“ ist deswegen nicht einfach das Gegenteil von „frei“. Es hat Gesellschaften gegeben, in denen wenig Freiheit herrschte und die dennoch diese anderen Untugenden nicht praktizierten. Warum nicht die freien Gesellschaften mit diesen vergleichen – zum Beispiel mit den meisten „primitiven“ Gesellschaften, mit Sparta oder dem mittelalterlichen China?

Kehrseiten des Glaubens an die Freiheit

Ein anderer stillschweigender Taschenspielertrick zugunsten der Freiheit, genauso routinemäßig angewandt, betrifft Ursache und Wirkung. Im Allgemeinen stimmt jeder zu, wenn man sagt, dass Ideologien und Institutionen in ihrem historischen und sozialen Umfeld beurteilt werden müssen. Wenn wir Religionen beurteilen, beispielsweise den Buddhismus oder den Islam, geschieht das oft mit glänzendem Einfühlungsvermögen. Aber wenn es um die Freiheit geht, sind wir oft einseitig – was die Vorteile angeht, sind wir unserer Sache sicher, aber die Schattenseiten betrachten wir nicht so genau. Wie sehr wir einer Seite zuneigen, wird anschaulich, wenn wir uns übungshalber einmal auf die andere Seite hinüberlehnen und ein paar negative Auswirkungen Revue passieren lassen, die der Glaube an die Freiheit vielleicht mit sich gebracht hat.

Natürlich müsste der Rahmen dafür sehr weit gesteckt sein. Um nur einigermaßen angemessen vorzugehen, müsste man die gesamte Entwicklung der westlichen Kultur im Überblick betrachten und etwa folgendes Bild skizzieren:

Die westliche oder weiße Zivilisation hatte in der Antike und im Mittelalter keine klar dominierende Stellung. Sie war im Grunde auf die kleine europäische Halbinsel beschränkt und alles in allem nicht weiter entwickelt als die indische oder chinesische oder bestimmte südamerikanische Zivilisationen. Sie übte auch über diese anderen keine politische Hegemonie aus. Eigentlich konnte sie ihre eigene Stellung jahrhundertelang nur unter großen Schwierigkeiten behaupten, und manchmal nicht einmal das, beispielsweise, als sie sich gegen die großen slawischen und muslimischen Vorstöße nicht verteidigen konnte. Der sagenhafte und unvergleichliche Aufstieg des Westens zu überlegener Macht lässt sich natürlich nicht säuberlich datieren, aber allgemein gesprochen ging er einher mit der Entwicklung und sukzessiven Institutionalisierung der Ideale individueller Unabhängigkeit und der Entstehung einer überlegenen Technik und eines Wirtschaftssystems, die sich aus diesen Idealen speisten und sie wiederum verstärkten.

Soziale Entfremdung

Daher müsste man vielleicht diese Technik und dieses wirtschaftliche System mit ihren positiven und negativen Seiten zu den langfristigen Konsequenzen des Glaubens an individuelle Freiheit rechnen. Dasselbe würde für viele Phänomene gelten, die heute unter dem Begriff der sozialen Entfremdung zusammengefasst werden. Vor allem sie hängen sehr direkt damit zusammen und sind vielleicht nur die Kehrseite der Medaille: Wenn Individualität über Gebühr gepriesen wird und man auf den Vorrechten der eigenen Privatsphäre und der eigenen individuellen Neigungen besteht – wenn jeder Mensch sich also von einem Zaun von Rechten umgeben sieht –, dann wird man sich zwangsläufig isoliert fühlen. Soziale Entfremdung ist vielleicht ein völlig unvermeidliches Nebenprodukt von „Freiheit“, und die Diskussionen über den heutigen „Verlust des Gemeinschaftsgefühls“ sind reine Larmoyanz ohne die Einsicht, dass Individualität und Gemeinschaft sich tendenziell ausschließen, dass der Spielraum, den das eine gewinnt, dem anderen verloren gehen muss.

Totalitarismus

und Krieg

Man könnte weiterhin argumentieren, dass durch die Betonung der Individualität in der modernen Industriegesellschaft gewisse fundamentale Bedürfnisse vernachlässigt werden, die sich dann nach und nach aufstauen und schließlich die Schranken durchbrechen, die sie bis dahin eingedämmt haben. Einmal außer Kontrolle geraten, feiern sie eine Orgie der sozialen Kohärenz und der interpersonellen Integration. Ein hemmungsloses Gemeinschaftsgefühl überkompensiert die Verzweiflung eines eingezäunten Privatlebens. Also muss vielleicht auch der Totalitarismus in diese Bilanz eingerechnet werden – natürlich nicht einfach nur auf der negativen Seite, sondern in einer Weise, die die weitläufigen kausalen Zusammenhänge darstellt. Und vom Totalitarismus ist es nur ein kleiner Schritt zu den katastrophalen Kriegen, die als partikularistische Konflikte innerhalb des Westens begannen, bevor sie fast die ganze Welt in den Abgrund rissen. Auch sie könnten in dieser Kalkulation auftauchen, und der Erste Weltkrieg nicht weniger als der Zweite. Denn der Erste Weltkrieg wurde, wie viele Forscher gezeigt haben, von genau der großen Klasse Menschen aktiv herbeigesehnt, die von den Idealen der individuellen Freiheit am meisten beeinflusst waren. Der Großteil des europäischen mittelständischen Bürgertums begrüßte euphorisch den Ausbruch dieses Krieges. Wie später beim Totalitarismus sahen sie in ihm eine Chance, ihrer reglementierten, biederen individuellen Existenz zu entkommen; ihre Ungeduld war langsam gestiegen, bis sie sich schließlich mit unerwarteter Gewalt Luft verschaffte.

Expansion und Zerstörung

fremder Kulturen

Und bei diesen Kriegen haben wir die eine Tatsache noch nicht erwähnt, die turmhoch allen ins Auge sticht, die die Angelegenheit als Außenstehende beurteilen: die Tatsache, dass die Idee der individuellen Freiheit organischer Bestandteil einer Kultur war, die solchen Expansionsdrang und solche Expansionsfähigkeit entwickelte, dass sie alle anderen Zivilisationen zerstörte – einige durch Ausrottung, den Rest, indem sie sie verwestlichte.

Nur „Betriebsunfälle“?

In diesen Eigenschaften des Westens lediglich „zeitweilige Entgleisungen“ zu sehen, „Betriebsunfälle“, „Kinderkrankheiten“, ist genau die Hauptstrategie, mit der wir diese ganze Beurteilung beschönigen. Was berechtigt uns zu dem Glauben, dass die dunklen Seiten irgendwie weggelassen werden können, dass irgendwann rein das, was man sich von der Freiheit erhoffte und was man mit dieser Idee bezweckte, verwirklicht werden kann – ohne Nebenwirkungen und ohne Verluste an anderer Stelle? Weshalb annehmen, dass die schrecklichen und dämonischen Züge des Westens nur zufällige, momentane Fehler sind? Ihre Wurzeln reichen womöglich genauso tief wie die seiner glänzendsten Leistungen. Vielleicht hängt beides, das Hervorragende und das Abstoßende, gleich eng mit der Idee der Freiheit zusammen.

Am Ende könnte das einer der Hauptgründe dafür sein, warum andere Menschen dieses Geschenk von uns nur widerwillig annehmen – sie sind nicht gewillt, „Freiheit“ als unverfälschten, „reinen“ Wert an sich anzusehen, sondern sehen, in unserer Version, einen organischen Arm des Westens. Und sie haben Recht. Wenn sie einen Beitrag zu unserer Größe geleistet hat, dann trägt sie auch Verantwortung für unsere Verbrechen. Sie ist nicht unschuldig. Sie hat mitgeholfen, als der Westen zwei Drittel der Menschheit zu Aussätzigen machte.

Die Geschichte vom einsamen Dorf

Vielleicht gibt uns eine kleine Geschichte ein paar erste, ungefähre Vorstellungen von dem Weshalb und Wozu dessen, was hier folgen soll:

Stellen wir uns ein sehr abgelegenes, tadellos ordentliches Dorf vor. Alles ist im rechten Winkel, nichts ragt irgendwie störend hervor. Die Menschen, die es bewohnen, sind viel kultivierter als gewöhnliche Bauern. Vor Hunderten von Jahren haben sie schon sehr leise und melodisch gesprochen, und nun haben sie einen Grad der Verfeinerung erreicht, der nahezu völlige Stille gebietet. Fast ihre gesamte Kommunikation geht mit Hilfe ausgesucht subtiler ritueller Gesten vor sich. Zum Beispiel gibt es mindestens hundert verschiedene Arten, die Augen vor der Sonne zu schützen, und jede davon hat eine eigene Bedeutung.

Im Zentrum dieses Dorfes steht ein alter strohgedeckter Tempel, und in diesem Tempel hängt ein enormer Gong aus poliertem Messing, so groß wie die Oberfläche eines Teiches. Wenn irgendetwas geschieht, was das ganze Dorf betrifft, wenn der Fluss über die Ufer tritt oder ein Feind die Grenze überschritten hat oder eine Heuschreckenwolke das Land überschattet, dann rennt jemand zum Tempel, und nach Monaten oder manchmal Jahren würdevoller Strenge und Stille ertönt das Dröhnen dieses Gongs. Nach der langen Stille trifft dieser Lärm sie wie ein Schlag. Manche – zugegeben die Kultiviertesten – fallen zu Boden, den Kopf in den Armen bergend. Die Übrigen zittern so, dass sie nicht einmal mehr die Gesten ihrer Taubstummensprache ausführen können, und bei diesem Lärm zu flüstern ist sinnlos. Das macht es jedem sehr schwer herauszufinden, warum der Gong geschlagen worden ist, und so wird das Dorf zur leichten Beute jeder Gefahr und jedes Feindes.

„Freiheit“ ist nicht der höchste,

letzte, absolute Wert

Der Punkt, auf den es ankommt, ist, dass uns der Klang der „Freiheit“ so betäubt wie der Gong jene Bauern. Wenn wir einen gemeinsamen Nenner suchen, etwas, das die vielfältigen Defizite unserer Gesellschaft zusammenfasst, dann hat die Formel, dass wir „unterdrückt“ seien, dieselbe Wirkung wie in unserer Geschichte das Dröhnen des Gongs: Sie füllt unsere Ohren, bis wir keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Wider das bessere Wissen, dass das vielleicht ein Fehlurteil ist, dass es jedenfalls keine zentrale Rolle spielt oder nicht die Diagnose ist, die wir brauchen, beendet diese Formel mit ihrer Wucht sofort die Möglichkeit echten Nachdenkens. Und das Gleiche geschieht, wenn wir wissen wollen, welches Ziel wir uns stecken, in welche Richtung wir gehen sollen. Auch dann sagt uns die Antwort „größere Freiheit“ nichts. Wieder hören wir nur Gedröhn. Alle machen mit und formen wie betäubt das Wort mit ihren Lippen nach, aber jeder meint etwas anderes, und es wird keinerlei Intelligenz oder Information ausgetauscht.

Es sollte klar sein, dass es nicht die Absicht dieser Untersuchung ist, die Idee der Freiheit mit dem berühmten Körnchen Salz zu würzen oder eine weitere Definition aus dem Hut zu zaubern, was Freiheit „wirklich“ bedeutet. Sie ist vielmehr durch den starken Verdacht motiviert, dass der Begriff der Freiheit zum Nachdenken nicht taugt. Der Versuch, zu einem sinnvollen Verständnis sozialer Angelegenheiten zu gelangen, hat sich in den Fallstricken dieser Idee verfangen. Eine theoretischer Orientierungsrahmen für die Gesellschaft oder den Staat lässt sich auf dieser Basis nicht aufbauen. Es geht deshalb nicht darum, über Wert oder Unwert der Freiheit zu diskutieren. Stattdessen möchten wir den Weg für die Erkenntnis bereiten, dass solch ein intellektueller Wettstreit fehl am Platz ist, dass er ein sinnloses und ermüdendes Tauziehen darstellt. Das Ziel ist also, kurz gesagt, genau das Gegenteil davon, in den Diskussionen um die Freiheit Stellung zu beziehen. Es besteht eher darin, eine Art des Nachdenkens vorzubereiten, die nicht den Spagat zwischen diesen beiden Gegenpolen machen muss.

Ein neuer

Orientierung­s-

­rahmen ist nötig

Das heißt nicht, dass viele der Dinge, die unter der Idee der Freiheit vertreten, verfochten und gedacht wurden, nicht gut und großartig gewesen wären oder dass, im selben Sinne, vieles von dem, was auf den Nenner „Unterdrückung“ gebracht wurde, eigentlich nicht schlecht gewesen sei. Es heißt vielmehr, dass diese Idee nicht mehr als Bewertungsbasis dient und wir deshalb ein neues Koordinatensystem brauchen, in dem die Dinge ihren Platz finden. Es heißt, dass die alten Gründe nichtssagend geworden sind und wir neu nachdenken müssen, wo hinten und vorn, wo oben und unten ist.

In der gegenwärtigen Situation mangelt es vielen sozialen Theorien an Selbstvertrauen. Die meisten von uns haben eine vage und dumpfe Ahnung, dass die Grundlagen schwanken, dass wir keinen festen Boden unter den Füßen haben und wir deshalb nach immer neuen Strohhalmen greifen. Es gibt wenig Eigenständiges, kaum wagemutige Vorstöße. Es zeichnet sich keine echte Struktur ab, die ihr eigenes Gewicht tragen, geschweige denn neue Orientierungslinien vorschlagen (und zu gewichtigen Schlussfolgerungen führen und sie stützen) könnte. Die eigentümliche Doppeldeutigkeit der Idee der Freiheit hat zu dieser Lähmung beigetragen, weil sie einerseits ein Ziel und einen Rahmen postulierte, andererseits aber so problematisch ist, dass sie weder Orientierung noch einen schlüssigen Sinnzusammenhang liefern kann. Wir kommen über ein kasuistisches Blindekuh-Spiel nicht hinaus. Die Idee der Freiheit ist bis jetzt wie eine Haube, die den Falken des Gedankens auf dem Lederhandschuh hält. Denn sie gibt uns die Illusion, dass wir ein Ziel haben, dass es bekannt ist, dass es dafür einen Rahmen gibt und wir alles richtig verstehen – und deshalb werden die großen Fragen gar nicht erst gestellt.

1 G. W. F. Hegel, Philosophie der Geschichte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, hrsg. von Hermann Glockner, Stuttgart: Frommann, 1927, S. 49.

2 Leo Trotzki, Literatur und Revolution, Essen: Arbeiterpresse-Verlag, 1994, S. 252.

3 Julep ist das sprichwörtliche Getränk der Plantagenbesitzer des amerikanischen Südens.

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Eine Theorie der Freiheit

Wir müssen nun eine andere Gangart einschlagen. Bis jetzt haben wir nur hinter einige allgemein verbreitete Grundannahmen Fragezeichen gesetzt und Terrain abgesteckt, das unsicher und problematisch ist. Von nun an werden wir jedoch methodischer und in einer systematischeren Reihenfolge vorgehen, denn es soll nun eine Theorie der Freiheit entwickelt werden.

Eine Meta-Theorie der Freiheit

Es sollte klar sein, dass das Thema unserer Theorie in gewisser Hinsicht nicht Freiheit selbst sein wird. Das Ziel wird sein zu erklären, welche Ansichten in Bezug auf die Freiheit bisher vertreten worden sind. Bis jetzt umschwirren uns diese in verwirrender Vielfalt. Die Absicht ist nun, eine Abstraktionsstufe höher zu steigen und die Logik und Gesetzmäßigkeit ans Licht zu bringen, die diese unterschiedlichen Interpretationen leitet, die ihre verblüffende Vielgestaltigkeit ordnet. Was wir vorlegen wollen, ist deshalb in diesem Sinne eine Art Meta-Theorie der Freiheit.

Ausgangspunkt: Ein weit verbreitetes Lebensgefühl

Ich werde mit einer gelebten Erfahrung anfangen, teilweise auch deshalb, um den kommenden höchst abstrakten Überlegungen einen konkreten Bezugspunkt zu geben, aber auch aus anderen Gründen, die gleich klar werden sollen: Es gibt Momente, in denen wir das Gefühl haben, dass unser wirkliches Leben noch nicht begonnen hat. Unsere gesamte Vergangenheit scheint eine lange Theaterprobe gewesen zu sein. Mehr oder weniger sieht es aus, als sei bis jetzt alles nur „hypothetisch“ gewesen, nur eine von vielen Möglichkeiten, die wir in Erwägung gezogen haben; dass es nicht das letzte Wort ist und von der uns zur Verfügung stehenden Zeit noch nichts verbraucht ist. Manchmal fühlt es sich auch so an, als seien wir selbst gar nicht aktiv gewesen, steckten gar nicht richtig „in“ unserem Leben, sondern hätten es nur beobachtet wie Zuschauer – den unpersönlichen Ablauf eines Zusammenspiels der Kräfte. Es ist, als hätte ein hölzerner Doppelgänger von uns all die Vorgänge durchlebt, die unsere Vergangenheit darstellen, und das, was wir wirklich sind, hätte sich indessen die ganze Zeit geduldig im Abseits gehalten und gewartet, dass es an die Reihe kommt. Nur ein plötzlicher Auftritt würde unser Selbst – so lange hinter den Kulissen verborgen – endlich auf die Bühne befördern. Und das wäre dann unsere erste wirkliche Handlung, eine Art Geburt, der lange aufgeschobene Anfang unseres wirklichen Lebens.

Was nötig ist, um ihn herbeizuführen, darüber gehen die Meinungen ziemlich auseinander. Manchmal scheint es, als sei es wunderbar einfach. Wir haben das Gefühl, als könnte sich von einem Atemzug zum nächsten alles ändern, als würde ein neuer innerer Wille genügen, als müsste man nur nicken, Ja sagen, und der Vorhang würde sich öffnen. Viel öfter jedoch scheint es entmutigend schwierig. Alle gewöhnlichen Maßnahmen scheinen unzureichend. Es ist, als müssten wir einen absolut neuen Anfang machen, der hier aber nicht stattfinden kann, sondern nur auf irgendeiner anderen Seite, auf die wir erst gelangen müssen; als wenn dieser neue Start von allen Bindungen an die Gegenwart befreit werden müsste, weil jegliche Kontinuität mit der Vergangenheit ihn korrumpieren würde. Dann malen wir uns phantastische Fluchtmöglichkeiten aus, ersehnen uns das Leben eines Vagabunden, eines Einsiedlers oder wollen in die Fremdenlegion eintreten. Es scheint uns, als könnte nur solch ein drastischer Schnitt, paradox und verrückt, wie er ist, nur etwas so Wildes und Unerhörtes endlich „real“ sein, als würde nur solch ein weitreichender Akt das eigene verborgene Selbst endlich zum Vorschein bringen.

Ein entfremdetes Selbst

Die Beklemmung und die rastlose Suche nach einer unerreichbaren Entschlossenheit, die diese Erfahrung begleiten, werden plausibel, wenn wir die Art und Weise betrachten, in der das Selbst sich unvermeidlich konzeptualisiert, wenn es ins Spiel kommt. Wenn die Erfahrung intensiv ist, fühlen wir uns von allem, was wir sind, abgeschnitten. Nicht nur unsere Vergangenheit, sondern sogar unsere momentanen Gedanken und Gefühle scheinen irgendwie weit weg zu sein, fremd, wie etwas, was wir beobachten. Wenn aber so viel „abgespalten“ und zum „Objekt“ gemacht worden ist, dann bleibt für das beobachtende Selbst nicht mehr viel übrig. Wenn das Selbst sich von den Elementen abtrennt, die es konstituieren, dann reduziert es sich auf etwas Substanzloses, auf nicht mehr als einen Punkt – den Punkt, von dem aus der Rest gesehen wird. Die Basis, von der aus ich dann wahrnehme, der Bereich, von dem ich das Gefühl habe, das „bin wirklich ich“, ist dann fast auf null geschrumpft, und dementsprechend wird deshalb das Gefühl der Isolation und des Mangels absolut.

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