Jenseits von Geborgenheit

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Um Viertel nach Sechs waren einige Busse bereits ihren verschiedenen Zielen entgegen losgefahren, von den vierunddreißig Ausflüglern fehlte niemand mehr, und so gab ‚Opa’ die Erlaubnis zur Besetzung des Busses, was nach einigen unruhigen Minuten erfolgreich geschehen war, einesteils zufriedene, andernteils durch die Niederlage im Wettstreit um eine Fenster- oder Hinterbanksitzgelegenheit enttäuschte Gesichter zurücklassend. Der Lehrer hielt sich an den Vorzugsplatz beim Mikrophon, auf das er sich in der Not als Zügel verließ, mit dem er gegebenenfalls dem Gespann hinter sich eine bestimmte Verhaltensrichtung vorgeben konnte.

Die folgende Busfahrt wurde von den meisten nicht als besonders interessant empfunden, da der Weg abgesehen von der ohnehin jedem hinlänglich bekannten Landstraße zur Autobahn führte. Albert saß etwa in der Mitte der linken Sitzreihe und ließ sich willig die häuslichen mit Hilfe eines Chemiebaukastens durchgeführten Experimente seines Nachbarn erläutern, während er den Kontaktfilm der vorbeirutschenden Landschaft vor sich ablaufen sah - per Zeitlupe im direkten Verhältnis zur Entfernung: abgemähte oder ins Unkraut geschossene Hänge, darin auszumachen Löwenzahn, Hahnenfuß und Schafgarbe. Dann ein Szenenwechsel: in Wildwuchs geratenes Gestrüpp, Haselnuss, Schlehe und Holunder. Kultur hielt sich diskret im Hintergrund: Obstbaumwiesen, Felder, Dörfer.

Nach einer knappen Stunde lenkte der Bus am Karlsruher Dreieck nach Norden ein, und die von Laubwald bestandenen Ausläufer der Oberrheinebene flossen vorbei. Kurz nach Autobahnkilometer 590 konzentrierte sich an der Ausfahrt ‚Walldorf-Wiesloch’ die Aufmerksamkeit aller nach ‚Opas’ Hinweis „Links vor uns die bekannte Rennstrecke, der Hockenheimring!“ länger- oder auch nur kurzfristig. Die Fachleute wussten vom letzten Rennen zu erzählen, das für Motorräder verschiedener Klassen ausgeschrieben war. Die Anschauung hatte freilich angesichts des Waldes in der Phantasie zu erfolgen, sodass letztlich auch der Hälse reckenden rechten Hälfte inklusive Lil nichts entgangen war. Dafür sah man von der rollenden Tribüne herab drunten den Atavismus des Jäger- und Wild-Spieles sich austoben und jeden Teilnehmer daran sich in einer Doppelrolle gefallen.

Bei Kilometer 580 steuerte der Bus von der Autobahn weg und wurde schnell von den Straßenzeilen Heidelbergs aufgenommen. Die Klasse wurde bis knapp vor das Schloss empor gefahren, von wo man gliederdehnend die letzten Meter bis zur Aussichtsbalustrade schritt, um das Selbsterlebnis des souvenirverschlissenen Blickes auf das Stadtpanorama mitzunehmen. Der Tausendfüßler zog sich sodann durch die Relikte des einst gepriesenen Hortus Palatinus und stand hinter dem Torturm im Hof der von allzumenschlicher Geschichte wie von übermenschlicher Naturgewalt arg gebeutelten und dennoch beeindruckenden ehemaligen Residenz der Kurpfalz. Die jugendlichen Reaktionen reichten von der Bewunderung für die Fassade, das Große Fass, fürs Schankbier bis für das WC.

Nachdem sich alle alles angesehen, sich mit Beweismaterial eingedeckt und ihre Kommentare ausgetauscht und wieder kommentiert hatten, begab man sich auf den Abstieg durch die Stadt zum Fluss hinunter, wo die Klasse nach kurzer Wartezeit von einem Motorschiff aufgenommen wurde, das sie zum dreißig Minuten nahen Neckarsteinach bringen sollte. Auf dem luftig freien Deck stellte Albert Dornäcker seinen Stuhl so, dass Lil vor ihm zu sitzen kam, was sie mit einem über die Schulter geworfenen ironisch verlegenen Lachen quittierte. Man griff rundum zur Vespertüte und genoss kauend und trinkend die romantische Atmosphäre von achtern aus. Das Bedauern, nach wenigen Zwischenhalten an der Endstation angelangt zu sein, war echt - ganz abgesehen davon, dass nunmehr ein längerer, doch obligater Fußmarsch bevorstand, von dessen Ziel aus die Rückfahrt geplant war.

Zunächst ging es einen schmalen Pfad entlang, der unterhalb eines baum- und buschbestandenen Hanges nahe am Fluss verlief, sodass größtenteils Gänsemarschordnung eingehalten werden musste. Lil hatte sich weiter vorne eingereiht, ihre Freundin Tanja - wichtig Unwichtiges erzählend - dahinter. Jetzt ließ ‚Opa’ die Richtung wechseln, indem er vom Fluss wegdirigierte, da das Gelände demnächst unzugänglich werden sollte und man über eine kleine Landstraße wieder zum Wasser zurück käme, was sogar mit einer Abkürzung verbunden sei. Also schlug man sich mit Hallo hundert oder zweihundert Meter durch die Wildnis, und Albert ließ sich zurückfallen, um einem schnell erledigten Bedürfnis nachzugeben. Der Spur seiner Mitschüler folgend stieß er auf ein lichtes Dreieck junger Rotbuchen, zwischen die sich ein paar Blutbuchen verirrt hatten. Durch die in ein intimes Orange verwandelten Sonnenstrahlen wurde der Fleck zum Farbnegativ eines geschlossenen Raumes. Dornäcker blieb stehen und hörte die andern sich entfernend durchs Unterholz brechen. Er blinzelte nach den Lichtgnomen in den Wipfeln, umklammerte einen der glatten Stämme, berührte mit dem Mund dessen graue mattsilberne Rinde, schreckte auf und hastete den nur noch gedämpft hörbaren Wechselrufern nach, die er schließlich außer Atem gekommen einholte, als die Jungen und Mädchen soeben, auf den Asphalt geflüchtet, Hosen und Röcke auf deren zuvor erprobte Reißfestigkeit hin untersuchten.

Obgleich die Straße sichtlich schwach genutzt wurde, rezitierte der Lehrer pflichtgemäß die üblichen Warnungen und Verhaltensmaßregeln bei eventuell auftretendem Verkehr, was ihm das Missfallen der bis zum Überdruss Gefütterten eintrug. Die leere Straße wurde in ganzer Breite von der sich auflösenden, sich suchenden und wieder trennenden, pulsierend lebendigen Klasse besetzt. Der Ruf „Achtung, da vorne kommt ein Motorrad!“ teilte zäh die Menge. Eine unsichtbare Bugwelle drückt Albert nach links, Lil wurde zur anderen Seite hinüber gezogen. Sie sah kurz herüber. Das Motorrad kam näher, fuhr nicht sehr schnell. Albert Dornäcker erwiderte Lils Blick, das Motorrad war da und dennoch schaffte er es mit einem gewagten Sprung gerade noch.

Den Schmerz am linken Arm spürte er erst, als der Motorradfahrer Schlangenlinien fuhr und wie an Schnüren abgelassen ganz langsam zu Boden ging, mit der funkenschlagenden Maschine vier, fünf Meter dahinrutschte, sich zitternd erhob, seine Kleider abklopfte, aufsaß, probierte, zurückfuhr und in die starre und stumme Schar barsch hineinfragte: "Welcher Idiot von euch war das?"

Nach der riskanten Überquerung der Straße ging Albert Dornäcker zwischen einer Anlage aus Blumenbeeten unter Kastanien und dem ‚Neuen Schloss’, einer Barockarchitektur, weiter. Eine langgezogene Stadtparklandschaft, eingeschlossen vom Häusermeer, doch off limits für Fahrzeuge, nahm hier ihren Anfang.

Frauen schoben knirschend auf dem feingekiesten Weg ihre Kinderwagen an Dornäcker vorbei. Eine Linienmaschine sank im Landeanflug hinter die Gebäudefassaden herab. In weit größerer Höhe strich ein unsichtbarer Jet mit seinem Kondensstreifen lautlos den alten blauen Himmel aus, mit dem zu erwartenden Knall das zudringliche Punktum setzend.

Am Ende des Weges bildete eine Kunstgalerie und der Nordflügel des Schlosses den Durchgang zu einem von kleinen Springbrunnen aufgelockerten Rosengarten. Rund um den sich anschließenden, von einer markanten Fontäne besprühten See hatten sich Passanten auf umherstehenden Eisendrahtstühlen niedergelassen, um Tag und Umgebung zu genießen. Dornäcker folgte ihrem Vorbild und ließ seine Aufmerksamkeit vom Wasserspiel gefangen nehmen.

Er wurde kurz abgelenkt von zwei Jungen, die in unmittelbarer Nähe versuchten, ein funkgesteuertes Modellschiff zu starten, was offensichtlich Schwierigkeiten bereitete und sichtbare Ratlosigkeit bei den beiden hervorrief. Die Mittagshitze hatte Dornäcker gezwungen, das Jackett auszuziehen und über die Stuhllehne zu hängen. Die Beine ausgestreckt legte er nach vorne rutschend den Kopf nach hinten und gab dem Flimmern hinter halbgeschlossenen Augen freien Lauf. Sollte er der Lust einzuschlafen nachgeben? Einer seiner Biologielehrer früherer Tage hatte, so fiel ihm ein, seinen Schülern als Bonmot mitgegeben: Wer Schwierigkeiten beim Einschlafen hat, kann sich den Gang zur Apotheke sparen. Stattdessen möge er darüber nachdenken, warum das Sein so ist, wie es ist ... Und Dornäcker richtete sich für einen Moment auf, als etwas laut ins Wasser klatschte. Der nur einen halben Meter flache See bedeutete keine Gefahr für den Jungen, der hineingestürzt war, als er das abtreibende, noch ohne eigene Kraft fahrende Schiff zu fassen versuchte ...

Der Vergleich mit der Taufe in biblischen Zeiten schoss Dornäcker durch den Kopf, und er erinnerte sich an jenen freundlichen Märzmorgen, der mit seinem milden Sonnenschein die Vorgärten unterm tauenden Schnee narbig werden und die über fünfzig jungen, im Durchschnitt vierzehnjährigen Leute auf dem Kirchvorplatz die Frische trotz des leichten Sonntagsstaats ertragen ließ. Ohnehin wurden die Gedanken völlig von dem bevorstehenden Zeremoniell der Konfirmation gefangen genommen, als die Mädchen und Jungen ihre Eltern neben allerlei Anverwandten ins Dunkel des Kirchenportals entsandten. In vorderster Reihe des von einer großen und gespannten Gemeinde besetzten Gestühls warteten sie auf den paarweisen Einmarsch der Konfirmanden.

Manche häusliche Aufregung lag hinter allen, bis das richtige, mit Schwarz oder Farbe drapierte Kleid in Weiß, oder der blaue Anzug - möglichst noch für andere Anlässe eine ganze Weile halt- und brauchbar - gefunden war; bis alle Vorbereitungen zur Bewältigung der Anforderungen dieses besonderen Tages getroffen waren, seien es solche gastronomischer Art oder Platz-, Raum- und Unterbringungsprobleme oder der Sieg im Rennen um eine passende Lokalität, durch die manche Last mit finanziellen Opfern gelindert werden konnte. Die Nutzung einer so großartigen Gelegenheit zur persönlichen Imagepflege im Hinblick auf Öffentlichkeit und weitere Familie, wie sie der Anlass des Tages nun einmal darbot, durfte letztlich nicht außer Acht gelassen werden.

 

Auf diese Weise geriet der nahende Tag zunehmend zur Institution um seiner selbst willen, aus deren Mittelpunkt der Konfirmand ebenso zunehmend verdrängt wurde. Der obligate Hausbesuch des Herrn Pfarrer frischte zwar manch verschobenes Wertbewusstsein für kurz oder länger auf, doch erst als sich der Druck nach zeitigem Frühstück im Gefühl, das Menschenmögliche getan zu haben, löste und die Besucher empfangen und zugeordnet waren, man sich schließlich gemeinsam zur Kirche begab, erinnerten sich manche Eltern beim Zurücklassen ihrer Zöglinge auf dem Kirchplatz recht eigentlich derselben und ihrer vom besonderen Tag verliehenen besonderen Würde.

Die letzte Stunde des Konfirmandenunterrichts war so etwas wie eine einmalige Stell- und Hauptprobe gewesen, anlässlich der die Mädchen und Jungen sich in der leeren Kirche einfanden. „ ... und dass sich niemand bei der symbolischen Prüfung blamiert!“ Der Pfarrer meinte damit die paar Zeilen auswendig zu Lernendes: gemeinhin als ‚Mein Vers’ und ‚Dein Vers’ im ‚Was ist das?’-Umlauf. „Wir haben dieses Mal, wie es immer wieder vorkommt, unter uns einen jungen Menschen, dessen Taufe vorweggenommen werden muss ... kein Grund, zu lachen ... Konfirmation ist die bewusste Annahme des Taufgeschehens ... Ich brauche einen Jungen, der die silberne Taufschale hält ...das gehört sich doch, dass einer von euch ...!“ Doch keiner meldete sich und keiner sagte ja, als der Pfarrer sie einzeln fragte und bat. Und Lil schaute Albert an, als dieser gefragt wurde. Und Albert Dornäcker sah, dass Lil ihn anblickte. Und er sagte nicht nein. Und der Pfarrer war zufrieden.

Unter dem Klangschirm der Glocken und des Orgelspiels und unter Hunderten ausgerichteter Augenpaare bewegte sich der Zug der Konfirmanden - Mädchen voran, danach die Jungen - gemessenen Schritts, kaum wagend, seitwärts Notiz zu nehmen, durch das Mittelschiff (Albert schaute nach oben, hatte gelernt, dass die Wikinger ihre ersten Kirchen als umgestülpte Schiffe bauten), um sich vor dem Chor weisungsgerecht zu teilen und, der Gemeinde das Profil zeigend, nach Geschlechtern gegenüber sitzend auf vorbereitete Stuhlreihen niederzulassen. Der Stolz und die Wehmut in manchem Gedanken, mit dem sie aus dem Kollektiv der Zugehörigen und zufällig Anwesenden verfolgt wurden, war für keinen wahrnehmbar. Und manch feuchtgetrübte Ausschau eines oder einer eigentlich Unbeteiligten bewies die Erkenntnis, dass von der heutigen Lebensstation noch beneidenswert viele Wege zu älteren Lebensregionen führten.

Der Pfarrer - „Darum, wer diese meine Rede hört ... “ - ließ in seine Worte einfließen, was der Konfirmationszeremonie zuvorkam. Er gab Albert das Zeichen, der - exponiert, präsentiert, isoliert - nach vorn schritt, das noch leere Silbertablett mit der gefüllten neubarocken Kanne darin in die Hände gelegt bekam, sich daraufhin neben den knienden Täufling begab, die Hände des Geistlichen über jenem. Sodann griff die eine Hand zur Kanne, goss den Inhalt in die Schale und stellte das leere Gefäß in die Mitte des Wasserspiegels. Albert schloss die Augen, um den sich aufschaukelnden Wellengang in der Schale nicht durch den Versuch willentlicher Einflussnahme zu verstärken, wenn der Pfarrer mit den Fingerspitzen am äußersten Rand in das flache Becken fasste. Und als es kippte, schaute der Täufling nur für wenige Sekunden mit vor Schreck weit geöffneten Augen nach oben.

Das Schiff war an Land gebracht worden, wo eine genaue Untersuchung ihren Anfang nahm. Die nassen Kleider würde die Sonne wieder trocknen. Nachdem Dornäcker vor den sengenden Mittagsstrahlen unter eine Kastanie gewichen war, rückte er seinen Stuhl so nahe ans Wasser, dass seine Füße an der Kante des Mauerrings auflagen, der den kleinen See umgab. Den Blick im Laubgewirr über sich verfangen, sah er durch das Blättermobile hindurch im Hintergrund den Sturz im freien Fall, die simulierte Schwerelosigkeit der Fontäne, deren Krone breit zur Gischt explodierte und entkräftet in sich zurück schwebte, den zaghaften Wellenlauf verursachend, der alle Spiegelungen ins Unwirkliche verzerrte.

Auf einem der verlassenen Stühle neben Dornäcker war eine gelesene, dem ursprünglichen Besitzer langweilig gewordene Sportzeitung zurückgeblieben. Mit den Fingern soweit zurechtgezogen, dass er die letzten Ergebnisse der Fußball-Bundesliga lesen konnte, musste er an sportliche Dramen denken, die sich in der kleinen Welt der Straßen- oder Schülermannschaften abspielen, und die keine Zeile in irgendeinem offiziellen Blatt wert waren …

„Wenn es nur morgen nicht regnet!“ hatte sein Klassenkamerad zu Dornäcker gesagt, als dieser ihn fragte, ob er mit dem Fahrrad zum Stadion rausfahren würde. Eine gemeinsame Planung zweier Klassen von Sechzehn- und Siebzehnjährigen lässt sich vom Wetter nicht ohne weiteres über den Haufen werfen. Das halbjährliche Fußballspiel zwischen den Parallelklassen hatte Tradition und wurde im Herbst sowie im Frühsommer unter allgemeiner Anteilnahme von männlichen Nichtfußballern, Mädchen und Klassenlehrern ausgetragen, allerlei Werturteile nach sich ziehend, worunter selbstredend die Gesamtheit der Klasse zu leiden hatte, oder aber wovon sie sich zumindest ein halbes Jahr lang das Recht ableitete, den imaginären Ruhmeslorbeer zur Schau tragen zu dürfen.

Das vage Bewusstsein, dass die gute Sportnote oder die Begabung für Leichtathletik keine Gewähr für die Fähigkeit waren, ansprechenden Fußball zu spielen, hatte sich nur sporadisch bei manchen Begeisterten durchgesetzt. So kam Albert Dornäcker dank seiner Schnelligkeit beim Sprint zu der Ehre, als Reservist nominiert zu werden, obwohl er im Hinblick auf Körperbau und Robustheit nicht das Idealbild eines Kickers darstellen konnte. Doch in dieser Beziehung war er nicht der Einzige. Freilich bestand eine deutliche Leistungslücke zwischen den wenigen, die bereits seit Jahren, vielleicht von früher Jugend an im Verein spielten und jenen Balltretern aus Gelegenheit oder aus purem Spaß an der Sache.

Dies kam auch im fachgerechten Besitztum zum Ausdruck, da die Laien in zweckentfremdeten Jerseys - um die Einheit der Mannschaftsfarbe zu gewährleisten - und, schlimmer noch, in Turnschuhen spielen mussten, weil sich die Anschaffung teurer Stollenschuhe nur für diesen Anlass nicht lohnte - abgesehen davon, dass der ballgerechte Bewegungsablauf von Fuß, Bein und Körper in und mit jenen geübt sein wollte. Das Turnschuhhandikap bezog sich somit vor allem auf Rutsch- beziehungsweise Standfestigkeit, die optimale Nutzung der Schusskraft sowie die Verletzungsgefahr bei einem Schlag auf den Fuß. Derartige Überlegungen standen jedoch nicht im Vordergrund der Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Ereignis.

Nachdem die von mehreren Schülern, von den Lehrern nicht unbemerkt, unaufmerksam verbrachten Unterrichtsstunden des Vormittags im Schlussgong ihr erhofftes Ende fanden, eilten alle Aktiven zu einem sportbewusst mäßigen, doch kräftigen Mittagessen, das bereits vorbestellt war, - mit einem „Bis nachher ...! Sei pünktlich! Ich hole dich ab!“ - nach Hause. Verständlich besorgte Mütter verwiesen auf den trüben Tag, der jeden Augenblick Regen erwarten oder befürchten ließ. „Schwitzen, nasse Kleider und ein kalter Luftzug ... Nimm etwas Warmes zum Überziehen mit!“

Zwei Jungen waren beauftragt worden, rote Würste, Brötchen und Getränke zu besorgen, um den Zuschauern – das waren die beiden Klassen plus eventuelle Geschwister oder Freunde je minus elf Schüler - ihre Aufgabe zu erleichtern und um insbesondere einen würdigen Abschluss des Klassenduells zu feiern, dessen Beginn auf fünfzehn Uhr angesetzt war.

Seit einer halben Stunde trafen einzeln, zu zweit oder in Gruppen die Teilnehmer ein. Der Schiedsrichter war von einer gemeinsamen Kommission ausgewählt worden und rief nun diejenigen auf, die sich mit Recht im gelegentlichen Glanz eines solchen Tages sonnen durften. Die Seitenwahl erfolgte und die Mannschaften verteilten sich auf jeweils ihrer Rasenhälfte. Ein erster Blick zum verhangenen Himmel, ein zweiter in die Runde der hüpfenden, kniebeugenden, gliederdehnenden, erwartungsfrohen rot- und blaugefärbten Spieler, ein weiterer Blick auf die Stoppuhr, und der Pfiff zum Anstoß ertönte.

Das Geschehen auf dem Platz provozierte die gleichen Emotionen im Rund wie bei ungleich größeren Sportereignissen: Das Wechselgeschrei der am Geländer Klebenden, die Flasche vor sich im Gras. Drinnen die Rufe: „Vor! Links hinaus! Hierher! ... “ Dumpfe Schläge vom ledernen, luftgefüllten prallen Ball als Gruß von Mann zu Mann. „Verdammt, warum pfeift er nicht?“ Der zugleich empfundene Schmerz blieb tapfer unterdrückt.

Draußen stand Albert, der Reservist. Gequetschte Popmusik fünf Leute weiter ersetzte nicht die Beruhigung durch Kaugummikauen. Lil versah - mit ein paar Pflasterstreifen, Salben und Wundbinden in Wartestellung - die Aufgabe einer Sanitäterin. Unmut der roten Partei machte sich lautstark Luft, als eine ihrer Stützen in der Verteidigung keine Anstalten machte, nach einem Zusammenprall sogleich wieder aufzustehen. Der Schiedsrichter versuchte eine neutrale Beschwichtigung, indem er auf die Möglichkeit hinwies, dass allzu riskanter Einsatz durch den Verletzten selbst die Ursache sein konnte. Beide Arme um zwei fremde Hälse geschlungen wurde der junge Mann vom Feld geschleppt, worauf sich Lil und Gehilfinnen einer in der Tat nicht geringfügigen und zudem stark blutenden Blessur am rechten Knie mit mutiger Scheu annehmen durften.

Dornäcker hörte rufen: „Albert, rein mit dir, schnell!“ und so entledigte er sich der Überhose und der Freizeitjacke, die Turnschuhe hatte er schon an den Füßen, der Pfiff wartete bereits nicht mehr. Ein Zuruf des Torhüters erreichte ihn von hinten: „Geh nach links und pass auf die Sieben auf!“ Der momentane Spielverlauf meinte es gut mit Dornäcker und ließ ihm Zeit, die neue Perspektive des Geschehens zu verarbeiten. Die Blauen standen unter Druck, der von der Empörung über den Vorfall geschürt wurde, an dem sich die auf Fairness bedachten Gemüter erhitzt hatten.

Leere Flaschen säumten inzwischen den Spielfeldrand. Die Mädchen zogen ihre mitgebrachten Pullis an, und gaben sich der Illusion hin, sich damit vor dem einsetzenden Nieselregen zu schützen. Die Halbzeitpause des bislang torlosen Spiels wurde nur kurz gehalten und zu einem schnellen Schluck sowie zum anschließenden Seitenwechsel genutzt. Trotz des Verlangens des einen oder andern, wieder zu Atem zu kommen, war man sich einig, das Spiel ohne Verzögerung seinem Ende und damit seiner Entscheidung entgegenzuführen. Aufmunterungen entsprangen dem Wunsch, dass in der folgenden Dreiviertelstunde noch viel des jeweils Wünschenswerten passieren konnte, möge und werde.

Zuschauer und unmittelbar am Geschehen Beteiligte verfolgten den oft rätselhaft eigensinnigen Weg des Balles, der angestoßen, weitergeleitet, zugespielt, hochgeschlagen über Köpfe hinweg den Empfänger suchte. Aus aufgerissenen Augen starrten ihm Blicke nach, Muskeln spannten sich, das Gesicht über die Schulter gedreht wurde mit dem Schuh eine Narbe ins Gras gezogen, ausgestreckte Arme halfen dem Willen nach, die Hand ins Hemd des Gegners eingekrallt, ein Slalom folgte um und über Beine, das Geschrei von draußen drang nur somnambul ins Ohr, die Flanke trug den freigelassenen Ball vors Tor, ein Stürmer wagte einen Schuss per Spann mit aller Kraft, der Torwartkörper streckte sich nicht lang genug, jedoch durch aufgespritzten Schlamm beobachtet ging der Ball am Netz vorbei.

Der Torwart raffte seine Mütze auf, trat den Abstoß möglichst weit, wo er herab kam, kreuzten Wege sich, sortierten Selbstbewusstsein und Enttäuschung, Beine fingen an zu schmerzen, Graswurzeln wurden aus dem Mund gewischt, der Ball zog seine unsichtbaren Netze, das Können einer Mannschaft wob sich deren Muster, die Grätsche des Verteidigers war der Anlass einer neuen Masche, man bot dem Ball die Stirn, auch wenn er eine Waffe oder Vorwand, Geliebte oder Medizin, ein Scheusal und getretener Teufel war, eingeklemmt in die geschundene Verschnürung. Ein Bild streifte Dornäcker im Spurt synchronen Paarlaufs: Lil stützte den Knieverletzten, der seinen Arm um ihren Hals gelegt hatte.

Freistoß, spanisch ‚Tiro libre‘, schoss Albert durch den Kopf. „Pass auf!“ schlug ihm das Wort des Torwarts von hinten an das Ohr. Seitwärts wurden Brote ausgepackt. Noch vier Minuten vor Schluss erwartete Dornäcker einen scharf geschossenen Ball. Den rechten Fuß schon hochgezogen über Kopfhöhe verlor der linke seinen Halt, der Tormann rief ihm zu, den Ball berechenbar für ihn nicht aufzuhalten, doch Dornäcker spürte ihn bereits ans Bein schlagen, schaute fallend nach hinten, sank ein und erlebte im entsetzten Chor der andern sich als Märtyrer. Der letzte Mann versuchte ohne Glück, dem abgeprallt verfälschten Ball den Körper nachzujagen. Er lag im Schlamm, den Blick zuerst hineingebohrt ins ausgebeulte Tornetz, dann im Rund der Jubelnden und Enttäuschten die klagende Gestalt Alberts suchend.

 

Selbst in der Erinnerung hätte Dornäcker viel darum gegeben, lieber den Ruf gehört zu haben: „Das ging gerade noch mal gut, um ein Haar wär ich nicht mehr rangekommen!“ Albert Dornäcker sah aufmerksam durch die Sonnenbrille blinzend den von Spaziergängern farbig belebten Weg entlang: Die Menschen im Seekarussell, die Einzelnen, die Paare, die Männer, die Frauen, die Alten, die Jungen, die Mütter und die Kinder, die Schönen, die Hässlichen, die Dicken, die Schlanken, die Mutigen, die Gleichgültigen, die Ängstlichen, alle im Seekarussell des kleinen Kosmos, in dessen subjektivem Zentrum Albert Dornäcker darüber nachdachte, ob das Sein der andern mit dem eigenen identisch ist und dieses damit anders wäre, wenn ein anderes erlischt.

Er erhob sich und ging weiter, den mit dem Dunst der Fontäne herübergewehten Geruch abgestandenen Wassers in der Nase. In der Ferne war ein Martinshorn zu hören, das sich eine unsichtbare Bahn entlang zurückbleibender Vermutungen und voreiliger Ahnungen brach. Dornäcker konnte nicht unterscheiden, ob Polizei, Arzt oder die Feuerwehr unterwegs war und erinnerte sich an Meldungen der letzten Tage, wonach mehrere Brände durch Hitzestaus ausgebrochen waren …

Erledigt. Er hatte das letzte Wort von sich geschrieben, das Heft geschlossen und weggesteckt. Kurz darauf ging er zu Türe, von der Mutter abgefangen: „Hausaufgaben fertig? Lass dich ansehen ... na ja ... Hier, vergiss das nicht, ich habe es extra schön verpackt. Und benimm dich anständig vor den Mädchen!“ Überflüssige Worte abstreifend und um den ordnend fingernden Händen zu entgehen, verließ Albert Dornäcker die Wohnung und das Haus, die Geschenke lässig unter den Arm geklemmt. Unten drehte er sich auf dem Gehweg noch einmal um und rief zu der kopfschüttelnden Frau hinauf: „Sei bitte so gut - ich glaube, ich hab das Radio nicht ausgeschaltet!“ Worauf sie kurz darauf - „Wie kann man nur so arbeiten?“ - mit einem Tastendruck die Stunde der klassischen Musik beendete, ans Fenster ging und sah, wie ihr Sohn Albert hinter dem dichten Laubgeäst einer Platane verschwand.

Einige hundert Meter weiter verharrte er vor dem Eingang seines Zieles, eines Häuschens mit großem Garten, schaute an sich hinunter, brachte das kleine Paket in Positur und läutete. Von innen hörte er eilige Schritte. Die Tür wich vor seiner momentanen Unsicherheit, und Lil streckte ihm die Arme entgegen, ließ sie fallen, gab ihm die Hand, während er selbstvergessen die Verwandlung des Schulmädchens Lil wahrnahm, das vor zweieinhalb Stunden denselben Heimweg mit ihm gehabt hatte und jetzt leicht geschminkt und mit raffiniert verändert gesteckter Frisur vor ihm stand.

„Hallo, hast dich also doch hergetraut. Tanja ist schon da. Also sind wir vollzählig.“

„Wie? … Zuerst mal herzlichen Glückwunsch zum Dreizehnten und was so dazugehört. Das da ist für dich ...“

„Vielen Dank. Und eine gelbe Rose dazu? Albert, der Kavalier!“

„Du darfst gleich auspacken.“

„Mach ich. Aber komm doch ins Wohnzimmer!“

Dort fand er Tanja an einem Cola saugend - „Hallo Albert!“ - vor.

Lils Mutter kam aus der Küche: „Guten Tag, Junge. Du möchtest bei der Hitze sicher auch etwas trinken. Es ist nett, dass du gekommen bist. Nicht alle Jungs würden die Einladung zu einem Mädchengeburtstag annehmen. Aber Lil wollte nur ihre beste Freundin dabeihaben und dich ... “

„ ... als entfernten Nachbarn!“ begegnete Lil Tanjas gespanntem Blick, der für einen Moment das Saugen ausschloss. Lil ließ das Papier des Geschenkpaketchens knistern und enthüllte eine Schallplatte mit Rockmusik sowie ein Puzzle aus fünfhundert Teilen mit dem Motiv der Hochzeitsreise des Moritz von Schwind.

„Damit du beim Puzzeln noch oft daran denkst, dass du mich eingeladen hast!“

„In einsamen Stunden“ konnte sich Tanja nicht verkneifen anzumerken.

„Macht euch nur lustig über mich.“

Die Mutter zog Lil an sich heran: „Spiel doch nachher dein neues Stück aus der Klavierstunde vor, Lil! Sie übt gerade einen Brillantwalzer von Chopin. Er wird Albert bestimmt gefallen. Aber jetzt kommt an den runden Tisch, ich hab euch etwas Erfrischendes zubereitet.“

Tanja folgte den andern grinsend, indes Albert betreten schweigend seine eigenen Füße suchte.

Alsbald boten Eisbecher ihr mit Hingabe aufgebautes Innenleben durch die Schaufenster der Sektkelche dekorativ den Blicken dar und sorgten für Ablenkung durch den Geschmackssinn. Spitz wurden die Sahnekronen abgeschöpft, gingen schnell über die Zungen, beim nächsten Löffel war eine halbe Erdbeere dabei, die ihren süßen Fruchtsaft hergab, sodass sich Wiesen-, Wald- und Feldsäure in der Mundhöhle umhertrieb. Die Neugier ließ in sicherer Erwartung den Anstich ins Vanille-Eis folgen, wobei es Überraschungsrufe gab.

„Nun ja,“ kam von draußen Antwort, „ihr seid doch keine kleinen Kinder mehr, es ist ein Schuss Curaçao-Likör darin.“ Unter der beeilten Zustimmung aller wurde der Sache auf den Grund gegangen, was sie zugleich ihrem Ende zuführte. Die Sensationen auf der Zunge hielten nicht lange an.

Albert ließ die alkoholgefärbte Kälte mit Stolz zergehen und tränkte die letzte Erdbeere darin, kostete den von Unterkühlung abgekürzten Nachgeschmack aus. „Das war super!“ Der Junge lehnte sich zurück, schob das Glas wenige Fingerbreit zur Tischmitte und sah den beiden Mädchen zu, deren verbliebene Genüsse im Tauen begriffen waren.

„Ich mag zerlaufenes Eis!“ begründete Lil ihre Zurückhaltung.

Tanja blinzelte zu Albert hinüber: „Du sitzt so traurig da. Möchtest du?“ und streckte ihm den kleinen Löffel hin: „Nimm schon, bevor es auf das schöne Tischtuch tropft!“

Der Junge schaute kurz auf Lil, die verwirrt beobachtete, er wurde rot, dann nahm sein Mund vom Mund des Mädchens, eine silberne Brücke dazwischen.

„Noch mal?“ Er nickte.

Lil ließ ihren zerdrückten Rest stehen und schob den Stuhl zurück. „Soll ich die neue Platte auflegen?“ Die beiden andern stimmten zu und folgten Lil durch den Flur zu ihrem Zimmer, setzten sich auf die Kante der Bettcouch, studierten die Plattenhülle, während Lil an den Schreibtisch gelehnt der Musik nachsann.

Nach dem zweiten Titel fragte Tanja. „Was hast du denn von deinen Eltern geschenkt bekommen - außer Süßigkeiten und einem Blumenstrauß?“

Lil griff zur Schranktür: „Etwas sehr Schickes. Das war schon lange mein Wunsch und ist eigentlich von meiner Mutter gekauft. Albert, du solltest kurz rausgehen, wir rufen dich!“

Dornäcker stand vor der Türe und konnte vom Getuschel der Mädchen nichts hören. Lil öffnete ihm die Türe: „Du darfst wieder ... “, worauf er sich eine Diskussion darüber anhören musste, ob Puppen noch altersgemäß seien, auch wenn es sich um die Lieblingspuppe handelte. Albert erinnerte sich, dass bei ihm zu Hause irgendwo in einer Schachtel ein abgegriffener Teddybär verstaubte, und er bot den Mädchen an, ihnen bei Gelegenheit eine Lichtorgel zu installieren.

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