Buch lesen: «Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke», Seite 59

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Bil­lig­keit. – Eine Fort­bil­dung der Ge­rech­tig­keit ist die Bil­lig­keit, ent­ste­hend un­ter sol­chen, wel­che nicht ge­gen die Ge­mein­de-Gleich­heit ver­sto­ßen: es wird auf Fäl­le, wo das Ge­setz nichts vor­schreibt, jene fei­ne­re Rück­sicht des Gleich­ge­wichts über­tra­gen, wel­che vor- und rück­wärts blickt und de­ren Ma­xi­me ist "wie du mir, so ich dir". Ae­quum heißt eben "es ist ge­mäß un­se­rer Gleich­heit; die­se mil­dert auch un­se­re klei­nen Ver­schie­den­hei­ten zu ei­nem An­schein von Gleich­heit her­ab und will, daß wir man­ches uns nach­se­hen, was wir nicht müß­ten".

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Ele­men­te der Ra­che. – Das Wort "Ra­che" ist so schnell ge­spro­chen: fast scheint es, als ob es gar nicht mehr ent­hal­ten kön­ne, als eine Be­griffs- und Emp­fin­dungs-Wur­zel. Und so be­müht man sich im­mer noch die­sel­be zu fin­den: wie un­se­re Na­tio­nal­öko­no­men noch nicht müde ge­wor­den sind, im Wor­te "Wert" eine sol­che Ein­heit zu wit­tern und nach dem ur­sprüng­li­chen Wur­zel­be­griff des Wer­tes zu su­chen. Als ob nicht alle Wor­te Ta­schen wä­ren, in wel­che bald dies, bald je­nes, bald meh­re­res auf ein­mal ge­steckt wor­den ist! So ist auch "Ra­che" bald dies, bald je­nes, bald et­was mehr Zu­sam­men­ge­setz­tes. Man un­ter­schei­de ein­mal je­nen ab­weh­ren­den Zu­rück­schlag, den man fast un­will­kür­lich auch ge­gen leb­lo­se Ge­gen­stän­de, die uns be­schä­digt ha­ben (wie ge­gen be­weg­te Ma­schi­nen), aus­führt: der Sinn un­se­rer Ge­gen­be­we­gung ist, dem Be­schä­dig­ten Ein­halt zu tun da­durch, daß wir die Ma­schi­ne zum Still­stand brin­gen. Die Stär­ke des Ge­gen­schlags muß mit­un­ter, um dies zu er­rei­chen, so stark sein, daß er die Ma­schi­ne zer­trüm­mert; wenn die­sel­be aber zu stark ist, um vom ein­zel­nen so­fort zer­stört wer­den zu kön­nen, wird die­ser doch im­mer noch den hef­tigs­ten Schlag aus­füh­ren, des­sen er fä­hig ist, – gleich­sam als einen letz­ten Ver­such. So be­nimmt man sich auch ge­gen schä­di­gen­de Per­so­nen bei der un­mit­tel­ba­ren Emp­fin­dung des Scha­dens sel­ber; will man die­sen Akt einen Ra­che-Akt nen­nen, so mag es sein; nur er­wä­ge man, daß hier al­lein die Selbst-Er­hal­tung ihr Ver­nunft-Rä­der­werk in Be­we­gung ge­setzt hat, und daß man im Grun­de nicht an den Schä­di­ger, son­dern nur an sich da­bei denkt: wir han­deln so, oh­ne wie­der scha­den zu wol­len, son­dern nur um noch mit Leib und Le­ben da­von­zu­kom­men. – Man braucht Zeit, wenn man von sich mit sei­nen Ge­dan­ken zum Geg­ner über­geht und sich fragt, auf wel­che Wei­se er am emp­find­lichs­ten zu tref­fen ist. Dies ge­schieht bei der zwei­ten Art von Ra­che: ein Nach­den­ken über die Ver­wund­bar­keit und Lei­dens­fä­hig­keit des an­dern ist ihre Voraus­set­zung: man will we­he­tun. Da­ge­gen sich sel­ber ge­gen wei­te­ren Scha­den si­chern, liegt hier so we­nig im Ge­sichts­kreis des Ra­che-Neh­men­den, daß er fast re­gel­mä­ßig den wei­te­ren ei­ge­nen Scha­den zu­we­ge bringt und ihm sehr oft kalt­blü­tig vor­her ent­ge­gen­sieht. War es bei der ers­ten Art von Ra­che die Angst vor dem zwei­ten Schla­ge, wel­che den Ge­gen­schlag so stark wie mög­lich mach­te: so ist hier fast völ­li­ge Gleich­gül­tig­keit ge­gen das, was der Geg­ner tun wird; die Stär­ke des Ge­gen­schlags wird nur durch das, was er uns ge­tan hat, be­stimmt. Was hat er denn ge­tan? Und was nützt es uns, wenn er nun lei­det, nach­dem wir durch ihn ge­lit­ten ha­ben? Es han­delt sich um eine Wie­der­her­stel­lung: wäh­rend der Ra­che-Akt ers­ter Art nur der Selbst-Er­hal­tung dient. Vi­el­leicht ver­lo­ren wir durch den Geg­ner Be­sitz, Rang, Freun­de, Kin­der – die­se Ver­lus­te wer­den durch die Ra­che nicht zu­rück­ge­kauft, die Wie­der­her­stel­lung be­zieht sich al­lein auf einen Ne­ben­ver­lust bei al­len den er­wähn­ten Ver­lus­ten. Die Ra­che der Wie­der­her­stel­lung be­wahrt nicht vor wei­te­rem Scha­den, sie macht den er­lit­te­nen Scha­den nicht wie­der gut, – au­ßer in ei­nem Fal­le. Wenn un­se­re Ehre durch den Geg­ner ge­lit­ten hat, so ver­mag die Ra­che sie wie­der­her­zu­stel­len. Sie hat aber in je­dem Fal­le einen Scha­den er­lit­ten, wenn man uns ab­sicht­lich ein Leid zu­füg­te: denn der Geg­ner be­wies da­mit, daß er uns nicht fürch­te­te. Durch die Ra­che be­wei­sen wir, daß wir auch ihn nicht fürch­ten: dar­in liegt die Aus­glei­chung, die Wie­der­her­stel­lung. (Die Ab­sicht, den völ­li­gen Man­gel an Furcht zu zei­gen, geht bei ei­ni­gen Per­so­nen so weit, daß ih­nen die Ge­fähr­lich­keit der Ra­che für sie selbst – Ein­bu­ße der Ge­sund­heit oder des Le­bens oder sons­ti­ge Ver­lus­te – als eine un­er­läß­li­che Be­din­gung je­der Ra­che gilt. Des­halb ge­hen sie den Weg des Duells, ob­schon die Ge­rich­te ih­nen den Arm bie­ten, um auch so Ge­nug­tu­ung für die Be­lei­di­gung zu er­hal­ten: sie neh­men aber die ge­fahr­lo­se Wie­der­her­stel­lung ih­rer Ehre nicht als ge­nü­gend an, weil sie ih­ren Man­gel an Furcht nicht be­wei­sen kann.) – Bei der ers­ter­wähn­ten Art der Ra­che ist es ge­ra­de die Furcht, die den Ge­gen­schlag aus­führt: hier da­ge­gen ist es die Ab­we­sen­heit der Furcht, wel­che, wie ge­sagt, durch den Ge­gen­schlag sich be­wei­sen will. – Nichts scheint also ver­schie­de­ner als die in­ne­re Mo­ti­vie­rung der bei­den Hand­lungs­wei­sen, die mit ei­nem Wort "Ra­che" be­nannt wer­den: und trotz­dem kommt es sehr häu­fig vor, daß der Ra­che-Üben­de in Un­klar­heit ist, was ihn ei­gent­lich zur Tat be­stimmt hat; viel­leicht, daß er aus Furcht und um sich zu er­hal­ten den Ge­gen­schlag führ­te, hin­ter­her aber, als er Zeit hat­te, über den Ge­sichts­punkt der ver­letz­ten Ehre nach­zu­den­ken, sel­ber sich ein­re­det, sei­ner Ehre hal­ber sich ge­rächt zu ha­ben: – die­ses Mo­tiv ist ja je­den­falls vor­neh­mer als das an­de­re! Da­bei ist noch we­sent­lich, ob er sei­ne Ehre in den Au­gen der an­de­ren (der Welt) be­schä­digt sieht oder nur in den Au­gen des Be­lei­di­gers: im letz­te­ren Fal­le wird er die ge­hei­me Ra­che vor­zie­hen, im ers­te­ren aber die öf­fent­li­che. Je nach­dem er sich stark oder schwach in die See­le des Tä­ters und der Zuschau­er hin­ein­denkt, wird sei­ne Ra­che er­bit­ter­ter oder zah­mer sein; fehlt ihm die­se Art Phan­ta­sie ganz, so wird er gar nicht an Ra­che den­ken, denn das Ge­fühl der "Ehre" ist dann bei ihm nicht vor­han­den, also auch nicht zu ver­let­zen. Eben­so wird er nicht an Ra­che den­ken, wenn er den Tä­ter und die Zuschau­er der Tat ver­ach­tet: weil sie ihm kei­ne Ehre ge­ben kön­nen, als Ver­ach­te­te, und dem­nach auch kei­ne Ehre neh­men kön­nen. End­lich wird er auf Ra­che in dem nicht un­ge­wöhn­li­chen Fal­le ver­zich­ten, daß er den Tä­ter liebt: frei­lich büßt er so in des­sen Au­gen an Ehre ein und wird viel­leicht der Ge­gen­lie­be da­durch we­ni­ger wür­dig. Aber auch auf alle Ge­gen­lie­be Ver­zicht leis­ten ist ein Op­fer, wel­ches die Lie­be zu brin­gen be­reit ist, wenn sie dem ge­lieb­ten We­sen nur nicht we­he­tun muß: dies hie­ße sich sel­ber mehr we­he­tun, als je­nes Op­fer we­he­tut. – Also: je­der­mann wird sich rä­chen, er sei denn ehr­los oder voll Ver­ach­tung oder voll Lie­be ge­gen den Schä­di­ger und Be­lei­di­ger. Auch wenn er sich an die Ge­rich­te wen­det, so will er die Ra­che als pri­va­te Per­son: ne­ben­bei aber noch, als wei­ter­den­ken­der, vor­sorg­li­cher Mensch der Ge­sell­schaft, die Ra­che der Ge­sell­schaft an ei­nem, der sie nicht ehrt. So wird durch die ge­richt­li­che Stra­fe so­wohl die Pri­vat­eh­re als auch die Ge­sell­schaft­seh­re wie­der­her­ge­stellt: das heißt – Stra­fe ist Ra­che. – Es gibt in ihr un­zwei­fel­haft auch noch je­nes an­de­re zu­erst be­schrie­be­ne Ele­ment der Ra­che, in­so­fern durch sie die Ge­sell­schaft ih­rer Selbst-Er­hal­tung dient und der Not­wehr hal­ber einen Ge­gen­schlag führt. Die Stra­fe will das wei­te­re Schä­di­gen ver­hü­ten, sie will ab­schre­cken. Auf die­se Wei­se sind wirk­lich in der Stra­fe bei­de so ver­schie­de­ne Ele­men­te der Ra­che ver­knüpft, und dies mag viel­leicht am meis­ten da­hin wir­ken, jene er­wähn­te Be­griffs­ver­wir­rung zu un­ter­hal­ten, ver­mö­ge de­ren der ein­zel­ne, der sich rächt, ge­wöhn­lich nicht weiß, was er ei­gent­lich will.

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Die Tu­gen­den der Ein­bu­ße. – Als Mit­glie­der von Ge­sell­schaf­ten glau­ben wir ge­wis­se Tu­gen­den nicht aus­üben zu dür­fen, die uns als Pri­va­ten die größ­te Ehre und ei­ni­ges Ver­gnü­gen ma­chen, zum Bei­spiel Gna­de und Nach­sicht ge­gen Ver­feh­len­de al­ler Art – über­haupt jede Hand­lungs­wei­se, bei wel­cher der Vor­teil der Ge­sell­schaft durch un­se­re Tu­gend lei­den wür­de. Kein Rich­ter-Kol­le­gi­um darf sich vor sei­nem Ge­wis­sen er­lau­ben, gnä­dig zu sein dem Kö­nig als ei­nem ein­zel­nen hat man dies Vor­recht auf­be­hal­ten; man freut sich, wenn er Ge­brauch da­von macht, zum Be­wei­se, daß man gern gnä­dig sein möch­te, aber durch­aus nicht als Ge­sell­schaft. Die­se er­kennt so­mit nur die ihr vor­teil­haf­ten oder min­des­tens un­schäd­li­chen Tu­gen­den an (die ohne Ein­bu­ße oder gar mit Zin­sen ge­übt wer­den, zum Bei­spiel Ge­rech­tig­keit). Jene Tu­gen­den der Ein­bu­ße kön­nen dem­nach in der Ge­sell­schaft nicht ent­stan­den sein, da noch jetzt, in­ner­halb je­der kleins­ten sich bil­den­den Ge­sell­schaft der Wi­der­spruch ge­gen sie sich er­hebt. Es sind also Tu­gen­den un­ter Nicht-Gleich­ge­stell­ten, er­fun­den von dem Über­le­ge­nen, ein­zel­nen, es sind Herr­scher-Tu­gen­den, mit dem Hin­ter­ge­dan­ken: "ich bin mäch­tig ge­nug, um mir eine er­sicht­li­che Ein­bu­ße ge­fal­len zu las­sen, dies ist ein Be­weis mei­ner Macht" – also mit Stolz ver­wand­te Tu­gen­den.

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Ka­suis­tik des Vor­teils. – Es gäbe kei­ne Ka­suis­tik der Moral, wenn es kei­ne Ka­suis­tik des Vor­teils gäbe. Der frei­es­te und feins­te Ver­stand reicht oft nicht aus, zwi­schen zwei Din­gen so zu wäh­len, daß der grö­ße­re Vor­teil not­wen­dig bei sei­ner Wahl ist. In sol­chen Fäl­len wählt man, weil man wäh­len muß, und hat hin­ter­drein eine Art See­krank­heit der Emp­fin­dung.

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Zum Heuch­ler wer­den. – Je­der Bett­ler wird zum Heuch­ler; wie je­der, der aus ei­nem Man­gel, aus ei­nem Not­stand (sei dies ein per­sön­li­cher oder ein öf­fent­li­cher) sei­nen Be­ruf macht. – Der Bett­ler emp­fin­det den Man­gel lan­ge nicht so, als er ihn emp­fin­den ma­chen muß, wenn er vom Bet­teln le­ben will.

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Ei­ne Art Kul­tus der Lei­den­schaf­ten. – Ihr Düs­ter­lin­ge und phi­lo­so­phi­schen Blind­schlei­chen re­det, um den Cha­rak­ter des gan­zen Welt­we­sens an­zu­kla­gen, von dem furcht­ba­ren Cha­rak­ter der mensch­li­chen Lei­den­schaf­ten. Als ob über­all, wo es Lei­den­schaft ge­ge­ben hat, es auch Furcht­bar­keit ge­ge­ben hät­te! Als ob es im­mer­fort in der Welt die­se Art von Furcht­bar­keit ge­ben müß­te! – Durch eine Ver­nach­läs­si­gung im klei­nen, durch Man­gel an Selbst-Beo­b­ach­tung und Beo­b­ach­tung de­rer, wel­che er­zo­gen wer­den sol­len, habt ihr sel­ber erst die Lei­den­schaf­ten zu sol­chen Un­tie­ren an­wach­sen las­sen, daß euch jetzt schon beim Wor­te "Lei­den­schaft" Furcht be­fällt! Es stand bei euch und steht bei uns, den Lei­den­schaf­ten ih­ren furcht­ba­ren Cha­rak­ter zu neh­men und der­ma­ßen vor­zu­beu­gen, daß sie nicht zu ver­hee­ren­den Wild­was­sern wer­den. – Man soll sei­ne Ver­se­hen nicht zu ewi­gen Fa­ta­li­tä­ten auf­bla­sen; viel­mehr wol­len wir red­lich mit an der Auf­ga­be ar­bei­ten, die Lei­den­schaf­ten der Mensch­heit al­le­samt in Freu­den­schaf­ten um­zu­wan­deln.

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Ge­wis­sens­biß. – Der Ge­wis­sens­biß ist, wie der Biß des Hun­des ge­gen einen Stein, eine Dumm­heit.

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Ur­sprung der Rech­te. – Die Rech­te ge­hen zu­nächst auf Her­kom­men zu­rück, das Her­kom­men auf ein ein­ma­li­ges Ab­kom­men. Man war ir­gend­wann ein­mal bei­der­sei­tig mit den Fol­gen des ge­trof­fe­nen Ab­kom­mens zu­frie­den und wie­der­um zu trä­ge, um es förm­lich zu er­neu­ern; so leb­te man fort, wie wenn es im­mer er­neu­ert wor­den wäre, und all­mäh­lich, als die Ver­ges­sen­heit ihre Ne­bel über den Ur­sprung brei­te­te, glaub­te man einen hei­li­gen, un­ver­rück­ba­ren Zu­stand zu ha­ben, auf dem je­des Ge­schlecht wei­ter­bau­en müs­se. Das Her­kom­men war jetzt Zwang, auch wenn es den Nut­zen nicht mehr brach­te, des­sent­we­gen man ur­sprüng­lich das Ab­kom­men ge­macht hat­te. – Die Schwa­chen ha­ben hier ihre fes­te Burg zu al­len Zei­ten ge­fun­den: sie nei­gen da­hin, das ein­ma­li­ge Ab­kom­men, die Gna­de­n­er­wei­sung zu ver­ewi­gen.

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Die Be­deu­tung des Ver­ges­sens in der mo­ra­li­schen Emp­fin­dung. – Die­sel­ben Hand­lun­gen, wel­che in­ner­halb der ur­sprüng­li­chen Ge­sell­schaft zu­erst die Ab­sicht auf ge­mein­sa­men Nut­zen ein­gab, sind spä­ter von an­de­ren Ge­ne­ra­tio­nen auf an­de­re Mo­ti­ve hin ge­tan wor­den: aus Furcht oder Ehr­furcht vor de­nen, die sie for­der­ten und an­emp­fah­len, oder aus Ge­wohn­heit, weil man sie von Kind­heit an um sich hat­te tun se­hen, oder aus Wohl­wol­len, weil ihre Aus­übung über­all Freu­de und zu­stim­men­de Ge­sich­ter schuf, oder aus Ei­tel­keit, weil sie ge­lobt wur­den. Sol­che Hand­lun­gen, an de­nen das Grund­mo­tiv, das der Nütz­lich­keit, ver­ges­sen wor­den ist, hei­ßen dann mo­ra­li­sche: nicht etwa weil sie aus je­nen an­de­ren Mo­ti­ven, son­dern weil sie nicht aus be­wuß­ter Nütz­lich­keit ge­tan wer­den. – Wo­her die­ser Haß ge­gen den Nut­zen, der hier sicht­bar wird, wo sich al­les lo­bens­wer­te Han­deln ge­gen das Han­deln um des Nut­zens wil­len förm­lich ab­schließt? – Of­fen­bar hat die Ge­sell­schaft, der Herd al­ler Moral und al­ler Lob­sprü­che des mo­ra­li­schen Han­delns, all­zu lan­ge und all­zu hart mit dem Ei­gen-Nut­zen und Ei­gen-Sin­ne des ein­zel­nen zu kämp­fen ge­habt, um nicht zu­letzt je­des an­de­re Mo­tiv sitt­lich hö­her zu ta­xie­ren als den Nut­zen. So ent­steht der An­schein, als ob die Moral nicht aus dem Nut­zen her­aus­ge­wach­sen sei; wäh­rend sie ur­sprüng­lich der Ge­sell­schafts-Nut­zen ist, der große Mühe hat­te, sich ge­gen alle die Pri­vat-Nütz­lich­kei­ten durch­zu­set­zen und in hö­he­res An­se­hen zu brin­gen.

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Die Er­brei­chen der Mora­li­tät. – Es gibt auch im Mora­li­schen einen Er­b-Reich­tum: ihn be­sit­zen die Sanf­ten, Gut­mü­ti­gen, Mit­lei­di­gen, Mild­tä­ti­gen, wel­che alle die gute Hand­lungs­wei­se, aber nicht die Ver­nunft (die Quel­le der­sel­ben) von ih­ren Vor­fah­ren her mit­be­kom­men ha­ben. Das An­ge­neh­me an die­sem Reich­tum ist, daß man von ihm fort­wäh­rend dar­rei­chen und mit­tei­len muß, wenn er über­haupt emp­fun­den wer­den soll, und daß er so un­will­kür­lich dar­an ar­bei­tet, die Ab­stän­de zwi­schen mo­ra­lisch-reich und -arm ge­rin­ger zu ma­chen: und zwar, was das merk­wür­digs­te und bes­te ist, nicht zu­guns­ten ei­nes der­eins­ti­gen Mit­tel­ma­ßes zwi­schen arm und reich, son­dern zu­guns­ten ei­nes all­ge­mei­nen Reich- und Über­reich-wer­dens. – So wie hier ge­sche­hen ist, läßt sich etwa die herr­schen­de An­sicht über den mo­ra­li­schen Er­breich­tum zu­sam­men­fas­sen: aber es scheint mir, daß die­sel­be mehr in ma­jo­rem glo­riam der Mora­li­tät, als zu Ehren der Wahr­heit auf­recht­er­hal­ten wird. Die Er­fah­rung min­des­tens stellt einen Satz auf, wel­cher, wenn nicht als Wi­der­le­gung, je­den­falls als be­deu­ten­de Ein­schrän­kung je­ner All­ge­mein­heit zu gel­ten hat. Ohne den er­le­sens­ten Ver­stand, so sagt die Er­fah­rung, ohne die Fä­hig­keit der feins­ten Wahl und einen star­ken Hang zum Maß­hal­ten wer­den die Mora­lisch-Er­brei­chen zu Ver­schwen­dern der Mora­li­tät: in­dem sie halt­los sich ih­ren mit­lei­di­gen, mild­tä­ti­gen, ver­söh­nen­den, be­schwich­ti­gen­den Trie­ben über­las­sen, ma­chen sie alle Welt um sich nach­läs­si­ger, be­gehr­li­cher und sen­ti­men­ta­ler. Die Kin­der sol­cher höchst mo­ra­li­schen Ver­schwen­der sind da­her leicht und, wie lei­der zu sa­gen ist, bes­ten­falls – an­ge­neh­me schwäch­li­che Tau­ge­nicht­se.

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Der Rich­ter und die Mil­de­rungs­grün­de. – "Man soll auch ge­gen den Teu­fel ho­nett sein und sei­ne Schul­den be­zah­len", sag­te ein al­ter Sol­dat, als man ihm die Ge­schich­te Faus­tens et­was ge­nau­er er­zählt hat­te, "Faust ge­hört in die Höl­le!" – "O ihr schreck­li­chen Män­ner!" rief sei­ne Gat­tin aus, "wie ist das nur mög­lich! Er hat ja nichts ge­tan, als kei­ne Tin­te im Tin­ten­faß ge­habt! Mit Blut schrei­ben ist frei­lich eine Sün­de, aber des­halb soll ein so schö­ner Mann doch nicht bren­nen?"

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Pro­blem der Pf­licht zur Wahr­heit. – Pf­licht ist ein zwin­gen­des, zur Tat drän­gen­des Ge­fühl, das wir gut nen­nen und für un­dis­ku­tier­bar hal­ten (- über Ur­sprung, Gren­ze und Be­rech­ti­gung des­sel­ben wol­len wir nicht re­den und nicht ge­re­det ha­ben). Der Den­ker hält aber al­les für ge­wor­den und al­les Ge­wor­de­ne für dis­ku­tier­bar, ist also der Mann ohne Pf­licht, – so­lan­ge er eben nur Den­ker ist. Als sol­cher wür­de er also auch die Pf­licht, die Wahr­heit zu se­hen und zu sa­gen, nicht an­er­ken­nen und dies Ge­fühl nicht füh­len, er fragt: wo­her kommt sie? wo­hin will sie? aber dies Fra­gen sel­ber wird von ihm als frag­wür­dig an­ge­se­hen. Hät­te dies aber nicht zur Fol­ge, daß die Ma­schi­ne des Den­kers nicht mehr recht ar­bei­tet, wenn er sich beim Akte des Er­ken­nens wirk­lich un­ver­pflich­tet füh­len könn­te? In­so­fern scheint hier zur Hei­zung das­sel­be Ele­ment nö­tig zu sein, das ver­mit­telst der Ma­schi­ne un­ter­sucht wer­den soll. – Die For­mel wür­de viel­leicht sein: an­ge­nom­men es gäbe eine Pf­licht, die Wahr­heit zu er­ken­nen, wie lau­tet die Wahr­heit dann in be­zug auf jede an­de­re Art von Pf­licht? – Aber ist ein hy­po­the­ti­sches Pf­licht­ge­fühl nicht ein Wi­der­sinn?

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Stu­fen der Moral. – Moral ist zu­nächst ein Mit­tel, die Ge­mein­de über­haupt zu er­hal­ten und den Un­ter­gang von ihr ab­zu­weh­ren; so­dann ist sie ein Mit­tel, die Ge­mein­de auf ei­ner ge­wis­sen Höhe und in ei­ner ge­wis­sen Güte zu er­hal­ten. Ihre Mo­ti­ve sind Furcht und Hoff­nung: und zwar um so der­be­re, mäch­ti­ge­re, grö­be­re, als der Hang zum Ver­kehr­ten, Ein­sei­ti­gen, Per­sön­li­chen noch sehr stark ist. Die ent­setz­lichs­ten Angst­mit­tel müs­sen hier Diens­te tun, so­lan­ge noch kei­ne mil­de­ren wir­ken wol­len und jene dop­pel­te Art der Er­hal­tung sich nicht an­ders er­rei­chen läßt (zu ih­ren al­ler­stärks­ten ge­hört die Er­fin­dung ei­nes Jen­seits mit ei­ner ewi­gen Höl­le). Wei­te­re Stu­fen der Moral und also Mit­tel zum be­zeich­ne­ten Zwe­cke sind die Be­feh­le ei­nes Got­tes (wie das mo­sa­i­sche Ge­setz); noch wei­te­re und hö­he­re die Be­feh­le ei­nes ab­so­lu­ten Pf­licht­be­griffs mit dem "du sollst", – al­les noch ziem­lich grob zu­ge­haue­ne, aber brei­te Stu­fen, weil die Men­schen auf die fei­ne­ren, schmä­le­ren ih­ren Fuß noch nicht zu set­zen wis­sen. Dann kommt eine Moral der Nei­gung, des Ge­schmacks, end­lich die der Ein­sicht – wel­che über alle il­lu­sio­nären Mo­ti­ve der Moral hin­aus ist, aber sich klar ge­macht hat, wie die Mensch­heit lan­ge Zei­ten hin­durch kei­ne an­de­ren ha­ben durf­te.

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Moral des Mit­lei­dens im Mun­de der Un­mä­ßi­gen. – Alle die, wel­che sich sel­ber nicht ge­nug in der Ge­walt ha­ben und die Mora­li­tät nicht als fort­wäh­ren­de im großen und kleins­ten ge­üb­te Selbst­be­herr­schung und Selb­st­über­win­dung ken­nen, wer­den un­will­kür­lich zu Ver­herr­li­chern der gu­ten, mit­lei­di­gen, wohl­wol­len­den Re­gun­gen, je­ner in­stink­ti­ven Mora­li­tät, wel­che kei­nen Kopf hat, son­dern nur aus Herz und hilf­rei­chen Hän­den zu be­ste­hen scheint. Ja es ist in ih­rem In­ter­es­se, eine Mora­li­tät der Ver­nunft zu ver­däch­ti­gen und jene an­de­re zur al­lei­ni­gen zu ma­chen.

Altersbeschränkung:
18+
Umfang:
5253 S. 6 Illustrationen
ISBN:
9783962815295
Rechteinhaber:
Bookwire
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