Jenseits von Geborgenheit

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Jenseits von Geborgenheit
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Das Buch:

Dies ist die Geschichte eines Sonderlings, der unstet durch sein chaotisches Leben taumelt, nirgendwo Wurzeln schlägt und sich am Ende selbst verliert …

… zugleich eine Parabel über den (un)heimlichen Irr–Sinn in der menschlichen Gesellschaft

Der Autor:


Friedrich Peer Seitz,

1940 in Stuttgart geboren, lebt nach Abitur, Studium und beruflicher Tätigkeit im Bildungsbereich als Autor in Freudenstadt im Nordschwarzwald.

Impressum

Jenseits von Geborgenheit

Der unerhörte Fall des

Außenseiters Albert Adam Dornäcker

Friedrich Peer Seitz

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Friedrich Peer Seitz

ISBN 978-3-8442-5310-8

„… verflucht sei der Acker um deinetwillen; mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen …“

1. Mose 3. / 17, 18

VORWORT

Ich kenne Albert Adam Dornäcker seit seiner Jugend, da ich viele Jahre in seiner Nachbarschaft, genau gesagt in dem Mietshaus lebte, von dem aus seine Wohnung meinem Fenster gegenüber zu sehen war, wenn ich über den gepflasterten Innenhof hinwegblickte. Wir gingen lange Zeit auf die gleiche Schule, saßen nicht weit voneinander im selben Klassenraum und ich durfte mich anfangs zu einem größeren Freundeskreis zählen, dem auch er angehörte. Manches, was ich im Folgenden niederschreibe, habe ich daher unmittelbar beobachten können, anderes von ihm selbst oder aus seinen Briefen und Aufzeichnungen erfahren. Vieles jedoch bekam ich von seiner Mutter, den früheren Mitschülern, Freunden, Bekannten und anderen Nachbarn zu hören. Als Journalist einer angesehenen Zeitschrift war es mir zudem möglich, Einsicht in Polizei- und Krankenakten zu erhalten - natürlich unter dem Vorbehalt, dass die Namen bei deren Verwendung geändert wurden. Übereinstimmungen derselben mit solchen lebender oder verstorbener Personen wären also zufällig.

1

Als Chronist, der sich anhand des Recherchierten eine literarische, romanhafte Gestaltung verschiedener Lebensstationen und Lebensabschnitte des Protagonisten zur Aufgabe gemacht hat, beginne ich die Geschichte des 1960 geborenen Albert Adam Dornäcker in dessen fünfzehntem Lebensjahr und sehe mich zu jener Zeit selbst vor dem Gebäudeblock des alten Mietshauses stehen. Der Verputz bedürfte dringend einer Erneuerung und erweckt dadurch den Eindruck von Verwahrlosung, die man nicht vorurteilsfrei auch hinter den Mauern vermutet. Im tristen Vorhof spielt eine kleine Göre namens Lisa ganz mit sich allein, während sie zum Seilhüpfen selbstvergessen singt: „Die Hühner auf dem Hof Hof Hof, die waren ziemlich doof doof doof. Da kam ein großer Wau Wau Wau, und der war ziemlich schlau schlau schlau … “

Eine niedrige Mauer umfasst das Grundstück und hat vermutlich einstmals einen imposanten Zaun getragen. Die Sonne wärmt den Stein, auf den sich das Mädchen, inzwischen müde geworden, setzt und in eine leere Ferne blickt, vielleicht darauf wartet, dass noch andere Kinder kommen. Ich spreche sie im Vorübergehen an, setze mich zu ihr und sie erzählt mir in ihrer liebenswerten Kindersprache freimütig so mancherlei. Ihr Vater ist vor Jahren vom Zigarettenholen nicht mehr zurückgekehrt. Die große Schwester hat nie mit ihr darüber gesprochen. „Vergangenes soll vergangen bleiben!“ ist deren einzige Antwort gewesen. Früher hat Lisa viel von der Schwester gelernt, und wenn diese nicht auch weggegangen wäre, weil sie sich immer häufiger mit der Mutter zankte, hätte Lisa bestimmt noch viel mehr von ihr lernen können. Anfangs ist die Kleine, wenn sie geheult hat, von der Schwester getröstet worden: „Das geht vorüber!“ Aber gar nichts ging vorüber, nur schlimmer ist es geworden bis zu dem Tag, an dem auch jene auf einmal nicht mehr da war.

Das kleine Mädchen schaut an den Fenstern hoch. Gleich unten wohnt Kurt. Mit seinen langen Beinen schießt er beim Fußballspielen nie ein Tor. Aber sie hat schon oft beobachtet, dass er ganz zappelig wird, wenn seine Mannschaft gewinnt. Auch sein Vater ist eines Tages einfach verschwunden. Und seine Mutter hat eine geheimnisvolle Krankheit, das wissen alle. Sie liegt immer wieder in der Klinik, wenn auch nie sehr lange. Kurt ist oft traurig. Am traurigsten erlebte ihn Lisa vor Jahren, als Kurts Mutter am Faschingstag einen Clown mit roter Knollennase aus ihm machte und ihn dann mit Schlägen auf die Straße trieb, damit er in den Kindergarten ging, wohin er gar nicht wollte. Heute läuft er wie ein Bettler durch die Gegend. Die Leute im Haus geben ihm manchmal etwas zu essen. Er hat zerrissene Hemden an und geflickte Hosen an, und seine Haare stehen ihm auch zu Berge. Wenn seine Mutter einmal nichts mehr von ihm wissen will, wird er sicher von fremden Leuten abgeholt.

Über Lisa wohnt Elke. Sie ist auch meistens allein, weil ihre Eltern arbeiten gehen und den ganzen Tag nicht daheim sind. Sie ist klein und dünn und geht in die dritte Klasse. Zudem ist sie furchtbar schüchtern und ängstlich und hat überhaupt keine Freundinnen, weil niemand sie mag. Sie muss immer auf ihr kleines Brüderchen aufpassen, das noch in die Windeln macht. Am liebsten würde sie mit ihrer Oma spazieren gehen, sagt sie, aber die wohnt in einer ganz anderen Stadt. Elke streitet nie und hat Tiere sehr gern. Und sie möchte immer Cola haben. Ihr Vater trinkt lieber Rotwein, und das nicht wenig. Seine Frau kocht nur Nudeln, die wirft er dann zum Fenster hinaus, und hinterher hängen sie an den Fensterläden der tiefer liegenden Stockwerke. Einmal lag er abends betrunken auf der Straße vor dem Haus. In einer Tüte hatte er ein paar Kilo Fleisch bei sich. Die Leute halfen ihm hoch, aber er konnte die Beine nicht gerade halten. Immer wieder fiel er um. Die Kinder wollten seine Frau holen, aber er schrie sie an: „Nein, nein!“ Er sagte noch mehr, was sie nicht verstehen konnten. Die beiden hatten sicher wieder Krach gehabt wie jeden Tag. Und dann bekommt Elke Prügel von ihrem Vater. Dabei flucht er, dass es das ganze Haus hört. Ihre Mutter streichelt sie dann und schenkt ihr eine große Flasche Cola und dazu noch Schokolade. Elke ist es deshalb ganz recht, wenn sie geschlagen wird. Sie haben ein sehr teures Auto gekauft. Gleich in der ersten Nacht hat es jemand mit einem Nagel zerkratzt. Wer das gemacht hat, weiß bis heute niemand. Auf ihrem Auto haben sie auch im Sommer Ski drauf. Und wenn er wegfährt oder heimkommt, schlägt der Mann alle Autotüren ein paar Mal auf und zu.

Im Erdgeschoss wohnt der große Richard, der schon einen Bart über dem Mund hat und schnelle Autos und große Mädchen mag. Seine Haare sind gelb gefärbt und er riecht nach Parfüm. Manchmal ist er ganz komisch geschminkt, fast wie ein größeres Mädchen es tut. Abends geht er in die Disco. Seine Mutter ist bekannt geworden, weil sie in einer Lotterie eine Menge Geld gewonnen hatte. Seither ist sie dauernd verreist. Dass sie nie ihre Handtasche weglegt, wenn sie für kurze Zeit einmal heimkommt, ist allen bekannt. Es dauert ewig, bis endlich die Tür aufgeht, wenn man bei Richard klingelt. Sie haben viele Sicherheitsschlösser, sogar eine Alarmanlage und eine Falle hat sein Vater eingebaut. Er behauptet, er hätte einen Schatz zu bewachen. Aber die meisten glauben, er spinnt. Geht endlich die Türe auf, kommt gleich der Geruch von angebranntem Essen ins Treppenhaus. Meistens hat Richard eine Zigarette im Mund. Von Mode hält er nicht viel. Er zieht andauernd dasselbe an. Sein Hobby ist seine Stereoanlage, die man im ganzen Haus hört. Als er noch zur Schule ging, wollte er Techniker werden, aber das hat nicht geklappt. Er arbeitet jetzt wie sein Vater in der Fabrik am Fließband und hat Angst, dass man ihn eines Tages nicht mehr braucht. Am Wochenende fährt er mit seinem Auto durch die Gegend. Er sagt, das sei der einzige Platz, wo man nachdenken kann. Es ist schon lange her, da hat Lisas Schwester ihn verpetzt, er hätte ihr unter den Rock gegriffen. Aber Lisa weiß, dass es gar nicht stimmte. Ihre Mutter hat gedroht, ihn anzuzeigen, und war erst zufrieden, als er so sehr Haue bekam, dass man es in allen Wohnungen hören konnte. Dann ging Lisas Schwester zu ihm und brachte eine Riesenschachtel Pralinen mit. Er warf sie auf den Boden, und als Lisas Schwester dennoch nicht gehen wollte, begannen die beiden zu streiten. Am Ende war die Schachtel leer und nachher hat die Schwester zu Lisa nur gesagt, das sei der schönste Tag in ihrem Leben gewesen. Hätte sie die Pralinen lieber Lisa gegeben.

Noch weiter oben wohnt Uwe, der immer an den Fingernägeln nagt und sich alle drei Minuten am Kopf kratzt. Fortwährend rutscht ihm die Brille auf die Nase. Er ist ein Einzelkind und hat ein freches Mundwerk. Das Hallenbad ist sein Lieblingsort und Pommes sein Lieblingsessen. Oft spielt er mit einem Messer. Er hat schon einen großen und zwei kleine Hunde bekommen, die stundenlang bellen, aber sonst nichts Böses tun. Seine Eltern sind geschieden und er lebt hier bei seiner Mutter. Sogar tagsüber läuft sie mit Lockenwicklern und manchmal auch im Nachthemd herum. Lisas Mutter sagt, die treibt es mit jedem, und es kommen auch immer wieder fremde Männer zu ihr. Erst vor zwei Wochen hat einer an Lisas Wohnung geklingelt, und als sie zur Tür rannte, weil ihre Mutter, die aufgemacht hatte, um Hilfe rief, war deren Bluse zerrissen. Der Mann ist dann schnell die Treppe hoch, und Uwes Mutter musste Lisas Mutter am nächsten Tag sofort eine neue Bluse kaufen. Von Onkels und anderen Verwandten will Uwe nichts wissen, und wenn er Streit oder eine Wut hat, ist er wie ein wildes Tier. Lisa muss dann lachen, sie kann nichts dafür. Einmal hat sie ihm seine Spielsachen kaputt gemacht, auch schon die Luft am Fahrrad rausgelassen. Er hat sie aber nie geschlagen, weil sie ein Mädchen ist. Vielleicht mag er sie.

 

Dann ist da noch der alte Mann, der ganz oben unterm Dach wohnt. Er ist zu schwach, um ohne Stock zu gehen. Das Treppensteigen macht ihm große Mühe, aber die kleine Wohnung will sonst niemand, deshalb ist die Miete niedrig. Und er selbst möchte sie auch nicht mehr verlassen. Seine große Nase passt gar nicht in sein Gesicht. Die Augen liegen ganz weit im Kopf drin. Sein Bart und seine Haare sind schneeweiß. Seine Kleidung sieht aus, als ob sie schon lange nicht mehr sauber gemacht wurde. Am Sonntag ist er ohne Schuhe und in einem Mantel weggegangen, in dem noch der Kleiderbügel steckte. Aber er hat es überhaupt nicht bemerkt. Er lebt ganz allein. Immer zum Ende der Woche bekommt er Post. Aber alle wissen, dass er die Briefe selber schreibt. Seine drei Söhne sind allesamt ausgewandert, weit weg nach Australien oder sonst wohin. Außer der Krankenpflegerin kümmert sich niemand um ihn. Er redet kaum mit anderen Leuten, und wenn jemand mit ihm sprechen will, hat er gleich eine Ausrede. Gegen Abend macht er manchmal einen Spaziergang, und wenn er heimkommt, geht er sofort ins Bett. Man sieht nie Licht bei ihm.

Direkt unter ihr, erzählt Lisa, wohnt im ersten Stock ein stiller Junge, Albert Dornäcker, mit seiner Mutter, die von einem Hof vom Land hierher nach Stuttgart gezogen ist, nachdem ihr Mann bei einem Arbeitsunfall so schwer verletzt wurde, dass er eine Woche danach starb. Man weiß wenig von Mutter und Sohn, so still und zurückgezogen leben sie. Nur hört man sie zu ungewöhnlichen Zeiten kommen und gehen. Ich weiß – damals im Jahr 1975 – hierzu schon manches mehr, aber das weiß wiederum Lisa nicht …

2

Die Uhr der nahen Kirche schlug elf Mal, als die letzten Reisenden in den Interregio nach Nürnberg einstiegen, dessen Abfahrt mit 23.04 Uhr angeschrieben stand. Den ganzen Tag hatte es ununterbrochen geregnet, und auch jetzt noch klatschte es monoton auf das gläserne Dach der Bahnsteighallen. Schon begannen die Räder der Waggons zu rollen, der Zug gewann an Fahrt und fuhr schließlich in den Tunnel der schwarzen Nacht hinein. Die Lichter wanden sich durch den Schleier, bis nur noch zwei rote Schlusslaternen zu sehen waren, die sich allmählich in der Dunkelheit verloren. Selbst das immer lächelnde Mädchen auf dem Werbeplakat, das sich genüsslich ein Stück Schokolade in den rotgerahmten Mund schob, sah an diesem Tag alt und griesgrämig aus.

Auch die Rufe des Zeitungsjungen, der müde über den Bahnsteig ging, nachdem er die letzten und neuesten Nachrichten preisgegeben hatte, sich dabei lediglich der Schlagzeilen bedienend, verstummten nun und unbestimmbare Geräusche schwangen noch einige Sekunden im weiten Rechteck der riesigen Halle nach. Jeden Tag fuhren einige hundert Züge verschiedener Kategorie in diesen Bahnknotenpunkt ein und aus. Frühmorgens spuckten die Blechwagen in Reih und Glied ein Meer von Menschen aus, die alle zu den Aus- und Abgängen des Gebäudes drängten, ein unüberschaubares fleischgewordenes Pflichtbewusstsein, das sich abends willig wieder aufschlucken und abtransportieren ließ. Erst in der Nacht bot sich das Bild scheinbarer Stille. Dann gönnte der Fahrplan dem Jungen mit der heiseren Stimme eine Stunde lang Erholung. Auf einer Bank streckte er die Beine aus und wollte seine Ruhe haben.

Manchmal, in der übrigen Zeit, wenn gerade kein Passant oder Reisender nach Neuigkeiten verlangte, fand er Zeit zum Nachdenken. Jetzt war er zu müde. Eine Stunde gönnte ihm der Fahrplan, eine Stunde Entspannung für die gequälte Stimme. Er hasste diese Tätigkeit, an den gerade eingefahrenen Zügen entlang zu gehen, bei mehreren Minuten Aufenthalt sich auch in die Abteile zu begeben. Die Durchreisenden schätzten es, bedient zu werden, und manches zusätzliche Trinkgeld für seine Dienste sprang auf diese Weise heraus. Aber er hasste auch die Hände, aus denen er das Geld entgegen nehmen musste, harte, knochige, zarte, gepflegte Hände, er hasste das Aufklappen von Handtaschen, das Kramen in Hosentaschen und Geldbörsen. Das müde Lächeln auf den grauen Gesichtern, der neblig feuchte Schimmer in ihren Augen begleiteten seinen Tagesablauf ab der Mittagszeit und vom Morgen an während der Schulferien.

Seit zwei Jahren besuchte der Fünfzehnjährige eines der städtischen Gymnasien, und um etwas eigenes Geld zu verdienen war es sein Entschluss gewesen, dass seine Stimme das Aktuellste durch die offenen Fenster der Züge rief. Viele, eigentlich konnte er zufrieden sein, verlangten seine Zeitungen, überflogen Klatschnachrichten und die blutigsten Schlagzeilen mit gierigen Augen und fanden sich danach restlos aufgeklärt über die Begebenheiten der letzten vierundzwanzig Stunden und zugleich mit Genugtuung versichert, dass sie selbst wieder einmal davongekommen waren.

Der Junge wusste die Momente der Einsamkeit zu schätzen, diese merkwürdig tote Ruhe, die weich wie ein Luftballon einfach da war, aber - wie dieser von einer kleinen Nadel - durch irgendeine dumme Störung umso lauter zerplatzen konnte. Er dachte an seine Mutter, mit der er zusammen in den engen Räumen dieses Altbaus in der Stadt wohnte. Dennoch bekam er seine Mutter kaum zu Gesicht. Tagsüber bediente sie in einem Café, abends stand sie als Bardame hinter der Theke eines anderen, nicht besonders vornehmen Lokals. Genau genommen kannte er das Gesicht seiner Mutter überhaupt nicht mehr bei Tageslicht. Fünf Jahre seiner Kindheit hatte er auf dem Land bei den Großeltern verbracht, nachdem deren Sohn, sein Vater, umgekommen war. Als ihn dann seine Mutter in ihre neue Wohnung holen kam, durfte er sie nicht küssen, weil sie dies verwehrte. Er hatte sich damit getröstet: Sie weint noch und möchte nicht fröhlich sein. Aber seine Mutter wurde auch nie froh und lachte nie an den Tagen, an denen sie mit dem Bus zu den Großeltern fuhren.

In ihrem Arbeitsvertrag hatte die Mutter vereinbaren können, dass sie pünktlich um 22 Uhr abgelöst wurde, und so wusste der Junge, dass sie zu Hause war, wenn auch er heim kam. Auf seiner Bank dachte er daran, dass er nachher leise ihre Schlafzimmertüre öffnen würde wie jeden Abend, oder vielmehr jede Nacht, um ihrem gleichmäßigen Atem zu lauschen. Das war nicht die gespannte Ruhe des nächtlichen Bahnhofs, das war eine wohltuende, schlaffe Ruhe, in die man sich bedenkenlos fallen lassen konnte.

In der großen Halle wurde ihm das Warten lang. Aber er hatte gelernt, das quälende Schlafbedürfnis zu besiegen, und sei es, indem er sich körperlichen Schmerz zufügte. Das Rauschen auf dem Bahnhofsdach erschien ihm wie der Kassiber eines anderen unbekannten Wartenden irgendwo in der Ferne. Zwei Stunden vor Mitternacht fuhr dröhnend der für ihn letzte Zug, ein ICE, ein. Der Regen rann von den Wagendächern, wenige Türen öffneten sich. Aber das Auf- und Eintauchen in die Lichtkegel der Bahnsteigleuchten und wieder ins Dunkel dahinter regte eine ungestillte Phantasie an: In der Ferne funkelnde Punkte leuchteten im Vorüberfahren auf einer Straße kurz auf und verschwanden als geheimnisvolle Rätsel, die nur zu dieser Stunde einen Wachträumenden fesseln und neugierig machen konnten.

Der Junge hängte sich die gefüllte Tasche über und ging auf das erste Abteil zu. Der Zug hatte ungefähr eine Viertelstunde Aufenthalt, und trotz der vorgerückten Zeit waren genügend Fahrgäste noch nicht in ihren Schlafkojen und daher vielleicht bereit, eine letzte Tageslektüre zu sich zu nehmen. Als der Junge nach seinem Weg durch sämtliche Waggons wieder draußen auf dem Bahnsteig stand und sodann am Zug entlang zurück ging, dachte er einen Augenblick daran, durch das Ausrufen der Schlagzeilen ein paar Schläfer zu ärgern: Leere Autobahnen wegen Ölkrise / Vulkanausbruch auf Island ... Aber noch ehe er Atem geholt hatte, sah er seine Stimme ungehört am makellosen Lack der Wagen herab in die schmutzigen Steine zwischen den verrosteten Schienen fließen. So ließ er es sein. Nur ein Pfiff ertönte, und die Maschinen zogen an.

Sein Weg nach Hause führte durch das Vergnügungsviertel des Stadtzentrums, wo er nur darauf achten musste, dass er von keiner Streife aufgegriffen wurde. Gleich danach kam er ein Stück weit durch eine Geschäftsstraße, wo im fahlblauen Licht der Nachtbeleuchtung Schmuck, Kleidung, Teppiche oder Konfekt hinter den Schaufenstern dekoriert lagen. Immer noch waren die fetten Marzipanknaben zu sehen, die aus einem ebenfalls ganz aus Marzipan gefertigten Schubkarren mit widerwärtiger Verbeugung Schokolade anboten. Eine Straße weiter sang ein nicht mehr nüchterner, vielleicht liebeshungriger junger Mann irgendein Lied, das italienisch klang.

Zu Hause trank er langsam den heißen Tee. Seine Kleider hatte er über Stühle gehängt, damit sie bis zum Morgen wieder trocken waren. Er stellte die leere Tasse auf die Spüle und öffnete leise die Tür des Zimmers, in dem seine Mutter schlief. Er hörte auf ihren Atem. Wenn er am nächsten Morgen aufwachte, würde sie bereits wieder weg sein. Sie half vor Öffnung des Tagescafés bei dessen Reinigung. Sein Frühstück stand dann bereit, sodass auch er nach dem Abwaschen des wenigen Geschirrs weggehen konnte.

Noch hielt er die Türe ein wenig offen, und in dem spärlichen Schimmer fühlte er seine Hände feucht werden bei dem Gedanken, einfach das Licht anzuknipsen. Doch er ließ es sein, beugte sich im Dämmrigen über ihr Gesicht, das ihm seltsam jung erschien. Blondes Haar fiel über dessen linke Seite. Hörte er auch ihre meist heisere Stimme selten, kannte er doch diesen Atem, dieses gleichmäßige Ein- und Ausatmen. Er neigte den Kopf hinunter, stützte sich am Bettrahmen auf und nahm das Wissen um ihre weichen vollen Lippen mit in seinen Schlaf, in dem er zu allzu oft träumend auf dem Bahnsteig stand unter dem Spinnennetz der Oberleitungsdrähte, während die Sperlinge an einer stehenden Lokomotive die erschlagenen Insekten von der Frontnase pickten ...